Titel:
Anerkennung von Vordienstzeiten
Normenketten:
TVK § 15 Abs. 1
AEUV Art. 45
ArbGG § 2 Abs. 1 Nr. 3a
Schlagworte:
Ablauf der Ausschlußfrist, Anrechnungsvorschriften, berechtigtes Interesse, betrieblicher Geltungsbereich
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 14.10.2021 – 5 Sa 162/21
Fundstelle:
BeckRS 2020, 55978
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die von der Klägerin bei der B. P. GmbH (19.08.2010 - 18.08.2011) und dem Tiroler Symphonieorchester Innsbruck (08.01.2009 bis 05.07.2009) zurückgelegten Dienstzeiten zu ihrer Dienstzeit gemäß § 15 I des Tarifvertrages für die Musiker in Konzert- und Theaterorchester gehören.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Dienstzeit ab dem Datum der Festanstellung bei der Beklagten, dem 01.02.2012, neu zu berechnen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin 8/11, die Beklagte 3/11 zu tragen.
4. Der Streitwert wird festgesetzt auf 7.200,00 €.
5. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Anerkennung von Vordienstzeiten der Klägerin.
2
Die Klägerin ist im Orchester der Beklagten seit dem 01.02.2012 als 1. Violinistin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beidseitiger Tarifgebundenheit sowie individualvertraglicher Bezugnahme der Tarifvertrag für die Musiker in Konzert- und Theaterorchestern nebst ergänzenden und ändernden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung Anwendung (im Folgenden TVK).
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Der Tarifvertrag, der bei Dienstantritt der Klägerin galt (Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern), lautete auszugsweise wie folgt:
(1) Dieser Tarifvertrag gilt für die Musiker in Kulturorchestern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, deren Arbeitgeber ein Unternehmermitglied des Deutschen Bühnenvereins ist.“
(2) Kulturorchester sind Orchester, die regelmäßig Operndienst versehen oder Konzerte ernst zu wertender Musik spielen.
(1) Die Dienstzeit umfasst die bei Kulturorchestern (§ 1 Abs. 2) als Musiker zurückgelegten und die nach den Absätzen 2 und 3 anzurechnenden Zeiten.
Dieser Tarifvertrag wurde ab dem 01.10.2019 durch den Tarifvertrag für Konzert- und Theaterorchester ersetzt. Darin heißt es auszugsweise wie folgt:
Dieser Tarifvertrag gilt für die Musiker in Konzert- und Theaterorchestern innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, deren Arbeitgeber ein Unternehmermitglied des Deutschen Bühnenvereins ist.“
(1) Die Dienstzeit umfasst die bei Konzert- und Theaterorchestern als Musiker zurückgelegten und die nach den Absätzen 2 und 3 anzurechnenden Zeiten.
(2) Zeiten einer Tätigkeit als Musiker in anderen als Konzert- und Theaterorchestern sowie Zeiten einer sonstigen musikalischkünstlerischen oder einer musikpädagogischen Tätigkeit können auf die Dienstzeit angerechnet werden.
(4) Der Musiker hat die anrechnungsfähigen Zeiten innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Aufforderung durch den Arbeitgeber nachzuweisen. Zeiten, für die der Nachweis nicht fristgemäß erbracht wird, werden nicht angerechnet. Kann der Nachweis aus einem vom Musiker nicht zu vertretenden Grund innerhalb der Ausschlussfrist nicht erbracht werden, ist die Frist auf einen vor Ablauf der Ausschlussfrist zu stellenden Antrag angemessen zu verlängern.
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Vor ihrer Tätigkeit bei der Beklagten war die Klägerin mit befristeten Arbeitsverträgen bei der T. Landestheater und Orchester GmbH vom 08.01.2009 bis zum 05.07.2009 sowie bei der B. P. GmbH vom 19.08.2010 bis zum 18.08.2011 beschäftigt.
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Bei Dienstantritt machte die Klägerin ihre Dienstzeit bei der B. P. GmbH hinsichtlich der Anrechnung von Vordienstzeiten geltend. Mit Bescheid vom 26.03.2012 lehnte die Beklagte die Anrechnung der Dienstzeit der Klägerin bei der B. P. GmbH ab.
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Mit Schreiben vom 14.12.2019 beantragte die Klägerin erneut, ihre Dienstzeit bei der B. P. GmbH sowie darüber hinaus die Dienstzeit bei der Tiroler Landestheater und Orchester GmbH anzuerkennen.
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Die monatliche Vergütungsdifferenz, die die (Nicht-) Berücksichtigung der Vordienstzeiten der Klägerin ergibt, beläuft sich auf etwa 200,00 €.
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Die Klägerin ist der Auffassung, ihre bei den Orchestern in Bremen und in Tirol zurückgelegten Dienstzeiten seien als Vordienstzeiten auf ihre Dienstzeit bei der Beklagten gemäß § 15 Abs. 1 TVK anzurechnen. Der Begriff des Theater- und Konzertorchesters sei im Tarifvertrag nicht definiert. Aus dem Tarifvertrag ergebe es sich nicht, dass es sich bei Theater- und Konzertorchestern lediglich um inländische Orchester handle, deren Arbeitgeber ein Unternehmermitglied des Deutschen Bühnenvereins sei. Entscheidend sei allein der Status des Orchesters, in dem der Musiker seine Vordienstzeit erbracht habe.
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Die Nichtberücksichtigung ihrer Dienstzeiten bei der T. Landestheater und Orchester GmbH verstoße ferner gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV.
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Nach Klagerücknahme im Übrigen hat die Klägerin beantragt,
- 1.
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Es wird festgestellt, dass die von der Klägerin bei der B. P. GmbH (19.08.2010 bis 18.08.2011) und dem Tiroler Symphonieorchester Innsbruck (08.01.2009 bis 05.07.2009) zurückgelegten Dienstzeiten zu ihrer Dienstzeit gemäß § 15 Abs. 1 des Tarifvertrages für die Musiker in Konzert- und Theaterorchestern gehören.
- 2.
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Die Beklagte wird verurteilt, die entsprechenden Dienstzeiten ab dem Datum der Festanstellung bei den Beklagten, dem 01.02.2012, hilfsweise ab dem 14.06.2019, hilfsweise ab dem 01.10.2019, neu zu berechnen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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Die Beklagte trägt vor, als Orchester, die hinsichtlich der Erbringung von Vordienstzeiten zu berücksichtigen seien, seien lediglich solche Orchester geeignet, die ihren Sitz in der Bundesrepublik Deutschland hätten und deren Arbeitgeber Mitglied im Deutschen Bühnenverein seien. Dies treffe weder auf die B. P. GmbH noch die T. Landestheater und Orchester GmbH zu. Dienstzeiten im Sinne des § 15 Abs. 1 TVK könnten nur solche sein, die bei Orchestern zurückgelegt worden seien, die vom betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrags umfasst seien. Dies habe so schon das A. in seiner Entscheidung vom 18.05.2006 entschieden, wonach Beschäftigungsjahre im Sinne des § 51 Abs. 1 TVK (a.F.) nur solche sein könnten, die bei einem Orchester zurückgelegt worden seien, das dem betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrags unterfalle.
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Bei der Neufassung des Tarifvertrages hätten die Tarifvertragsparteien lediglich den belasteten Begriff des Kulturchesters durch den neutralen Begriff des Konzert- und Theaterorchesters ersetzen wollen, im Übrigen jedoch keine inhaltliche Änderung des Tarifvertrags beabsichtigt. Die seitens des Bundesarbeitsgerichts im Urteil vom 18.05.2006 (6 AZR 422/05) aufgestellten Grundsätze seien daher uneingeschränkt auf § 15 Abs. 1 TVK zu übertragen.
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Dass Vordienstzeiten nur bei Konzert- und Theaterorchestern im Sinne des § 1 TVK anzurechnen seien, sei auch sachgerecht. Denn insoweit führte die Anrechnung zur Sicherung des bisherigen sozialen Besitzstandes des Musikers. Die Tarifvertragsparteien hätten lediglich ihre Mitglieder auf Arbeitgeberseite zur sozialen Absicherung der bei ihnen tätigen Musiker verpflichten wollen, da der TVK flächendeckend insbesondere für die öffentlich geförderten Opern- und Konzertorchester Anwendung finde. Es gebe keinerlei Hinweis dafür, dass ohne Gegenseitigkeit, also ohne Ausgleich durch Träger ausländischer oder anderer deutscher Orchester auch außerhalb des Verbandes zurückgelegte Beschäftigungszeiten Berücksichtigung finden sollten.
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Auch aus Artikel 45 AEUV ergebe sich nichts anderes. Die Tarifvertragsparteien könnten mit Blick auf Art. 9 GG lediglich ihre Mitglieder auf Arbeitgeberseite zur sozialen Sicherung der bei ihnen tätigen Musiker durch einen entsprechenden Besitzstand durch Anrechnung der Vordienstzeiten verpflichten.
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Schließlich habe die Klägerin die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 TVK nicht eingehalten. Nach § 15 Abs. 4 TVK müsse der Musiker etwaige anrechnungsfähigen Zeiten innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Aufforderung durch den Arbeitgeber nachweisen.
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Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens wird verwiesen auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig.
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Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist eröffnet gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG.
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Die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Würzburg folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 12, 17 Abs. 1 ZPO.
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Auch das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben. Da die Dienstzeit eines Musikers, dessen Arbeitsverhältnis dem TVK unterliegt, Auswirkungen unter anderem auf die Höhe der Grundvergütung, vgl. § 18 TVK, oder die Zahlung der Jubiläumszuwendung gemäß § 35 TVK hat, hat die Klägerin ein berechtigtes Interesse daran, dass festgestellt wird, welche ihre in anderen Orchestern zurückgelegten Dienstzeiten als Dienstzeiten im Sinne des Tarifvertrags anzurechnen sind.
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Da bei der Beklagten zu erwarten ist, dass sie etwaige sich ergebende Zahlungen auch bereits auf Grund eines Feststellungsurteils leisten wird, ist hier ausnahmsweise nicht vom Vorrang der Leistungsklage auszugehen.
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Die Klage ist auch begründet. Die von der Klägerin bei der B. P. GmbH und dem T. Symphonieorchester zurückgelegten Dienstzeiten sind als Dienstzeiten im Sinne des § 15 Abs. 1 TVK anzuerkennen.
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1. Es ist nicht zweifelhaft, dass es sich bei beiden Orchestern um Konzertorchester handelt. Dies ist nach Aussage der Parteien in der mündlichen Verhandlung zwischen den Parteien auch nicht streitig.
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2. Nach § 15 Abs. 1 TVK umfasst die Dienstzeit die bei Konzert- und Theaterorchestern als Musiker zurückgelegten und die nach den Absätzen 2 und 3 anzurechnenden Zeiten. Dabei unterscheidet die tarifliche Regelung zwischen den Zeiten, die als Musiker bei Konzert- und Theaterorchestern zurückgelegt wurden, und den Zeiten als Musiker in anderen als Konzert- und Theaterorchestern sowie Zeiten einer sonstigen musikalischkünstlerischen oder einer musikpädagogischen Tätigkeit. Letztere können gemäß § 15 Abs. 2 TVK auf die Dienstzeit angerechnet werden.
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3. Die Auslegung des § 15 Abs. 1 TVK ergibt, dass die Dienstzeit bei Konzert- und Theaterorchestern nicht notwendigerweise bei Orchestern zurückgelegt werden muss, die ihren Sitz innerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben und deren Arbeitgeber ein Unternehmermitglied des Deutschen Bühnenvereins ist. Insoweit ist hinsichtlich der Berücksichtigung von Vordienstzeiten nach Ansicht der Kammer nicht erforderlich, dass diese unter dem betrieblichen Geltungsbereich des § 1 TVK erbracht worden sind.
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a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben danach noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt, BAG vom 09.04.2008 - 4 AZR 164/07, zit. nach juris.
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b) Nach dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 TVK umfasst die Dienstzeit u.a. die bei Konzert- und Theaterorchestern als Musiker zurückgelegten Zeiten. Anders als bei der von der Beklagten angezogenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 18.05.2006 hinsichtlich des Begriffs der Beschäftigung bei § 51 Abs. 1 TVK (a.F.) verweist § 15 Abs. 1 TVK nicht auf § 1 des Tarifvertrags. Im Gegensatz zur früheren Fassung, bei der in § 1 Abs. 2 TVK (a. F.) der Begriff des Kulturorchesters definiert war, regelt § 1 TVK seit 2019 nur noch den betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrags. Eine Definition des Begriffs des Konzert- und Theaterorchesters schien den Tarifvertragsparteien offensichtlich nicht erforderlich.
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(1) Zwar hat das A. in der genannten Entscheidung für § 51 TVK (a. F.) entschieden, dass hinsichtlich der sich aus § 51 TVK (a.F.) ergebenden Abfindung Beschäftigungszeiten bei ausländischen Orchestern nicht berücksichtigt werden. Dabei hat das A. den Verweis auf § 1 Abs. 2 TVK (a.F.) als Verweis auch auf § 1 Abs. 1 TVK (a.F.) interpretiert und entschieden, Beschäftigungszeiten im Sinne des § 51 TVK (a.F.) könnten nur solche sein, die bei Orchestern in der Trägerschaft eines Unternehmensmitglieds des Deutschen Bühnenvereins absolviert worden seien. Dies ergebe sich auch aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift, da insoweit der soziale Besitzstand der Musiker gesichert werden solle und ein Abfindungsanspruch nur hinsichtlich von Vordienstzeiten bei solchen Orchestern begründet werden solle, bei denen Gegenseitigkeit, bzw. ein Ausgleich zwischen den Orchestern des Verbandes bestehe.
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(2) Die genannte Entscheidung befasst sich jedoch ausdrücklich nur mit dem Begriff der „Beschäftigungszeit“ des § 51 TVK (a.F.). Die Frage, ob der weitergehende Begriff der „Dienstzeit“ anders zu beurteilen ist, lässt das A. ausdrücklich offen. Das A. führt in dieser Entscheidung aus, dass sich die Bemessung der Dienstzeit eines Musikers ebenfalls nach den bei Kulturorchestern gemäß § 1 Abs. 2 TVK (a.F.) als Musiker zurückgelegten Zeiten richte. Darüber hinaus seien jedoch nach § 20 Abs. 2 TVK (a.F.) weitere Zeiten zwingend bzw. nach § 20 Abs. 3 TVK (a.F.) fakultativ anrechenbar. Eine derartige vergleichbare Ausweitung anrechenbarer Zeiten sei in § 51 TVK (a.F.) hinsichtlich der Beschäftigungszeit nicht vorgesehen.
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c) Sinn und Zweck der Vorschrift des § 15 Abs. 2 TVK, wonach eine Tätigkeit als Musiker in anderen als Konzert- und Theaterorchestern sowie Zeiten einer sonstigen musikalischkünstlerischen oder einer musikpädagogischen Tätigkeit auf die Dienstzeit angerechnet werden können, ist es, die größere Erfahrung eines Musikers, die dieser auch an anderer Stelle erworben haben kann, entsprechend zu honorieren. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Dienstleistung eines Musikers mit steigender Dienstzeit auf Grund der in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen für den Arbeitgeber wertvoller wird und damit eine längere Dienstzeit regelmäßig auch eine höhere Vergütung rechtfertigt. Dabei wird ein Musiker, der bereits in anderen Theater- und Konzertorchestern Erfahrung gesammelt hat, nicht so lange und nicht so intensiv eingearbeitet werden müssen und beim neuen Dienstherrn schon auf einem höheren Niveau beginnen können.
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d) Anders als bei der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 18.05.2006, bei der noch die Anrechnungsvorschrift des § 20 Abs. 2 TVK (a.F.) gegolten hat, wonach u.a. auch Zeiten erfüllter Dienstpflicht in der Bundeswehr und beim Bundesgrenzschutz auf die Dienstzeit anzurechnen waren, stellt der heute geltende § 15 Abs. 1 und 2 TVK lediglich auf Dienstzeiten bei Konzert- und Theaterorchestern oder diesen gleichwertige musikalischkünstlerische oder musikpädagogische Tätigkeiten ab. Das Argument des Bundesarbeitsgerichts, wonach aus der Anrechnung von Dienstzeiten im nicht musikalischen Bereich zu folgern sei, dass die Tarifvertragsparteien gerade nicht auf eine praktische Orchestererfahrung abstellen wollten, greift somit hinsichtlich der Neufassung der Anrechnungsvorschrift für die Dienstzeiten (nunmehr § 15 Abs. 1, 2 TVK) nicht mehr.
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e) Aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 2 TVK, wonach Zeiten einer Tätigkeit als Musiker in anderen als Konzert- und Theaterorchestern sowie Zeiten einer sonstigen musikalischkünstlerischen oder einer musikpädagogischen Tätigkeit auf die Dienstzeit angerechnet werden können, ergibt sich vielmehr, dass es den Tarifvertragsparteien ersichtlich nicht auf die Verbandszugehörigkeit sondern vielmehr darauf ankam, dass der Musiker vorher eine gleichwertige Tätigkeit ausgeübt hat und somit eine größere Erfahrung mitbringt. Da sich auch aus der Formulierung des § 15 Abs. 1 TVK nicht ergibt, dass es sich bei den genannten Konzert- und Theaterorchestern um solche handeln muss, die dem betrieblichen Geltungsbereich des Tarifvertrags unterfallen, ist nicht ersichtlich, weshalb Vordienstzeiten bei ausländischen bzw. nicht verbandsgebundenen Konzert- und Theaterorchestern keine Berücksichtigung finden sollten.
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f) Bei der Neufassung des Tarifvertrags im Jahre 2019 musste den Tarifvertragsparteien die Auslegung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2006 hinsichtlich der „Beschäftigungszeiten“ des § 51 TVK (a.F.) und die durch das A. aus der Verweisung auf § 1 Abs. 2 TVK (a.F.) gezogene Schlussfolgerung bekannt gewesen sein. Wäre es ihnen daran gelegen gewesen, dass lediglich Vordienstzeiten bei tarifgebundenen innerdeutschen Konzert- und Theaterorchestern bei der Dienstzeit berücksichtigt werden sollen, hätte es nahegelegen, dies in § 15 Abs. 1 TVK klarzustellen. Dafür, dass lediglich Vordienstzeiten bei deutschen, dem Unternehmerverband angehörenden Konzert- und Theaterorchestern angerechnet werden sollen, finden sich jedoch im Wortlaut des Tarifvertrags keinerlei Hinweise.
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g) Schließlich ist zu bedenken, dass ein Tarifvertrag im Zweifel so auszulegen ist, dass er zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktischen Lösung führt. Eine Auslegung, die - entgegen dem Wortlaut - zum Ergebnis führte, dass lediglich Vordienstzeiten bei deutschen und tarifgebundenen Theater- und Konzertorchestern zu berücksichtigen seien, bedeutete einen Verstoß des Tarifvertrags gegen Art. 45 Abs. 1 AEUV. Denn eine nationale Regelung, die nicht alle in einem anderen als dem Herkunftsmitgliedstaat des Wanderarbeitnehmers zurückgelegten gleichwertigen Vordienstzeiten anrechnet, ist geeignet, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beschränken. Insoweit wäre der sachliche Anwendungsbereich des Art. 45 Abs. 1 AEUV und des ihn ausformenden Art. 7 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 eröffnet.
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(1) Die Klägerin ist Arbeitnehmerin im Sinne der Vorschrift.
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(2) Sie ist auch nicht nach Art. 45 Abs. 4 AEUV von der Gewährleistung der Freizügigkeit ausgenommen, denn insoweit handelt es sich um eine eng auszulegende Ausnahmeregelung. Der Begriff der öffentlichen Verwaltung im Sinne des Art. 45 Abs. 4 AEUV betrifft lediglich die Stellen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung von Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind, EuGH vom 10.09.2014 - C - 270/13, zit. nach juris. Die Ausnahme in Art. 45 Abs. 4 AEUV gilt dagegen nicht für Stellen, die zwar dem Staat oder anderen öffentlichen Einrichtungen zuzuordnen sind, aber nicht zur öffentlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne gehören. Da die Klägerin als Mitglied eines Orchesters nicht hoheitlich tätig ist, fällt sie nicht unter diese Ausnahmeregelung.
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(3) Der Anwendung des Art. 45 AEUV steht auch nicht entgegen, dass es sich bei § 15 Abs. 1 TVK um eine Tarifnorm handelt. Denn Art. 45 AEUV erstreckt sich nicht nur auf behördliche Maßnahmen, sondern auch auf Vorschriften anderer Art, die dazu dienen, unselbständige Arbeit kollektiv zu regeln, BAG, EuGHVorlage vom 18.10.2018 - 6 AZR 232/17 (A), zit. nach juris.
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h) Wollte man die Regelung des § 15 Abs. 1 TVK in dem Sinne verstehen, dass damit Vordienstzeiten in Konzert- und Theaterorchestern in einem anderen Mitgliedstaat nicht berücksichtigt werden, verstieße dies gegen die europarechtlich garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien im Jahr 2019 die Neufassung des Tarifvertrags in einer dem Europarecht widersprechenden Weise verstanden haben wollten. Die Auslegung des Tarifvertrags in der von der Beklagten bevorzugten Weise entspricht nach Ansicht der Kammer weder dem Wortlaut der Vorschrift, noch hat diese Auslegung im Tarifvertrag einen irgendwie gearteten Niederschlag gefunden. Schließlich wäre eine derartige Auslegung angesichts der europarechtlichen Problematik auch nicht vernünftig und sachgerecht.
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4. Die Ausschlussfrist des § 15 Abs. 4 TVK steht der Anerkennung der Vordienstzeiten der Klägerin nicht entgegen. Danach hat der Musiker die anrechnungsfähigen Zeiten innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten nach Aufforderung durch den Arbeitgeber nachzuweisen. Es ist nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht behauptet, dass sie die Klägerin in diesem Sinne zum Nachweis der anrechnungsfähigen Zeiten aufgefordert hätte.
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Der fehlende Nachweis nach Aufforderung, der gemäß § 15 Abs. 4 TVK zum Ausschluss der Anrechnung führt, ist nicht mit einer „fehlenden Geltendmachung“ gleichzusetzen.
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5. Da sich die Dienstzeit der Klägerin auf verschiedene Aspekte ihres Arbeitsverhältnisses auswirkt, hat sie einen Anspruch auf Neuberechnung ihrer Dienstzeit unter Berücksichtigung der Vordienstzeiten.
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Die Kosten des Rechtsstreits waren nach dem Grad des Obsiegens, bzw. Unterliegens gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG, § 92 Abs. 1 Satz 1, 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO verhältnismäßig zu teilen.
44
Die Streitwertentscheidung folgt aus § 61 Abs. 1 ArbGG, §§ 3 ff. ZPO, § 42 GKG.
45
Die Berufung war gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 2b ArbGG zuzulassen.