Titel:
Abschiebungsverbot hinsichtlich Aserbaidschan aufgrund Erkrankung (Multiple Sklerose)
Normenketten:
GG Art. 16a
VwGO § 92
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3, § 4
Leitsatz:
Es ist davon auszugehen, das die notwendige Behandlung in Aserbaidschan tatsächlich, aber nicht finanziell zugänglich ist. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
aserbaidschanischer Staatsangehöriger, Multiple Sklerose mit schubförmigem Verlauf, tatsächliche Verfügbarkeit und finanzielle Zugänglichkeit von medizinischer Behandlung in Aserbaidschan (Medikament, Tysabri), Sicherung des Lebensunterhalts bei Erwerbsunfähigkeit, Teileinstellung nach Teilrücknahme der Klagen auf Asylanerkennung, Asyl, Aserbaidschan, Abschiebungsverbot, Erkrankung, Multiple Sklerose, Aufenthaltsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2020, 5648
Tenor
I. Das Klageverfahren wird eingestellt, soweit die Klage hinsichtlich einer Anerkennung als Asylberechtigter und auf Gewährung internationalen Schutzes zurückgenommen worden ist.
II. Unter Aufhebung von Ziffer 4 bis 6 ihres Bescheids vom 20. April 2017, soweit sie der folgenden Verpflichtung entgegenstehen, wird die Beklagte verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans festzustellen.
III. Der Kläger hat von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens drei Viertel zu tragen, die Beklagte ein Viertel.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der nach seinen Angaben am ... 1992 geborene Kläger ist aserbaidschanischer Staatsangehöriger aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Nach seinen Angaben verließ er seinen Wohnort in Aserbaidschan (Stadt, ...) am 5. Juni 2015, reiste über die Türkei, Griechenland und über die Balkanroute am 9. Juni 2015 in die Bundesrepublik ein und beantragte Asyl.
2
Bei seiner auf Aserbaidschanisch geführten Anhörung beim Bundesamt am 10. Oktober 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 32 ff.), er sei ausschließlich aus gesundheitlichen Gründen in die Bundesrepublik eingereist. Seine Mutter lebe zur Miete in, seine 22-jährige Schwester lebe in der Türkei. Außerdem lebten ein Onkel mütterlicherseits in Aserbaidschan sowie sein Vater, dessen Wohnort er jedoch nicht kenne. Zur Verwandtschaft mütterlicherseits habe er guten Kontakt; kein Kontakt bestehe hingegen zur Verwandtschaft väterlicherseits. Er habe die Mittelschule besucht und die Universität mit einem Bachelor im Banken- und Versicherungswesen abgeschlossen. Während des Studiums habe er fünf Jahre als Meister in einer Kühlschrankfabrik gearbeitet, sei jedoch gegen Ende des Studiums im Sommer 2014 erkrankt. Wegen der Erkrankung und weil er das erforderliche Schmiergeld nicht habe zahlen können, habe er nicht im Banken- und Versicherungswesen arbeiten können, sondern habe als Friseur angefangen. Wegen seiner Erkrankung sei er zunächst in den Iran gereist, da dort die Behandlung günstiger sei. Er sei jedoch mit den dortigen Ärzten nicht zurechtgekommen und deshalb vom Iran nach ... in Georgien zur Behandlung gegangen. In ... sei dann Multiple Sklerose diagnostiziert worden. Der Arzt habe gemeint, es sei eine teure Krankheit und er brauche staatliche Unterstützung. Daher sei er zurück nach Aserbaidschan gegangen und habe Bittbriefe u.a. an den Roten Halbmond und an den Präsidenten geschrieben, jedoch keine Antwort erhalten. Er sei daraufhin in die Türkei zur Behandlung gereist, dort sei die Behandlung jedoch ebenfalls teuer gewesen. Daraufhin sei er zurückgekehrt nach Aserbaidschan und habe sein Haus und seinen Pkw verkauft. In einem Jahr habe er insgesamt 45.000 EUR für seine Behandlung ausgegeben; alle Medikamente seien aus der Bundesrepublik oder aus den USA importiert worden. Er habe die Medikamente selbst über eine Apotheke bestellt und sei so ein Jahr lang in Aserbaidschan behandelt worden. Dann habe er kein Geld mehr gehabt. Als er wieder Krankheitsschübe bekommen habe und alle Vermögensgegenstände verkauft gewesen seien, hätten Freunde, Arbeitskollegen und sein Onkel die Behandlung bezahlt. Er sei deshalb wieder in einem Krankenhaus behandelt worden. Da alle Medikamente aus der Bundesrepublik gekommen seien, habe er beschlossen, in die Bundesrepublik einzureisen und sich dort behandeln zu lassen. Er werde hier so gut behandelt, dass sich sein Zustand von Tag zu Tag bessere und er wieder arbeitsfähig sei.
3
Der Kläger legte diverse Atteste vor, u.a.:
4
- Bescheinigung eines Krankenhauses in ...: Der Kläger sei von 2013 bis 2015 im Krankenhaus „...“ von einer Neuropathologin behandelt worden. Dabei seien die Medikamente Methylprednisolon, Methotrexat und Azathioprin verabreicht worden. Unter dieser Behandlung sei es gleichwohl zu Schmerzattacken gekommen. Es sei eine Behandlung mit Tysabri empfohlen worden, wobei es dieses Medikament in Aserbaidschan nicht gebe (VG-Akte Bl. 35 f.).
5
- Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 8.1.2016: gesicherte Multiple Sklerose vorherrschend schubförmiger Verlauf; Schübe der Erkrankung zwischen 2014 und Mitte 2015.
6
- Dr.med., Bezirkskliniken, Attest vom 1.4.2016: stationärer Aufenthalt des Klägers vom 27. März 2016 bis 1. April 2016 wegen akuten Schubes bei bekannter Multipler Sklerose vom primär schubförmigen Verlauf, spastisch-ataktisches Gangbild bei neuaufgetretener sensomotorischen Hemiparese links, Therapie: 1 g Prednisolon über fünf Tage.
7
- Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 8.4.2016: vorletzter Schub im Juni 2015, nun abermals Schub mit immer noch bestehender Gangstörung. Die seit 21.7.2015 durchgeführte Interferontherapie habe ganz offensichtlich nicht den gewünschten Effekt. Hochaktive Verlaufsform der Multiplen Sklerose, zwei Schübe innerhalb eines Jahres, darunter einer unter einer suffizienten prophylaktischen Therapie. Umstellung auf Tysabri (Natalizumab) sei notwendig.
8
- Prof. Dr. ... u.a., Klinikum, Attest vom 5.5.2016: stationärer Aufenthalt des Klägers vom 29. April 2016 bis 5. Mai 2016, aktuell Schub mit ataktischen Gangbild und sensomotorischer Hemisymptomatik links, Therapie: 1 g Methylprednisolon über drei Tage, Prednisolon Ausschleichschema.
9
- Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 4.10.2016: gegenwärtig erfolge regelmäßig intravenöse Gabe von Natalizumab (Tysabri) alle vier Wochen. Erfreulicherweise habe sich dadurch in den letzten Monaten kein weiteres Fortschreiten der Erkrankung eingestellt.
10
Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 20. April 2017 den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Abschiebung nach Aserbaidschan wurde angedroht (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder für die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor, da der Kläger keine konkrete Verfolgung vorgetragen habe. Er sei weder von Behörden bedroht worden noch habe es konkrete Übergriffe gegeben. Auch subsidiärer Schutz sei abzulehnen, da keine Anhaltspunkte erkennbar seien, dass dem Kläger bei einer Rückkehr ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG drohe. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Der Kläger sei bei einer Rückkehr auf eine Erwerbstätigkeit zu verweisen, da er bereits in seinem Herkunftsland gearbeitet habe und er hinreichend gesund sei, um einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zudem verfüge der Kläger über verwandtschaftliche Beziehungen. Die medizinische Grundversorgung sei in Aserbaidschan auf einfachem Niveau flächendeckend gewährleistet. In den letzten Jahren habe die Regierung erheblich in das Gesundheitswesen investiert. Dringende medizinische Hilfe werde in Notfällen gewährt. Mittellose Patienten würden minimal versorgt, dann aber in der Regel nach einigen Tagen „auf eigenen Wunsch“ entlassen, wenn sie die Behandlungskosten nicht aufbringen könnten. In diesem Fall erfolge die Behandlung ambulant oder durch die Familie. Alle einschlägigen auf dem europäischen Markt registrierten Medikamente seien in der Regel erhältlich. Bei Multipler Sklerose sei nicht von einem tödlichen Krankheitsverlauf auszugehen. Nach der Auskunftslage sei davon auszugehen, dass die Erkrankung zumindest in mehreren Krankenhäusern in Baku behandelbar sei. Medikamente wie Kortison oder Betaferon seien in Aserbaidschan zumindest als Substitute erhältlich. Den Attesten sei nicht zu entnehmen, dass sich der Gesundheitszustand bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan in absehbarer Zeit wesentlich oder gar lebensgefährlich verändern werde.
11
Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger am 25. April 2017 Klage erheben und beantragte nach konkludenter Teilrücknahme der Klage zuletzt:
12
1. Der Bescheid der Beklagten vom 20. April 2017 (Gz.: ...) wird in den Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.
13
2. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger vorliegen.
14
Der Kläger sei an Multipler Sklerose erkrankt. Der Kläger habe nach dem Verkauf seines Hauses und seines Pkws keine finanziellen Rücklagen mehr; auch seine Freunde, Bekannte und Verwandte seien nicht in der Lage, die immensen Kosten für eine medizinisch fachgerechte Behandlung des Klägers aufzubringen. Eine kostenlose medizinische Versorgung gebe es nur auf dem Papier. Das Medikament Tysabri stehe in Aserbaidschan nicht zur Verfügung.
15
Der Kläger legte folgendes weiteres Attest vor:
16
- Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 25.4.2017: Der Kläger befinde sich seit dem 21. Juli 2015 in Behandlung. Es bestehe eine Multiple Sklerose mit schubförmigem Verlauf, die durch klinische Untersuchungen und wiederholte Kernspintomographien gesichert sei. Zu Beginn der Therapie im Jahr 2015 und 2016 sei die Erkrankung außerordentlich aktiv gewesen. Daher sei eine Umstellung auf eine prophylaktische Medikation mit Tysabri erfolgt, das erstmals im Mai 2016 verabreicht worden sei. Unter dem Medikament sei es endlich zum Stillstand der Erkrankung gekommen, sodass der Kläger nun mit guten Fortschritten Deutsch lerne und eine Ausbildung als Altenpfleger beginnen wolle. Er befinde sich regelmäßig ein- bis zweimal pro Monat in fachärztlicher Behandlung. Bei Absetzen von Tysabri sei eine massive Verschlechterung mit einer rasch fortschreitenden Behinderung zu befürchten. Eine Weitergabe des Medikaments sei daher unbedingt notwendig.
17
- Dr. med., Facharzt für Neurologie, Befundbericht, eingereicht am 13.8.2018: Die Infusionstherapie mit Tysabri (Natalizumab) 300 mg erfolge alle vier Wochen. Bei einem Abbruch der Behandlung sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Wiederaufflackern der Grunderkrankung Multiple Sklerose zu erwarten. Die Symptome würden in der Regel nach vier bis zwölf Wochen wieder auftreten. Vor Beginn der Behandlung mit Tysabri habe der Kläger nachgewiesenermaßen häufige Schübe mit Gangstörungen und hoher Krankheitsaktivität gehabt. Ohne Therapie sei der Kläger nicht in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, zum jetzigen Zeitpunkt hingegen schon.
18
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und eine Abhilfe abgelehnt. Aus den vorgelegten Attesten ergebe sich, dass die Behandlung mit Kortison bzw. Betaferon gut angeschlagen habe. Weshalb nun nur noch eine Medikation mit Tysabri in Betracht komme und weshalb bei der Medikation mit anderen Medikamenten eine lebensbedrohliche Gefahr bestehe, lasse sich aus den vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen.
19
Der Kläger legte daraufhin folgendes Attest vor:
20
- Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 26.9.2018: Eine Behandlung mit Cortison und Betaferon sei nicht ausreichend und medizinisch nicht möglich. Es habe bereits im Jahr 2016 einen Therapieversuch mit Betaferon gegeben, bei dem es trotz ausreichender Dosierung zu einem schweren Krankheitsschub, der eine Krankenhausaufnahme erforderlich gemacht habe, gekommen sei. Auch die Kollegen des Krankenhauses hätten eine Änderung der Medikation dringend empfohlen. Im Jahr 2016 habe ein hohes Maß an Krankheitsaktivität nicht nur im klinischen Verlauf, sondern auch in der Kernspintomografie mit aktiven Entzündungsherden vorgelegen. Die Behandlung mit Azathioprin entspreche der Wirksamkeit von Betaferon; Methotrexat sei in Deutschland nicht zugelassen. Eine Behandlung mit diesen Wirkstoffen hätte eine ungenügende Kontrolle der Entzündungsaktivität zur Folge, infolgedessen es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Schüben der Grunderkrankung käme. Möglich seien eine Sehnerventzündung mit Erblindung eines oder beider Augen, das Auftreten einer Rückenmarkentzündung mit Gefühlsstörungen, Zunahme der Gangunsicherheit bis hin zu einer Querschnittlähmung, ein kognitiver Abbau und/oder eine Inkontinenz für Urin und Stuhlgang. Auf jeden Fall sei zu erwarten, dass die Erkrankung mit einem zeitlichen Abstand von wenigen Wochen wieder die Aktivität von 2016 erreiche.
21
Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
22
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 20. Juli 2018 der damaligen Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylG). Diese holte mit Beschluss vom 4. Oktober 2018 eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zu folgenden Fragen ein (Antworten des Auswärtigen Amts, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Baku, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f., eingefügt):
23
1. Der Kläger leidet an Multipler Sklerose mit schubförmigen Verlauf (Encephalomyelitis disseminata; ICD-10 G35.1G).
24
a) Ist Multiple Sklerose (Encephalomyelitis disseminata; ICD-10 G35.1) in Aserbaidschan behandelbar? Wenn ja, wie und wo?
Antwort: Die Krankheit des Klägers ist im republikanischen Krankenhaus namens Mir-Kasimov in Baku behandelbar. Die Leiterin der Kommissionsgruppe für Multiple Sklerose ist Frau Rana Shiraliyeva, die zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über Multiple Sklerose veröffentlicht hat. Behandelt wird nach den Standards der Weltgesundheitsorganisation. Seit 2018 erfolgt die Behandlung von Multiple Sklerose-Patienten durch diese Kommission in einem speziellen staatlichen Programm.
25
b) Sind in Aserbaidschan Verlaufskontrollen für die Behandlung von Multipler Sklerose (klinisch-neurologische Kontrollen, EEG, Laborkontrollen) möglich?
Antwort: Die genannten Untersuchungen sind in Aserbaidschan problemlos möglich.
26
c) Welche Kosten kommen hierfür auf den derzeit nicht erwerbstätigen Kläger monatlich bzw. jährlich zu (offizielle Zahlungen, inoffizielle Zahlungen)?
Antwort: Die Behandlung ist grundsätzlich kostenfrei, sofern die Behandlung mit den Medikamenten erfolgt, die im Krankenhaus vorhanden sind. Sofern Medikamente von außerhalb verwendet werden sollen/müssen, muss der Patient diese selbst bezahlen.
27
d) Welche Kosten werden hiervon durch öffentliche Kassen/Leistungen/Sozialhilfe in Aserbaidschan gedeckt, welche nicht?
Antwort: Bei Aufnahme in das unter a) genannte Programm erfolgen die Behandlung und alle erforderlichen Untersuchungen für den Patienten kostenfrei.
28
2. Der Kläger ist derzeit auf die Einnahme folgender Medikamente angewiesen:
29
- Tysabri (Wirkstoff: Natalizumab) 300mg alle vier Wochen
30
a) Ist dieses Medikament in Aserbaidschan tatsächlich und organisatorisch verfügbar? Falls nein, welche wirkungsgleichen Medikamente stehen dort zur Verfügung?
Antwort: Das Medikament Tsibari [wohl: Tysabri] 300 mg ist in Aserbaidschan verfügbar.
31
b) Welche Kosten kommen hierfür auf den derzeit nicht erwerbstätigen Kläger zu (offizielle Zahlungen, inoffizielle Zahlungen)?
Antwort: Nach offiziellen Quellen kostet das Medikament in Aserbaidschan 3989,32 AZN, also ca. 2022 EUR. Es ist jedoch möglich, das Medikament aus dem Iran oder der Türkei zu beschaffen, wo es deutlich günstiger ist als in Aserbaidschan. In der Türkei kostet das Präparat 8000 NTL (ca. 1228 EUR), aus dem Iran beschaffte Präparate sind in Aserbaidschan für 665 AZN (ca. 345 EUR) verfügbar.
32
c) Welche Kosten werden hiervon durch öffentliche Kassen/Leistungen/Sozialhilfe in Aserbaidschan gedeckt, welche nicht?
Antwort: Die Kosten werden von keinen staatlichen Stellen übernommen, sondern müssen vom Patienten selbst getragen werden.
33
d) Der Tariff (price) Council of Azerbaijan Republic hat eine Preisliste für 9850 medizinische Produkte veröffentlicht (www.tariff-council.gov.az/?/en/news/view/81/). Unter Nr. 7377 wird für das Medikament Tisabri (20mq/ml) ein Einzelhandelspreis von 3.989,32 AZN (entspricht ca. 2.022 EUR) angegeben.
34
Entsprechen die Preisangaben auf dieser Liste den tatsächlich anfallenden Kosten für Medikamente in Aserbaidschan? Handelt es sich dabei um eine staatlich festgesetzte Preisobergrenze? Sind Medikamente auf dieser Preisliste in Aserbaidschan tatsächlich verfügbar? Handelt es sich beim Tariff (price) Council of Azerbaijan Republic um eine staatliche Institution?
Antwort: Die unter dem genannten Link einsehbaren Preise entsprechend den tatsächlich anfallenden Kosten. Es handelt sich um eine Preisobergrenze. Die Medikamente sind regelmäßig, jedoch nicht durchgehend in Aserbaidschan verfügbar. Versorgungslücken können nicht ausgeschlossen werden. Das Tariff (Price) Council ist eine staatliche aserbaidschanische Einrichtung.
35
3. Der Kläger hat in Aserbaidschan die Universität mit einem Bachelor im Banken- und Versicherungsmanagement abgeschlossen und anschließend als Friseur gearbeitet. Während seines Studiums war er als Meister fünf Jahre in einer Kühlschrankfabrik erwerbstätig.
36
a) Besteht die reale Möglichkeit, dass die Lebensführung des Klägers auch einschließlich etwaiger selbst zu tragenden Behandlungskosten für die Multiple Sklerose durch eine Erwerbstätigkeit des Klägers gesichert wird?
Antwort: Über die konkrete Erwerbs- und Einkommens Prognose des Klägers kann seitens der Botschaft keinerlei Aussage getroffen werden.
37
b) Wird der Lebensunterhalt des Klägers ansonsten auch durch öffentliche Leistungen/Sozialhilfe gesichert? Welche Leistungen umfasst die Sozialhilfe bzw. das Rentensystem in Aserbaidschan für nicht erwerbsfähige chronische kranke Personen? Wie hoch sind die Sozialhilfesätze für diese Personen und wie hoch ist das Existenzminimum?
Antwort: Wenn der Kläger arbeitsunfähig ist, kann er eine entsprechende Rente erhalten. Die Rente beträgt ca. 80-90 EUR pro Monat, was dem offiziellen Existenzminimum in Aserbaidschan entspricht. Auch eine Behindertenrente mit einem deutlich geringeren Betrag könnte beantragt werden, sofern der Kläger weiterhin arbeitsfähig ist. Eine eventuelle monatliche Sozialhilfe beliefe sich auf 50-90 AZN (ca. 25-45 EUR).
Regelmäßige Kontrolluntersuchungen werden, wie oben bereits dargelegt, auf Staatskosten übernommen; alle darüber hinausgehenden Behandlungskosten müssen selbst getragen werden.
38
Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Klägerbevollmächtigte führte aus, der Kläger befindet sich ein- bis zwei Mal monatlich in ambulanter Behandlung und erhalte Tysabri 300 mg alle vier Wochen, wodurch die Erkrankung zum Stillstand gebracht worden sei. Der Kläger habe noch in Aserbaidschan versucht, mit der genannten Leiterin des Behandlungsprogramms einen Termin zu vereinbaren, was bereits 80 EUR gekostet hätte und er hätte die Medikamente selbst bezahlen müssen, sodass der Kläger davon abgesehen habe, dort eine Behandlung vornehmen zu lassen. Die Behandlung in Aserbaidschan, welche zu keiner Verbesserung sondern zu einer ständigen Verschlechterung seines Gesundheitszustands geführt habe, habe den Kläger und seine Familie etwa 110.000 EUR nach damaligem Wechselkurs gekostet. Hierzu habe man die Eigentumswohnung der Familie, in welcher die Mutter gelebt habe, für 70.470 EUR verkauft; hierzu lege er einen Kaufvertrag unter nicht verfahrensbeteiligten Personen vom 8. Februar 2013 über eine Wohnung vor. Weiter habe er sein Auto für etwa 2000 AZN verkaufen müssen und seine Mutter habe einen Kredit für die Behandlungskosten über etwa 6000 EUR aufgenommen, weitere fehlende Kosten seien durch Hilfe von Freunden aufgebracht worden, von denen die Familie jetzt keine Unterstützung mehr bekommen könne. Der Vater des Klägers sei unbekannten Aufenthalts; die Mutter des Klägers sei Lehrerin an einer Mittelschule und verdiene etwa 300 AZN, was ca. 150 EUR entspreche; 100 AZN zahle sie davon allein an Miete, Vermögen sei nicht vorhanden, hierzu werde ein Mietvertrag vorgelegt. Ein in einer Kühlschrankfabrik beschäftigter Onkel verdiene etwa 1000 AZN monatlich, sei aber verheiratet und komme für dessen eigene Familie auf. Die monatliche Gabe von Tysabri für rund 2.000 EUR könne sich der Kläger in Aserbaidschan nicht leisten, selbst die Kosten eines billigeren Imports seien nicht aufzubringen.
Die Beklagte hält an ihrer Auffassung fest; in Aserbaidschan sei eine staatliche Behandlung durch das Programm für Patienten an Multiple Sklerose vorhanden. Ab Aufnahme in das Programm erfolgten die Behandlungen und alle erforderlichen Untersuchungen kostenfrei, zudem sei der Kläger in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Kläger habe auch Aserbaidschan nicht verlassen, weil er dort nicht behandelt worden wäre, sondern weil er gehört habe, dass die Medikamente in Deutschland hergestellt würden und er hier eine bessere Behandlung erhoffe. Er sei vielmehr auf die Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat zu verweisen. Der vorgelegte Kaufvertrag vom 8. Februar 2013 über eine Wohnung stehe nicht im Zusammenhang mit den Behandlungskosten, denn die Erkrankung des Klägers sei nach seinen Angaben erst im Sommer 2014 aufgetreten.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
40
Die zulässige Klage ist in ihrem noch aufrecht erhaltenen Teil begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1, Satz 3 ff. AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO), so dass der hierzu ergangene Bescheid der Beklagten vom 20. April 2017 daher im tenorierten Umfang rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
41
1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu, da diese Norm im Fall - wie hier ausschließlich - geltend gemachter krankheitsbedingter Gefahren durch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gesperrt ist und die Sicherung des Existenzminimums des Klägers im vorliegenden Einzelfall dort indirekt berücksichtigt wird (vgl. unten).
42
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
43
Die Vorschrift des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK findet nach deutscher Rechtslage nicht auf die besonderen Ausnahmefälle krankheitsbedingter Gefahren (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 175 f.) Anwendung, da der Bundesgesetzgeber solche Fälle in § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG als lex specialis geregelt hat. Dies ist konventions-, unions- und bundesrechtlich nicht zu beanstanden, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 ff. Rn. 16 f.), dessen Feststellung zu einer identischen Schutzberechtigung für den Betroffenen führt (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dabei liegt die Ausgestaltung eines nationalen Abschiebungsverbots allein in der Gestaltungshoheit des nationalen Gesetzgebers, solange er auf der Rechtsfolgenseite keinen mit dem subsidiären Schutz konkurrierenden Schutzstatus einführt (EuGH, U.v. 18.12.2014 - C-542/13 - juris Rn. 42 f.).
44
2. Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz1, Satz 3 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers vor.
45
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung und die mit einer Erkrankung verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat verschlimmern, ist in der Regel als am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfende individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 15). Die Gesundheitsgefahr muss erheblich sein; die Verhältnisse im Abschiebezielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, erwarten lassen. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz3 ff. AufenthG nachgezeichnet (vgl. NdsOVG, B.v. 19.8.2016 - 8 ME 87.16 - juris Rn. 4). Nach dieser Bestimmung liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
46
Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, dass also eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, a.a.O.).
47
Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, U. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9).
48
b) Diese Anforderungen sind auch mit Art. 3 EMRK vereinbar: Krankheitsbedingte Gefahren können ausnahmsweise die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllen. Solche Ausnahmefälle können vorliegen, wenn eine schwerkranke Person durch die Aufenthaltsbeendigung auch ohne eine unmittelbare Gefahr für ihr Leben schon wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Aufnahmeland oder weil sie dazu keinen Zugang hat, tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wird, dass sich ihr Gesundheitszustand schwerwiegend, schnell und irreversibel verschlechtert mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 183). Solche Gesundheitsgefahren muss der Ausländer allerdings mit ernst zu nehmenden Gründen geltend machen und daraufhin der Konventionsstaat sie in einem angemessenen Verfahren sorgfältig prüfen, wobei die Behörden und Gerichte des Konventionsstaats die vorhersehbaren Folgen für den Betroffenen im Zielstaat, die dortige allgemeine Situation und seine besondere Lage berücksichtigen müssen, ggf. unter Heranziehung allgemeiner Quellen wie von Berichten der Weltgesundheitsorganisation oder angesehener Nichtregierungsorganisationen sowie ärztlicher Bescheinigungen über den Ausländer (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 186 f. m.w.N.). Dies mündet in eine Vergleichsbetrachtung der Folgen einer Abschiebung für den Betroffenen durch einen Vergleich seines Gesundheitszustands vor der Abschiebung mit dem, den er nach Abschiebung in das Bestimmungsland haben würde. Maßgeblich ist eine nur ausreichende Behandlung, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu verhindern, nicht, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat der medizinischen Versorgung im Konventionsstaat mindestens gleichwertig ist, denn Art. 3 EMRK garantiert kein Recht, im Zielstaat eine besondere Behandlung zu erhalten, welche der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188f . m.w.N.). Die erforderliche Prüfung umfasst auch, inwieweit der Ausländer tatsächlich Zugang zu der Behandlung und den Gesundheitseinrichtungen im Zielstaat hat, wobei die Kosten für Medikamente und Behandlung berücksichtigt werden müssen, ob ein soziales und familiäres Netz besteht und wie weit der Weg zur erforderlichen Behandlung ist (ebenda Rn. 190 m.w.N.). Wenn nach dieser Prüfung ernsthafte Zweifel bleiben, ist Voraussetzung für die Abschiebung, dass der abschiebende Staat individuelle und ausreichende Zusicherungen des Aufnahmestaats erhält, dass eine angemessene Behandlung verfügbar und für den Betroffenen zugänglich sein wird, so dass er nicht in eine Art. 3 EMRK widersprechende Lage gerät (ebenda Rn. 191).
49
c) Bei dem Kläger ist nach derzeitigem Verfahrensstand unter Berücksichtigung der vorgelegten (fach-)ärztlichen Atteste von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bei Abbruch der laufenden Behandlung auszugehen.
50
Gemäß dem letzten fachärztlichen Attest (Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 26.9.2018) besteht beim Kläger eine behandlungsbedürftige Erkrankung an Multipler Sklerose. Eine Behandlung mit Cortison und Betaferon sei nicht ausreichend und medizinisch nicht möglich und es habe bereits im Jahr 2016 einen Therapieversuch mit Betaferon gegeben, bei dem es trotz ausreichender Dosierung zu einem schweren Krankheitsschub, der eine Krankenhausaufnahme erforderlich gemacht habe, gekommen sei. Die Behandlung mit Azathioprin entspreche der Wirksamkeit von Betaferon; Methotrexat sei in Deutschland nicht zugelassen. Eine Behandlung mit diesen Wirkstoffen hätte eine ungenügende Kontrolle der Entzündungsaktivität zur Folge, infolgedessen es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Schüben der Grunderkrankung käme. Möglich seien eine Sehnerventzündung mit Erblindung eines oder beider Augen, das Auftreten einer Rückenmarkentzündung mit Gefühlsstörungen, Zunahme der Gangunsicherheit bis hin zu einer Querschnittlähmung, ein kognitiver Abbau und/oder eine Inkontinenz für Urin und Stuhlgang. Auf jeden Fall sei zu erwarten, dass die Erkrankung mit einem zeitlichen Abstand von wenigen Wochen wieder die Aktivität von 2016 erreiche.
Bei Absetzen von Tysabri sei eine massive Verschlechterung mit einer rasch fortschreitenden Behinderung zu befürchten. Eine Weitergabe des Medikaments sei daher unbedingt notwendig (so Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 25.4.2017). Der Kläger ist damit auf die Behandlung mit Tysabri angewiesen.
51
d) Im vorliegenden Einzelfall ist zur Überzeugung des Einzelrichters davon auszugehen, dass dem Kläger die hierfür notwendige Behandlung in Aserbaidschan tatsächlich, aber nicht finanziell zugänglich ist.
52
Nach der eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f.) sind sowohl die festgestellten Erkrankungen des Klägers in Aserbaidschan hinreichend behandelbar, als auch die Medikamente ggf. durch Importe erhältlich. Ebenfalls sind Verlaufskontrollen für die Behandlung von Multipler Sklerose (klinisch-neurologische Kontrollen, EEG, Laborkontrollen) problemlos möglich. Die Behandlung im Programm zur Behandlung Multipler Sklerose ist grundsätzlich kostenfrei, ebenso, sofern die Behandlung mit den Medikamenten erfolgt, die im Krankenhaus vorhanden sind, diese Medikamente. Sofern Medikamente von außerhalb verwendet werden sollen/müssen, muss der Patient diese selbst bezahlen.
53
Auch ist das Medikament Tysabri 300 mg, mit welchem der Kläger derzeit behandelt wird, in Aserbaidschan tatsächlich verfügbar. Nach offiziellen Quellen kostet das Medikament in Aserbaidschan 3989,32 AZN, also ca. 2022 EUR. Es ist jedoch möglich, das Medikament aus dem Iran oder der Türkei zu beschaffen, wo es deutlich günstiger ist als in Aserbaidschan. In der Türkei kostet das Präparat 8000 NTL (ca. 1228 EUR), aus dem Iran beschaffte Präparate sind in Aserbaidschan für 665 AZN (ca. 345 EUR) verfügbar. Die Kosten werden von keinen staatlichen Stellen übernommen, sondern müssen vom Patienten selbst getragen werden.
54
Damit sind die für die Behandlung erforderlichen Medikamente bzw. Ersatzmedikamente grundsätzlich verfügbar. Einen Anspruch, exakt dieselbe Behandlung wie in Deutschland zu erhalten, hat der Kläger nicht, so dass er auf verfügbare Ersatzmedikamente zu verweisen ist, soweit diese ausreichend sind (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188 f. m.w.N.).
Im vorliegenden Fall ist allerdings nach fachärztlicher Einschätzung davon auszugehen, dass nur Tysabri eine innerhalb vier Wochen und damit zeitnah eintretende erhebliche Verschlechterung bei Abbruch der Behandlung verhindert (so Dr. med., Facharzt für Neurologie, Attest vom 25.4.2017).
55
e) Im vorliegenden Einzelfall ist zur Überzeugung des Einzelrichters aber nicht davon auszugehen, dass dem Kläger die hierfür notwendige Behandlung in Aserbaidschan finanziell zugänglich ist.
56
Der Auskunft der Deutschen Botschaft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f.) ist zu entnehmen, dass die ärztliche Behandlung und Medikation im republikanischen Krankenhaus namens Mir-Kasimov in Baku behandelbar ist und zwar seit 2018 in einem speziellen staatlichen Programm und diese kostenlos sei sofern die Behandlung mit den Medikamenten erfolgt, die im Krankenhaus vorhanden sind. Sofern Medikamente von außerhalb verwendet werden sollen/müssen, muss der Patient diese selbst bezahlen. Nach dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 17) besteht in der Republik Aserbaidschan kein staatliches Krankenversicherungssystem; theoretisch gibt es eine alle notwendigen Behandlungen umfassende kostenlose medizinische Versorgung. Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt (was den Krankentransport und die Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus einschließt); mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann aber nach einigen Tagen „auf eigenen Wunsch“ entlassen, wenn sie die Behandlungskosten und „Zuzahlungen“ an die Ärzte und das Pflegepersonal nicht aufbringen können. In diesem Fall erfolgt dann die weitere Behandlung ambulant oder nach Kostenübernahme durch Dritte. Ein privater medizinischer Sektor floriert, erfordert aber eine Bezahlung aus eigenen Mitteln. Der hier eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 5.12.2019, VG-Akte Bl. 66 f.) ist ebenfalls zu entnehmen, dass eine kostenfreie Behandlung nur de jure vorhanden ist. Bei stationärer Behandlung werden die Medikamente von der Klinik zur Verfügung gestellt. De facto ist es jedoch so, dass die Patienten regelmäßig modernere Präparate auf eigene Kosten kaufen. Mithin müsste der Kläger bei ambulanter Versorgung seine Medikamente wie Tysabri zu den o.g. Preisen selbst erwerben. Aber die Kosten für Medikamente (günstigstenfalls von 665 AZN = ca. 345 EUR bei Import aus dem Iran) müssen vom Patienten vollumfänglich selbst bezahlt werden (ebenda).
57
Wenn der Kläger arbeitsunfähig ist, kann er nach der Auskunftslage zwar eine entsprechende Rente erhalten. Die Rente beträgt aber nur ca. 80-90 EUR pro Monat, was dem offiziellen Existenzminimum in Aserbaidschan entspricht. Auch eine Behindertenrente mit einem deutlich geringeren Betrag könnte beantragt werden, sofern der Kläger weiterhin arbeitsfähig ist. Eine eventuelle monatliche Sozialhilfe beliefe sich auf nur 50-90 AZN (ca. 25-45 EUR). Diese Beträge reichen jedoch bei weitem nicht aus, um neben dem alltäglichen Lebensunterhalt auch die erforderlichen Medikamente zu bezahlen.
58
Da der Kläger zwar wieder körperlich belastbar und unter Behandlung mit Tysabri arbeitsfähig ist (vgl. Dr. med., Facharzt für Neurologie, Befundbericht, eingereicht am 13.8.2018: ohne Therapie sei der Kläger nicht in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, zum jetzigen Zeitpunkt hingegen schon), ist davon auszugehen, dass er grundsätzlich auf eine Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan verwiesen werden kann, um seinen Lebensunterhalt einschließlich der Medikamentenkosten zu decken.
59
Gleichwohl hat der Kläger voraussichtlich selbst durch Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan nicht die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt einschließlich der Medikamentenkosten zu decken. Ausweislich seiner Anhörung habe er mangels Schmiergeldzahlung nicht im Banken- und Versicherungswesen arbeiten können, sondern nur als Friseur (BAMF-Akte Bl. 34). Wie er bereits zuvor angegeben hatte und in der mündlichen Verhandlung (Protokoll vom 4.3.2020) auf Fragen des Einzelrichters vertiefte, reichen seine nun auf 300 bis 350 AZN monatlich bezifferten Einkünfte aus der Arbeit in einer Kühlschrankfabrik oder aus einem Friseursalon bei weitem nicht aus, die Mindestbeträge für das voraussichtlich bei günstigstem Import aus dem Iran 665 AZN (in Monatsdosis) teure Tysabri sowie zusätzlich seinen Lebensunterhalt zu decken; auch Renten- oder Sozialhilfezahlungen von ca. 80-90 EUR bzw. 50-90 AZN pro Monat reichen hierfür bei weitem nicht aus. Andere Einnahmequellen des Klägers sind nicht ersichtlich.
Soweit die Beklagte darauf verweist, der vorgelegte Kaufvertrag vom 8. Februar 2013 über eine Wohnung stehe nicht im Zusammenhang mit den Behandlungskosten, denn die Erkrankung des Klägers sei nach seinen Angaben erst im Sommer 2014 aufgetreten; ist dies nach den angegebenen Daten richtig. Allerdings hat der Kläger seine Angabe, die Erkrankung sei im Jahr 2014 aufgetreten, dadurch korrigiert, dass er bereits mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 10. August 2018 eine Bescheinigung eines Krankenhauses in ... vorgelegt hat, der Kläger sei von „2013 bis 2015 im Krankenhaus ... von einer Neuropathologin […] mit der Diagnose Multiple Sklerose behandelt worden. Dabei seien die Medikamente Methylprednisolon, Methotrexat und Azathioprin verabreicht worden. Unter dieser Behandlung sei es gleichwohl zu Schmerzattacken gekommen. Es sei eine Behandlung mit Tysabri empfohlen worden, wobei es dieses Medikament in Aserbaidschan nicht gebe (VG-Akte Bl. 35 f.). Damit steht fest, dass der Kläger schon im Jahr 2013 und nicht erst im Jahr 2014 an Multipler Sklerose erkrankt ist und ein Zusammenhang des Verkaufs der Wohnung also dadurch nicht ausgeschlossen ist.
60
Daher ist dem Kläger die notwendige Behandlung seiner Multiplen Sklerose selbst bei Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan aus finanziellen Gründen nicht zugänglich. Zudem ist der Arbeitsmarkt in Aserbaidschan schwierig; die Deutsche Botschaft teilte hierzu mit (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019 S. 2), die wirtschaftliche Lage in Aserbaidschan erhole sich zwar langsam, sei jedoch immer noch schwierig. Personen ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Hilfe haben es in Aserbaidschan - wie auch in anderen Ländern mit vergleichbarer wirtschaftlicher Lage - schwer, eine Arbeit mit ausreichendem Einkommen zu finden; ausgeschlossen ist es jedoch nicht. Bei dieser Sachlage ist nicht davon auszugehen, dass der kranke und begrenzt belastbare Kläger in der Lage wäre, die erforderlichen Einkünfte zu erwirtschaften.
61
Daher ist im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Beklagte zu Gunsten des Klägers festzustellen.
62
6. Die Gewährung von Abschiebungsschutz hat zur Folge, dass der streitgegenständliche Bescheid im tenorierten Umfang aufzuheben und von der Beklagten ein Abschiebungsverbot auszusprechen ist. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben. Im Übrigen ist das Verfahren einzustellen.
63
4. Daher war der teilweise zurückgenommenen Klage im aufrecht erhaltenen Umfang mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, § 155, § 92 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.