Inhalt

Truppendienstgericht Süd München, Urteil v. 25.11.2020 – S 5 VL 32/20
Titel:

Wehrdisziplinarrecht: Zur Meinungsäußerung in WhatsApp-Gruppen – Vorliegen von Beweisverwertungsverbote – Meinungsfreiheit – Ortsbezeichnung – Vorbefassung als Richter

Normenketten:
SG § 22, § 23 Abs. 1
WDO § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 20, § 37 Abs. 3 S. 2, § 77 Abs. Nr. 2c, § 99 Abs. 1 S. 2, § 99 Abs. 3
StPO § 200 Abs. 1 S. 1
GG Art. 5 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Ein Richter in einem Wehrdistziplinarverfahren ist nicht nach § 77 Abs. 1 Nr. 2 lit. c WDO von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen, wenn er zuvor in einem Antragsverfahren nach § 17 WBO betreffend einer Maßnahme nach § 22 SG vorbefasst war (hier: das Verfahren nach § 22 SG betraf eine Gefahrenabwehrmaßnahme mit Befehlscharakter, die nicht an das Vorliegen eines Dienstvergehens anknüpft und auch außerhalb eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens getroffen werden kann). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. „Ungestraft“ darf weder der Disziplinarvorgesetzte noch die Wehrdisziplinarstatsanwaltschaft mithilfe eines sog. „Türöffnungsbeschlagnahmebeschlusses“ zu einem übersichtlichen, zeitlich abgegrenzten Vorwurf „ins Blaue hinein“ einen weiteren, sich über Monate erstreckenden umfangreichen Chatverlauf – soweit noch darauf vorhanden – von einem Mobiltelefon sichern, diesen auslesen lassen und damit auch bislang nicht erhobene, andersartige disziplinare Vorwürfe beweisen, ohne den Richtervorbehalt des § 20 WDO zu beachten. Das wäre rechtsstaatlich nicht hinnehmbar, selbst wenn es nicht gezielt geschieht. Insofern besteht ein Beweisverwertungsverbot. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine WhatsApp-Gruppe stellt nur einen virtuellen „sichtbaren Rahmen“ dar, in dem Kommunikation abgebildet wird, ohne dass sich die Teilnehmer räumlich darin befinden. Es handelt sich somit um keinen „Ort der Begehung“ iSd § 200 Abs. 1 S. 1 StPO oder „Ort des Dienstvergehens“ iSd § 37 Abs. 3 S. 2 WDO bzw. § 99 Abs. 1 S. 2 WDO im eigentlichen Sinn. Insofern entfällt eine rechtlich maßgebende räumliche Eingrenzung der vorgeworfenen Tat und eine Beschlagnahme, welche den Chatverkehr einer vom Beschlagnahmebeschluss abweichenden WhatsApp-Gruppe zum Gegenstand hat, kann als noch rechtmäßig angesehen werden (hier: ein Beweisverwertungsverbot wurde insofern verneint. (Rn. 67) (redaktioneller Leitsatz)
4. Nachdem der (nächste) Disziplinarvorgesetzter des Soldaten nicht berechtigt ist, Beweisergebnisse (hier: einer Beschlagnahme und Auswertung des privaten Mobiltelefons des Soldaten) inhaltlich zu sichten und insbesondere von der angeschuldigten Bemerkung Kenntnis zu nehmen, ist dieser nach § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 WDO nicht datenschutzrechtlich berechtigt. Unterliegt bereits die Beschlagnahme und Auswertung einem Beweisverwertungsverbot, so kann dieses nicht dadurch "ausgehöhlt" werden, den Disziplinarvorgesetzten als Zeugen zu vernehmen, wobei die Aissage allein erst dadurch möglich ist, dass der Zeuge die entscheidende Vorkenntnis durch Einblick in den ausgewerteten, vom Beschlagnahmebeschluss nicht umfassten Chatverlauf nahm. (Rn. 73) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Nichtangabe eines konkreten Tatorts bzw. die Angabe „von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort“ im Anschuldigungssatz, ohne Ergänzung tatsächlicher Art im wesentlichen Ermittlungsergebnis, stellt grundsätzlich einen erheblichen Mangel der Anschuldigungsschrift nach § 99 Abs. 3 WDO dar. (Rn. 78) Anderes gilt aber dann, wenn aufgrund eines jeweils nicht alltäglichen, vielmehr eher einmaligen Vorwurfs und der zumindest möglichen quasiräumlichen Zuordnung zu bestimmten WhatsApp-Gruppen ausnahmsweise auch ohne Tatortangabe der jeweilige angeschuldigte Lebenssachverhalt so klar und abgegrenzt ist, dass keine Missverständnisse über dessen Grenzen entstehen können. (Rn. 87) (redaktioneller Leitsatz)
6. Wegen des weiten Meinungsbegriffs des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist bei Äußerungen, bei denen es sich im Zweifel um eine Meinungskundgabe handelt, am Anfang jeder Prüfung eines in Betracht kommenden Pflichtentatbestandes der objektive Bedeutungsgehalt der Äußerung durch Interpretation zu ermitteln, um der Gewährleistung der grundrechtlichen Meinungsfreiheit Rechnung zu tragen und um festzustellen, ob danach überhaupt von einem beanstandungswürdigen Inhalt zulässigerweise ausgegangen werden darf. (Rn. 97) (Rn. 110) (Rn. 134) (redaktioneller Leitsatz)
7. Das Wehrdisziplinarrecht hat zwar Erziehungscharakter, erfüllt aber nicht den Zweck, Soldaten auf eine politisch korrekte Linie zu bringen. (Rn. 122) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dienstvergehen, Verfahrensmangel, Bescheid, Disziplinarverfahren, Beschwerde, Soldat, Verteidiger, Staatsanwaltschaft, Meinungsfreiheit, freiheitliche demokratische Grundordnung, demokratische Grundordnung, Gelegenheit zur Stellungnahme, Richter, ausgeschlossener Richter, Vorbefassung, Beweisverwertungsverbot, Chatverlauf, WhatsApp-Gruppe, Tatort, Anschuldigungsschrift, Disziplinarrecht, Mobiltelefon, privates Mobiltelefon, WhatsApp, Begehungsort, Beschlagnahme, Auswertung, Lebenssachverhalt, Meinungsäußerung, Äußerung
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Urteil vom 13.01.2022 – 2 WD 4.21
Fundstelle:
BeckRS 2020, 55975

Tenor

1. Der Soldat wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Soldaten erwachsenen notwendigen Auslagen hat der Bund zu tragen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der heute … Jahre alte Soldat erreichte im Juni 2013 einen der deutschen fachgebundenen Hochschulreife vergleichbaren Abschluss an der St. Edward’s School Cheltenham/England (GCE - General Certificate of Education - Examinations). Zum 1. Juli 2013 trat er seinen Dienst in der Bundeswehr als Anwärter für die Offiziere der Laufbahn des Truppendienstes bei der AAA./Offizieranwärterbataillon BBB in CCC an. Am 5. Juli 2013 wurde er in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen.
2
Seine Dienstzeit wurde zunächst auf sechs Monate und dann auf drei Jahre festgesetzt und sollte zunächst wegen Zeitablaufs nach § 54 Abs. 1 des Soldatengesetzes (SG) zum 30. Juni 2016 auslaufen. Seinem Antrag auf Festsetzung seiner Dienstzeit auf 13 Jahre und auf Wechsel in die Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes ohne Studium gab das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr mit Bescheid vom 11. Mai 2016 „konditioniert“ statt. Seine Dienstzeit wurde danach zunächst bis zum 30. Juni 2018 verlängert, um ihm das Bestehen des Offizierlehrgangs Teil 3 der Panzertruppe zu ermöglichen. Für den Fall des erfolgreichen Bestehens wurde eine Verlängerung der Dienstzeit auf den 30. Juni 2026 angekündigt. Die Dienstzeit des Soldaten endet nach zwischenzeitlichem Eintritt der Bedingung mit Ablauf dieses Datums.
3
Der Soldat wurde zuletzt mit Wirkung vom 1. Juli 2017 zum Leutnant befördert. Zugleich wurde er in eine Planstelle der Besoldungsgruppe A9 G eingewiesen.
4
An dem vom 1. Juli bis 11. Dezember 2013 dauernden Offizieranwärterlehrgang in der AAA./Offizieranwärterbataillon BBB in CCC nahm der Soldat mit der Note „befriedigend“ teil. Den sich anschließenden, bis zum 28. März 2014 stattfindenden Offizierlehrgang Teil 1 an der Offizierschule des Heeres, Lehrgruppe DDD, EEE. Inspektion, in FFF bestand er ebenfalls mit der Abschlussnote „befriedigend“. Unter vorangehender Kommandierung vom 22. bis 30. September 2014 wurde der Soldat zum 1. Oktober 2014 zur Universität der Bundeswehr GGG, Studentenfachbereich C, versetzt. Nach dem Nichtbestehen des Studiums der Betriebswirtschaftslehre und der damit einhergehenden Exmatrikulation erfolgte ein Wechsel in den HHH. Offizieranwärterlehrgang. Zum 25. Januar 2016 wurde der Soldat zum Ausbildungskommando, Aufstellungsstab Ausbildungs-/Übungszentrum Luftbeweglichkeit in JJJ versetzt. Zum 26. September 2016 erfolgte eine Versetzung zum Ausbildungszentrum KKK, LLL. Inspektion. Im Zeitraum 5. Oktober bis 29. Dezember 2016 nahm er an dem Offizierlehrgang Teil 2 neu an der Offizierschule des Heeres, Lehrgruppe DDD, MMM. Inspektion, in FFF teil. Zum 1. April 2018 wurde er zum Stab Panzerbataillon NNN, S3-Abteilung, in OOO versetzt. In der Zeit vom 27. Februar 2017 bis 23. Februar 2018 besuchte er den Offizierlehrgang Teil 3 am Ausbildungszentrum KKK, LLL. Inspektion. Für den Zeitraum 1. September bis 28. September 2018 wurde er zum Deutschen Kontingent eFP (enhanced Forward Presence) Battle Group Lithuania (Litauen), JVB (Joint Visiters Bureau), kommandiert. Wegen der in Rede stehenden Vorwürfe erfolgte am 28. September 2018 eine vorzeitige Beendigung der einsatzgleichen Verpflichtung. Der Soldat leistet derzeit Dienst in der S3-Abteilung des Panzerbataillons NNN.
5
Der Soldat wurde - entgegen der Angabe in der Anschuldigungsschrift - einmal im Rahmen einer Anlassbeurteilung gemäß damaliger Zentraler Dienstvorschrift 20/6 („Bestimmungen über die Beurteilungen der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr“) Nr. 204a (4) planmäßig beurteilt.
6
In dieser Beurteilung vom 20. März 2014 durch den Hörsaalleiter PPP. Inspektion, Lehrgruppe B, der Offizierschule des Heeres, Oberstleutnant QQQ, erhielt er bei der von 1 bis 9 reichenden Wertungsskala dreimal die Einzelnote „7“ („die Leistungserwartungen wurden ständig, teilweise auch erheblich übertroffen“), viermal die Einzelnote „6“ („die Leistungserwartungen wurden ständig erheblich übertroffen“), einmal die Einzelnote „5“ („die Leistungserwartungen wurden erfüllt, überwiegend übertroffen“) und einmal die Einzelnote „4“ („die Leistungserwartungen wurden erfüllt, teilweise übertroffen“). Das Merkmal „Wirtschaftliches Verhalten“ wurde nicht bewertet. Der Durchschnittswert der Aufgabenerfüllung betrug danach 6,00.
7
In der ergänzenden Beschreibung wurde er insgesamt als ein zuverlässiger Mitarbeiter mit vorhandenem Potential beschrieben, der eine weitere positive Entwicklung deutlich erwarten lasse. Zum Teileinheitsführer seiner Truppengattung erscheine er - nach Abschluss der Ausbildung zum Offizier - geeignet.
8
Der Inspektionschef PPP. Inspektion der vorgenannten Dienststelle, Oberstleutnant RRR, stimmte in seiner Stellungnahme vom 24. März 2014 dieser in seinen Augen treffenden Beurteilung in vollem Umfang zu.
9
In einem Beurteilungsvermerk vom 25. Januar 2018 anlässlich seiner erfolgreichen Teilnahme am Offizierlehrgang Teil 3 wurde er durch den Hörsaalleiter LLL. Inspektion des Ausbildungszentrums KKK, Major TTT, insbesondere als ruhiger und zurückhaltend auftretender Offizier beschrieben, der in seiner Funktion als Munitionswart gute Leistungen präsentiert habe. Der Soldat besitze einen ausgeprägten Führungsanspruch, trete in Teilen aber noch zu zurückhaltend und zögerlich auf. Mit seiner unkomplizierten und kameradschaftlichen Art sei er ein voll integriertes Mitglied seines Hörsaals. Psychisch voll belastbar müsse er jedoch noch an seiner körperlichen Leistungsfähigkeit arbeiten. Er sei als Zugführer geeignet, vorzusehen sei jedoch zunächst eine Verwendung als Kompanieeinsatzoffizier.
10
Der Inspektionschef der LLL. Inspektion, Oberstleutnant UUU stimmte in seiner Stellungnahme als nächsthöherer Disziplinarvorgesetzter der „Beurteilung“ in vollem Umfang zu. Er ergänzte im Kern, dass der Soldat selbstbewusster und überzeugender auftreten müsse, um zu zeigen, was er zu leisten vermöge. Seinen Führungsanspruch müsse er deutlicher herausstellen. Im Vergleich aller Teilnehmer des Lehrgangs befinde er sich im hinteren Mittelfeld; er besitze jedoch das Potential, sich nach oben zu entwickeln.
11
Der stellvertretende Kommandeur Panzerbataillon NNN, Major VVV, charakterisierte den Soldaten in einer im Rahmen des gerichtlichen Disziplinarverfahrens angeforderten Personenbeschreibung vom 15. Oktober 2018 im Kern als engagierten, zielstrebigen und verlässlichen Offizier, der sich durch Intellekt und Leistungswille auszeichne. Er sei psychisch überaus belastbar sowie kommunikativ, seine bestimmenden Merkmale seien funktionale und geistige Kompetenz. Sein soldatisches Selbstverständnis sei beispielgebend für alle Dienstgradgruppen. Er sei eine Bereicherung für die Streitkräfte.
12
Der damalige Kommandeur Panzerbataillon NNN, Oberstleutnant WWW, bescheinigte dem Soldaten im Rahmen einer am 30. September 2020 verliehenen Leistungsprämie (dazu unten), dass jener im - nicht näher angegebenen - „zugrundeliegenden Betrachtungszeitraum“ außerordentliche Leistungen als S3-Offizier in allen Belangen der Stabsarbeit im Führungsgrundgebiet 3 erbracht habe. Er habe stets durch überdurchschnittlichen Einsatzwillen, hohe Flexibilität, rigorose Zurückstellung der eigenen, privaten Belange und Opferbereitschaft überzeugt. Herausfordernde Zusatzaufträge habe er ruhig und nach äußerst professioneller Manier, ohne zu klagen und zu jammern, gemeistert, wo andere schon längst das Handtuch geworfen hätten. Bei ihm sei(en) Haltung, Pflichterfüllung und Einsatzbereitschaft auf wohltuend hohem Niveau.
13
In der Hauptverhandlung bezeichnete Oberstleutnant WWW (nunmehr Gefechtsübungszentrum Heer) den Soldaten im Kern als einen ruhigen, anständigen, fähigen, im Hinblick auf Projektarbeiten brillanten Offizier, der in der Corona-Zeit an der Spitze der leistungsbereiten Soldaten gestanden habe. In einem Leistungsvergleich ordnete er ihn an der Spitze des mittleren Drittels ein mit einem imaginären Durchschnittswert der Aufgabenerfüllung von „7,3“. Die Leistungen des Soldaten zeigten stetig nach oben.
14
Dem Soldaten wurden bisher keine Abzeichen, Ehrenzeichen, etc. verliehen.
15
Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 24. September 2020 sowie der Auszug aus dem Disziplinarbuch vom 23. Oktober 2020 enthalten keine Eintragungen.
16
Der Soldat ist ledig und hat keine Kinder.
17
Laut Auskunft des Bundesverwaltungsamts - Außenstelle München - vom 23. Oktober 2020 erhält der Soldat Dienstbezüge nach der Besoldungsgruppe A 9 G, Stufe 3, in Höhe von 3.152,51 € brutto und 2.515,78 € netto, von denen ihm tatsächlich 2.511,78 € ausbezahlt werden.
18
Ihm wurde am 30. September 2020 vom Kommandeur Panzerbataillon NNN eine Leistungsprämie gemäß § 42a des Bundesbesoldungsgesetzes in Höhe von 1.250 € als Einmalzahlung gewährt.
19
Der Soldat bezeichnete seine wirtschaftlichen Verhältnisse als geordnet. Seine monatlichen Verbindlichkeiten beliefen sich auf etwa 800 bis 1.000 €.
II.
20
Mit Verfügung vom 21. Dezember 2018, dem Soldaten zugestellt am 22. Dezember 2018, hat der Kommandeur …. Panzerdivision, Generalmajor YYY das gerichtliche Disziplinarverfahren eingeleitet.
21
Die Vertrauensperson der Offiziere, Oberleutnant ZZZ, war am 22. November 2018 angehört und deren Stellungnahme dem Soldaten vor seiner Anhörung zur beabsichtigten Einleitung mit Schreiben der Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich der …. Panzerdivision (im Folgenden: Wehrdisziplinaranwaltschaft) vom 30. November 2018 bekannt gegeben worden.
22
Die Anhörung des Soldaten vor Einleitung gestaltete sich wie folgt:
„Die ermittelnde Wehrdisziplinaranwältin informierte die Verteidiger mit (einfachem) Schreiben vom 30. November 2018, dass die Vorermittlungen abgeschlossen seien und erteilte Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 14. Dezember 2018 (mit Eingang dort). Der sachbearbeitende Rechtsanwalt teilte der Wehrdisziplinaranwaltschaft per Fax vom 14. Dezember 2018 mit, dass er für den Soldaten von der eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme Gebrauch machen werde. Aufgrund aktuell bestehender Arbeitsbelastung bat er um stillschweigende Verlängerung der als kurz bemessen angesehenen Frist bis 21. Dezember 2018 (Freitag). Daraufhin gewährte die ermittelnde Wehrdisziplinaranwältin mit Fax vom 18. Dezember 2018 eine Fristverlängerung bis zum 20. Dezember 2018 (mit Eingang dort). Der Schriftsatz der Verteidiger ging bei der Wehrdisziplinaranwaltschaft über Fax am 21. Dezember 2018 kurz vor 14 Uhr ein. Die ermittelnde Wehrdisziplinaranwältin hatte vorher wiederholt erfolglos versucht, telefonischen Kontakt mit dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt aufzunehmen.“
23
Die zuvor am selben Tag (21. Dezember 2018) erfolgte Vorlage des Entwurfs der Einleitungsverfügung an den Kommandeur …. Panzerdivision als Einleitungsbehörde, auf deren Grundlage dessen Entscheidung erging, berücksichtigte diesen Schriftsatz vom 21. Dezember 2018 nicht. Das ergibt sich aus einer Bemerkung der ermittelnden Wehrdisziplinaranwältin (unter „Vermerk“ heißt es insoweit: „Der Rechtsanwalt hatte bis 20. Dezember 2018 Frist zur Stellungnahme. Hiervon hat er keinen Gebrauch gemacht.“), die einen Haken in grüner Farbe (also seitens des Kommandeurs …. Panzerdivision) trägt. Dieser Entwurf enthält in gleicher Form (grüne Haken ohne Paraphe) auch eine Billigung des Vorschlags der Verfahrenseinleitung und der Nebenentscheidungen. Dieser und die von der Einleitungsbehörde unterzeichnete Einleitungsverfügung sind in der Verfahrensakte der angeführten Stellungnahme der Verteidiger vorgeheftet. Danach befinden sich keine Schriftstücke in der Verfahrensakte, die erkennen lassen, dass die Einlassung der Verteidiger vor Versendung der unterschriebenen Einleitungsverfügung der Einleitungsbehörde noch zur Kenntnis gegeben wurde. Vielmehr existiert eine Verfügung der Wehrdisziplinaranwaltschaft vom 21. Dezember 2018, aus der sich die Anordnung der Zustellung an den Soldaten mittels Postzustellungsurkunde ergibt; daneben steht eine handschriftliche Anmerkung „bereits versendet am 21.12.18“. Trotz Eingangs der Stellungnahme der Verteidiger (mutmaßlich) kurz nach Unterzeichnung der Einleitungsverfügung können der Verfahrensakte keine Bemühungen der Wehrdisziplinaranwaltschaft entnommen werden, die Stellungnahme der Einleitungsbehörde noch vor Veranlassung der Zustellung vorzulegen.
24
Der Kommandeur …. Panzerdivision hielt am 12. Juli 2019 jedoch gemäß Vermerk der Wehrdisziplinaranwaltschaft seine gesamten bisherigen Entscheidungen unter „erneuter“ Würdigung des Verteidigervorbringens vom 21. Dezember 2018 aufrecht.
25
Nach Gewährung des Schlussgehörs am 18. März 2020 hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft dem Soldaten mit Anschuldigungsschrift vom 27. April 2020, bei Gericht eingegangen am 7. Mai 2020, dem Soldaten ausgehändigt am 5. Juni 2020, folgenden Sachverhalt als Dienstvergehen zur Last gelegt:
„1. Der Soldat postete am 10. März 2017 um 21:45 Uhr von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort außer Dienst in der WhatsApp-Gruppe ‚Ein Käfig voller Helden‘ ein Bild mit einer Schildkröte. Dabei stand in englischer Sprache geschrieben: ‚My name ist Ionesome George. I was born in 1912 and I am the last of my kind. It is up to me to preserve the values and morals of may time. HEIL FUCKING HITLER‘ (zu Deutsch: Ich heiße Lonesome [einsamer] George. Ich wurde 1912 geboren und bin der Letzte meiner Art. Ich trage die Verantwortung, die Werte und Sitten meiner Zeit zu bewahren. Heil, fucking Hitler!‘). Dabei wusste der Soldat bzw. hätte zumindest erkennen können und müssen, dass er damit die Wertvorstellung des NS-Unrechtsregimes verharmloste beziehungsweise zumindest den Anschein erweckte, dies zu tun und sich gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stellte.
2. Der Soldat postete am 26. März 2017 (Sonntag) um 13:55 Uhr von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort außer Dienst in der WhatsApp-Gruppe ‚Ein Käfig voller Helden‘, der er und andere Angehörige des Offizierlehrgangs Teil 3 Panzertruppe angehörten, das Foto des Schreibens eines Fußballfanclubs mit folgendem Inhalt, bezogen auf ein Fußballspiel: ‚Für den Sturm zwei Juden, denn diese dürfen nicht verfolgt werden. Für das Mittelfeld einen Neger und einen Chinesen, damit das Spiel farbiger wird. Für die Abwehr drei Schwule, damit mehr Druck von hinten kommt.‘ Dabei wusste der Soldat bzw. hätte zumindest erkennen können und müssen, dass er damit Menschen jüdischer Religion, anderer Hautfarbe und anderer sexueller Orientierung herabwürdigt oder zumindest den Anschein erweckt, dies zu tun und sich gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stellte.
3. Der Soldat fertigte zusammen mit dem gesondert disziplinar verfolgten Oberleutnant ÄÄÄ, Leutnant ÖÖÖ und Oberleutnant ÜÜÜ zu einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt des 20. April 2017 im Offizierslager im Ausbildungszentrum KKK, ein Schild mit der Aufschrift ‚FDGO-Würdenträger‘ an, welches diejenige Person der Gruppe tragen sollte, welche sich in ihrer Aussage zuvor am stärksten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes gestellt hatte, wodurch er, was er wusste, zumindest hätte erkennen können und müssen, sich selbst gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes gestellt hat, mindestens jedoch einen solchen Anschein erweckte und damit einen Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zumindest als harmlos darstellte.
4. Der Soldat postete am 6. April 2018 (Freitag) um 13:27 Uhr von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort außer Dienst in der WhatsApp-Gruppe ‚Malli Galli Drecksauparty‘, der außer dem Soldaten drei weitere im Ermittlungsergebnis benannte Kameraden angehörten, über den damaligen Hörsaalleiter der MMM Inspektion Offizierschule des Heeres: ‚Vermutlich AAAA. So’n Typ der eher aussieht wie ein HFw. Wenn ja dann isses n spast‘ [sic]. Dabei wusste der Soldat, zumindest hätte er wissen können und müssen, dass er damit seinen Hörsaalleiter in dessen Würde und Ehre herabsetzte.
5. Der Soldat postete am 1. Mai 2018 um 10:26 Uhr von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort außer Dienst in der WhatsApp-Gruppe ‚Malli Galli Drecksauparty‘ als Antwort auf die Textnachricht des Oberleutnants ÄÄÄ ‚Wir haben gestern Feuer gemacht‘ den Spruch: ‚Ausnahmsweise mal ohne Bücherverbrennung?‘. Damit spielte der Soldat bewusst auf die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 durch die Nationalsozialisten an, wobei er wusste, zumindest hätte wissen können und müssen, dass er damit das NS-Unrechtsregime verharmloste beziehungsweise zumindest den Anschein erweckte, dies zu tun und sich gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stellte.
6. Der Soldat postete am 3. Mai 2018 außer Dienst um 18:09 Uhr von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort in derselben WhatsApp-Gruppe die Worte: ‚Weil es doch nicht sein kann das nur ich einen so behinderten Kdr habe‘ [sic], bezogen darauf, dass der Kommandeur anderer Chatteilnehmer diese einen nichtbestandenen Einzelkämpferlehrgang hatte wiederholen lassen. Dabei wusste der Soldat, zumindest hätte er wissen können und müssen, dass er damit seinen Bataillonskommandeur in dessen Würde und Ehre herabsetzte.“
26
Das - neben dem Vorwurf einer Beleidigung - bezüglich der Anschuldigungspunkte 1 bis 3 geführte sachgleiche Strafverfahren der Staatsanwaltschaft BBBB wegen des Verdachts der Volksverhetzung wurde (insgesamt) mit Verfügung vom 15. Februar 2019 gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt. Der Tatbestand des § 130 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) sei nicht erfüllt, da es im vorliegenden Fall an einer Störung des öffentlichen Friedens fehle. Die personelle Stärke der WhatsApp-Gruppen „HS14“ und „Ein Käfig voller Helden“ habe nicht mehr als 35 Mitglieder betragen.
27
In der oben genannten Einleitungsverfügung, in der dem Soldaten neben der Mitanfertigung eines Schildes mit der Aufschrift „FDGO Würdenträger“ das Posten von Bildern mit (vermeintlich) antisemitischem und rassistischem Inhalt sowie mit Bezug zu Adolf Hitler als Dienstvergehen vorgeworfen wurden, hatte der Kommandeur …. Panzerdivision den Soldaten im Rahmen von Nebenentscheidungen gemäß § 126 Abs. 1 der Wehrdisziplinarordnung (WDO) vorläufig des Dienstes enthoben und ihm das Tragen der Uniform verboten. Er hatte außerdem angeordnet, dass die Hälfte der jeweiligen Dienstbezüge einbehalten wird (§ 126 Abs. 2, Abs. 4 WDO).
28
Nach Zurückweisung eines Antrags auf Aufhebung dieser Maßnahmen durch den Kommandeur …. Panzerdivision beantragte der Soldat eine gerichtliche Überprüfung gemäß § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO. Die 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd hob in ihrem Beschluss vom 27. Juni 2019 (Az: S 5 GL 04/19) die Nebenentscheidungen und den bestätigenden Bescheid auf. Der Antrag der Wehrdisziplinaranwaltschaft auf Aussetzung der Vollziehung wurde vom Vorsitzenden der vorgenannten Truppendienstkammer (im Folgenden: Kammer) mit Beschluss vom 1. August 2019 abgelehnt. Die Beschwerde der Wehrdisziplinaranwaltschaft gegen den erstgenannten Beschluss wies der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) mit Beschluss vom 10. Oktober 2019 (Az: 2 WDB 2.19) zurück.
29
Mit Bescheid vom 12. Juli 2019, dem Soldaten zugestellt am 15. Juli 2019, verbot der Kommandeur …. Panzerdivision jenem gemäß § 22 SG bis auf weiteres die Ausübung des Dienstes. Zugleich untersagte er ihm das Tragen der Uniform.
30
Die 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd stellte im Rahmen eines Antragsverfahrens in ihrem - rechtskräftigen - Beschluss vom 17. Juni 2020 (Az: S 5 BLa 03/19) fest, dass diese Verbote rechtswidrig waren.
31
Die Kammer durfte in ihrer Besetzung entscheiden.
32
Der Vorsitzende war aufgrund seiner Vorbefassung im - vorgenannten - Antragsverfahren nach § 17 der Wehrbeschwerdeordnung (WBO) betreffend § 22 SG (Az: S 5 BLa 03/19) im vorliegenden Verfahren von der Ausübung des Richteramtes nicht ausgeschlossen gemäß § 77 Abs. 1 Nr. 2c) WDO. Denn beim vorliegenden Verfahren handelt es sich nicht um „dieselbe Sache“ i.S.d. vorgenannten Norm. Das Verfahren nach § 22 SG betraf eine Gefahrenabwehrmaßnahme mit Befehlscharakter, die nicht an das Vorliegen eines Dienstvergehens anknüpft und auch außerhalb eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens getroffen werden kann. Deshalb wurde in jenem Verfahren auch nicht geprüft, ob der Soldat ein Dienstvergehen begangen hat.
33
Gegen die Annahme der in Rede stehenden Voraussetzung spricht auch, dass eine Wehrdisziplinaranwaltschaft bzw. Einleitungsbehörde bei gegenteiliger Ansicht durch zusätzliche Verhängung einer Maßnahme nach § 22 SG eine mittelbare Einflussmöglichkeit auf die Besetzung des Gerichts im parallelen gerichtlichen Disziplinarverfahren erhielte. Denn sobald der betroffene Soldat von seinem Beschwerderecht Gebrauch macht und das Beschwerdeverfahren bis zum Antrag auf gerichtliche Entscheidung fortführt, wäre der mitwirkende Richter bei Bejahung des Tatbestandsmerkmals „dieselbe Sache“ an einer späteren Entscheidung im parallelen gerichtlichen Disziplinarverfahren ausgeschlossen. Auf diesem Weg könnte die Wehrdisziplinaranwaltschaft bzw. Einleitungsbehörde versuchen, nicht genehme Richter „auszuschalten“.
III.
34
Die Kammer hat aufgrund der Einlassung des Soldaten, soweit ihr gefolgt werden konnte, der Aussage der Zeugen Oberstleutnant B. (zugleich Leumundszeuge), Oberleutnant ÄÄÄ, Oberleutnant CCC und Oberleutnant ÜÜÜ, der verlesenen schriftlichen Aussagen der Zeugen Hauptmann DDDD und Leutnant ÖÖÖ, von Inaugenscheinnahmen sowie der zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachten Urkunden folgenden Sachverhalt festgestellt:
Vorbemerkung:
35
Der Soldat besuchte zum Zeitpunkt der in den Anschuldigungspunkten 1-3 vorgeworfenen Taten den Offizierlehrgang Teil 3 Panzertruppe am Ausbildungszentrum KKK, LLL. Inspektion. Er war zunächst Angehöriger des Hörsaals 14 und dann - nach dessen Aufteilung wegen Übergröße - des Hörsaals 17. Er gehörte währenddessen zum einen der WhatsApp-Gruppe „HS 14“ an, die vornehmlich für dienstliche Informationen genutzt wurde und in der fast alle Soldaten des Hörsaals waren, und zum anderen den für private Zwecke gedachten WhatsApp-Gruppen „Ein Käfig voller Helden“ und „Malli Galli Drecksauparty“. In einer WhatsApp-Gruppe können dort getroffene Aussagen von allen Gruppenangehörigen gelesen werden.
36
Die WhatsApp-Gruppe „Ein Käfig voller Helden“ bestand außer dem Soldaten jedenfalls aus folgenden Soldaten des Hörsaals 14 bzw. 17: (damalig) Oberleutnant DDDD, Oberleutnant CCCC, Oberleutnant ÄÄÄ, Oberleutnant ÜÜÜ, Oberleuntnant EEE und Leutnant FFFF. Ob weitere Soldaten Teilnehmer waren, ließ sich nicht sicher aufklären.
37
Angehörige der zweiten WhatsApp-Gruppe waren neben dem Soldaten (damalig) Oberleutnant DDDD, Oberleutnant ÄÄÄ und Oberleutnant ÜÜÜ.
38
Der Soldat ist gläubiger Christ und seit Jahren Mitglied der CDU. Er wurde von allen Zeugen in der politischen Mitte verortet; Anzeichen irgendeiner Sympathie für das nationalsozialistische Herrschaftsregime oder deren Repräsentanten, insbesondere Adolf Hitler, wurden bei ihm nicht wahrgenommen.
Anschuldigungspunkt 1:
39
Der Soldat postete am 10. März 2017 unter der Telefonnummer +49 176 72264617 in der WhatsApp-Gruppe „Ein Käfig voller Helden“ von einem nicht mehr feststellbaren Ort aus ein horizontal dreigeteiltes Bild, das jeweils dieselbe, „lonesome George“ benannte Galápagos-Riesenschildkröte in verschiedenen Positionen zeigt mit dem oben im Anschuldigungssatz wiedergegebenen Text, der auf drei Bildteile verteilt ist. Dabei steht „Heil fucking Hitler“ im letzten Bildteil.
40
Der Kontext, insbesondere die vorangegangenen Beiträge des Soldaten oder anderer Chatteilnehmer, konnte mangels gesicherten Chatverkehrs nicht festgestellt werden.
41
Der Soldat ist geständig. Außerdem existieren in den Verfahrensakten Screenshots des damaligen Postings.
42
Der Soldat verstand nach seiner Einlassung das als Witz verstandene Posting folgendermaßen: Der letzte Bildabschnitt „Heil fucking Hitler“ sei als Pointe in dem Sinne zu verstehen, dass es ein Trugschluss sei, dass man bessere Einsichten im Alter habe. Nach dem Eindruck der ersten beiden Teilbilder (Behauptung der Wertebewahrung) entpuppe sich die Schildkröte im letzten Teilbild als eine „böse“, die in Wahrheit nicht die Werte bewahre und vielmehr Adolf Hitler verehre.
43
Dem Soldaten sei es nie darum gegangen, mit den Worten „Heil fucking Hitler“ das NSRegime zu verharmlosen.
Anschuldigungspunkt 2:
44
Der Soldat postete am 26. März 2017 (Sonntag) um 13:55 Uhr unter der Telefonnummer +49 176 72264617 vom Haus seiner Großeltern in GGGG aus in der WhatsApp-Gruppe „Ein Käfig voller Helden“ ein Schreiben mit dem oben im Anschuldigungssatz wiedergegebenen sowie einem darüber hinausgehenden nicht entzifferbaren Text. Zu diesem Posting schrieb er: „Was man alles so auf dem Dachboden findet“ und fügte drei sog. Emojis nicht mehr genau feststellbarer Art bei.
45
Der Inhalt des geposteten Schreibens ist, abgesehen von einem größer geschriebenen Schriftzug „TENGELMANN“, auf dem in den Verfahrensakten befindlichen Screenshot nicht lesbar, selbst nicht nach einer Vergrößerung.
46
Das Schreiben, das der Soldat nach eigenen Angaben auf dem Dachboden des Hauses seiner Großeltern bei einer Partyraumausstattung entdeckte, soll aus dem Jahr 1980 stammen und ein Schreiben der Firma Tengelmann darstellen, das die vorgehend schlechte Spielsaison der Fußballmannschaft Eintracht Braunschweig zum Gegenstand hatte. Ob das tatsächlich der Fall ist, ließ nicht aufklären.
47
Der Kontext, insbesondere die vorangegangenen Beiträge des Soldaten oder anderer Chatteilnehmer konnte mangels gesicherten Chatverkehrs nicht festgestellt werden.
48
Der Soldat ist hinsichtlich des angeschuldigten Textteils, der jedoch nur einen Teil des gesamten Inhalts des Schreibens ausmacht, geständig. Ihm sei es ihm nicht um den Text gegangen, sondern darum zu zeigen, womit die Firma Tengelmann damals geworben habe; er sei erstaunt gewesen über dieses Werbeprodukt und wollte dies kundtun.
49
Weder er, der Zeuge Oberleutnant S. noch der Vertreter der Wehrdisziplinaranwaltschaft konnten sagen, welchen Inhalt das Schreiben insgesamt hatte.
Anschuldigungspunkt 3
50
Die vorgeworfene Tat konnte nicht bewiesen werden.
51
Der Soldat hat die Tat bestritten.
52
Der Zeuge Oberleutnant CCCC, der in seiner Stellungnahme vom 31. Juli 2018 noch von einer Beteiligung des Soldaten an der Fertigung des Schildes mit der aufgemalten Aufschrift „FDGO WÜRDENTRÄGER“ geschrieben hatte, sagte in der Hauptverhandlung nur aus, dass der Soldat bei der Geselligkeit am 20. April 2017 (Donnerstag) dabei gewesen sei; er wisse aber nicht, ob jener an der Fertigung des Schildes beteiligt gewesen sei. Er habe sich nicht direkt mit jemandem über das Schild und dessen Sinn unterhalten. Es habe nur ein Hörsaalgerede gegeben. Näheres sei ihm nicht bekannt. Der Zeuge Oberleutnant ÄÄÄ schloss mit „ziemlicher Sicherheit“ eine Beteiligung des Soldaten aus. Leutnant ÖÖÖ habe das Schild allein gefertigt.
53
Der Zeuge Oberleutnant ÜÜÜ erklärte, dass er keine Erinnerung mehr daran habe, wer das Schild fertigte. Er wisse nur, dass jenes existiert habe. Er habe dessen Sinn nicht verstanden.
54
Weitere Beweismittel liegen nicht vor.
Anschuldigungspunkt 4:
55
Die vorgeworfene Tat konnte nicht in rechtlich zulässiger Weise bewiesen werden.
56
Zwar ist aufgrund eines Ausdrucks eines Chatverkehrs betreffend die WhatsAppGruppe „Malli Galli Drecksauparty“ bekannt, dass der Soldat am 6. April 2018 um 13:27 Uhr als „…“ (Vorname des Soldaten) von einem nicht mehr feststellbaren Ort aus den im Anschuldigungssatz enthaltenen Text schrieb. Auch der Kontext ergibt sich daraus.
57
Dieser Urkundenbeweis darf aber nicht zu Lasten des Soldaten verwertet werden, da insoweit ein Beweisverwertungsverbot existiert. Weitere Beweismittel liegen nicht vor; Oberleutnant DDDD, mit dem damals dieser Chat geführt wurde, erinnerte sich in seiner Vernehmung als Zeuge am 30. Oktober 2020 nicht mehr daran, dass der vorgeworfene Satz fiel.
58
Ein Beweisverwertungsverbot ist deshalb anzunehmen, weil der in Rede stehende Chat-Ausdruck damals nicht wirksam beschlagnahmt wurde und der Soldat - was er in der Hauptverhandlung auf Nachfrage bekräftigte - weder mit einer freiwilligen Herausgabe seines Mobiltelefons einverstanden war noch einer Verwertung der erlangten Chat-Protokolle im Nachhinein zugestimmt hat. Der Zeuge Oberstleutnant WWW, der bei der Beschlagnahme und Auswertung zugegen war, bestätigte, dass er den Soldaten nicht zu einer Freiwilligkeit der Herausgabe des Mobiltelefons befragt habe.
59
Der im selben gerichtlichen Disziplinarverfahren ergangene Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des (vormaligen) Vorsitzenden der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 21. September 2018 (Az: S 5 DsL 15/18) umfasst keine Beschlagnahme von Daten/Unterlagen, die den Vorwurf von Dienstpflichtverletzungen beweisen können, die ehrverletzende Äußerungen zum Gegenstand haben. Vielmehr beschränkt er sich auf einen potentiell rechtsextremen Bezug. Das ergibt sich aus einer Zusammenschau aus Antrags- und Beschlussinhalt.
60
So heißt es in der Anlage zum Antrag der Wehrdisziplinaranwaltschaft auf richterliche Anordnung einer Durchsuchung und/oder Beschlagnahme nach § 20 Abs. 1 Satz 1 WDO vom 21. September 2018, dass sich der Soldat von März bis Mai 2017 in WhatsApp-Gruppen in erheblichem Maße antisemitisch und volksverhetzend geäußert haben solle. Es sei daher beabsichtigt, den Soldaten selbst und insbesondere sein Mobiltelefon zu beschlagnahmen und durch das „CERTBw“ auswerten zu lassen, um die unverfälschten Chatverläufe sowie gegebenenfalls auch weitere Bild- und Videodateien mit rechtsextremem Gedankengut „etc.“ zu erhalten.
61
Der Gerichtsbeschluss, der nicht über das Beantragte hinausgehen darf, knüpfte vor allem („u.a.“ mit nachfolgender Beschreibung des Vorwurfs) an den in den Anschuldigungspunkten 1 und 2 vorgeworfenen Sachverhalt an und nannte als Verdachtszeitraum „zumindest“ den Zweitraum zwischen Dezember 2016 und Juli 2017. Als expliziter Verdacht wurde nur das Posten von Bilddateien im Sinne der beiden vorgenannten (späteren) Anschuldigungspunkte genannt; dies, obwohl bei der anschließenden Formulierung eines Verdachts eines Dienstvergehens auch § 12 Satz 2 SG erwähnt ist, der damit nicht im Zusammenhang steht. Als Verdachtsquelle wurde ausschließlich auf die vorerwähnte Stellungnahme des Oberleutnants CCCC vom 31. Juli 2018 abgestellt, die nicht über die (späteren) Anschuldigungspunkte 1-3 hinausging.
62
Aus dem Zusammenhang ergibt sich damit, dass jedenfalls der unter Anschuldigungspunkt 4 erhobene Vorwurf - Gleiches gilt für den Anschuldigungspunkt 6 -, der nichts mit vermeintlich rechtsextremen Postings zu tun hat und einen Sachverhalt betrifft, von dem Oberleutnant CCCC bei Erstellung seiner Stellungnahme keine Kenntnis hatte, nicht vom Umfang der angeordneten Beschlagnahme umfasst war/ist.
63
Die Gewinnung der Erkenntnisse aus dem Chatverlauf zum Verhalten des Soldaten am 6. April 2018 um 13:27 Uhr stellen somit einen „Zufallsfund“ (vgl. dazu § 108 Abs. 1 StPO) dar. Ein solcher Fund ist nur dann als Beweismittel verwertbar, wenn er durch eine neue, darauf bezogene Beschlagnahme im dafür vorgesehenen Verfahren (hier nach § 20 WDO) gesichert wird (vgl. für das Strafrecht: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen, Kommentar, 63. Aufl. 2020, § 108 StPO Rn. 7). Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hatte damals die Möglichkeit, einen auf den Zufallsfund bezogenen Beschlagnahmebeschluss zu erwirken. Davon machte sie keinen Gebrauch.
64
In Anlehnung an die Entscheidung des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2008 (2 WD 17.06) wird auch hier als Konsequenz des Verstoßes gegen den Anspruch auf ein faires rechtsstaatliches Disziplinarverfahren von einem Beweisverwertungsverbot ausgegangen (vgl. dort Rn. 33 am Ende). Während es dort im Kern um eine Durchsuchung und Beschlagnahme unter falscher Annahme einer Gefahr im Verzug i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WDO ging und es damit an einem rechtmäßigen Beschluss i.S.d. § 20 WDO mangelte, liegt hier nur ein derartiger Beschluss hinsichtlich eines anderen, im vorliegenden Fall nicht einschlägigen Anordnungsgegenstandes und damit ebenfalls kein rechtmäßiger Durchsuchungs- und Anordnungsbeschluss hinsichtlich des einschlägigen Vorwurfs vor. Für die Rechtsfolge kann es aber keinen wesentlichen Unterschied machen, ob insgesamt wegen fehlerhafter Annahme der Ausnahmevoraussetzungen des § 20 Abs. 2 Satz 1 WDO ein richterlicher Beschluss gänzlich unterblieb oder ob ein richterlicher Beschluss nur zu einem nicht einschlägigen Beschlagnahmegegenstand vorliegt. Beide Male fehlt es an einem wirksamen Beschlagnahmebeschluss i.S.d. § 20 WDO zum einschlägigen Thema.
65
Nähme man im vorliegenden Fall kein Beweisverwertungsverbot an, so könnte ein Disziplinarvorgesetzter - oder auch eine Wehrdisziplinaranwaltschaft - „ungestraft“ mithilfe eines „Türöffnungsbeschlagnahmebeschlusses“ zu einem übersichtlichen, zeitlich abgegrenzten Vorwurf „ins Blaue hinein“ einen weiteren, sich über Monate erstreckenden umfangreichen Chatverlauf - soweit noch darauf vorhanden - von einem Mobiltelefon sichern, diesen auslesen lassen und damit auch bislang nicht erhobene, andersartige disziplinare Vorwürfe beweisen, ohne den Richtervorbehalt des § 20 WDO zu beachten. Das wäre rechtsstaatlich nicht hinnehmbar, selbst wenn es - wie hier - nicht gezielt geschah.
66
Dies vor dem Hintergrund, dass nach einer - zulässigen - vorläufigen Beschlagnahme eine eigens darauf bezogene richterliche Beschlagnahmeanordnung beantragt und dem Verdacht zufällig aufgekommener weiterer Dienstpflichtverletzungen damit effektiv begegnet werden kann.
Anschuldigungspunkt 5:
Vorbemerkung:
67
Die Kammer hat hier, anders als der Verteidiger, nicht das vorerwähnte Beweisverwertungsverbot angenommen. Dies deshalb, weil sich dieser Vorwurf - zumindest ansatzweise - thematisch in die Linie der Anschuldigungspunkte 1-3 einordnen lässt und damit inhaltlich vom erlassenen Beschlagnahmebeschluss vom 21. September 2018 umfasst angesehen werden kann. Daran ändert auch der dort wiedergegebene Zeitraum von Dezember 2016 bis Juli 2017 nichts, da durch die Verwendung des Wortes „zumindest“ keine starre Eingrenzung auf diesen Zeitraum erfolgte und späteres einschlägiges Verhalten damit noch umfasst sein konnte. Letzteres zumindest dann, wenn - wie hier - die vorgeworfene Tat vor Erlass des Beschlusses lag. Das Argument des Verteidigers, dass der Beschlagnahmebeschluss nur auf die WhatsApp-Gruppe „Ein Käfig voller Helden“ bezogen und hier die vorgeworfene Tat in der anderen WhatsApp-Gruppe („Malli Galli Drecksauparty“) angesiedelt war, ist zwar grundsätzlich beachtlich, weil der Beschlagnahmebeschluss tatsächlich derart eingegrenzt war. Es wird trotzdem als noch vertretbar angesehen, darüber hinauszugehen, weil es dabei nicht um eine klassische Ortsangabe geht, die eine Tat prozessual einzugrenzen vermag. Denn eine WhatsApp-Gruppe stellt nur einen virtuellen „sichtbaren Rahmen“ dar, in dem Kommunikation abgebildet wird, ohne dass sich die Teilnehmer räumlich darin befänden. Es handelt sich somit um keinen „Ort der Begehung“ (i.S.d. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO - Inhalt der Anklageschrift) oder „Ort des Dienstvergehens“ (i.S.d. § 37 Abs. 3 Satz 2 WDO bzw. § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO ohne ausdrückliche Bezugnahme) im eigentlichen Sinn, womit eine rechtlich maßgebende räumliche Eingrenzung der vorgeworfenen Tat entfällt und eine Beschlagnahme, welche den Chatverkehr einer vom Beschlagnahmebeschluss abweichenden WhatsApp-Gruppe zum Gegenstand hat, als noch rechtmäßig angesehen werden kann.
68
Der Soldat schrieb am 1. Mai 2018 um 10:26 Uhr als „…“ (Vorname des Soldaten) in der WhatsApp-Gruppe „Malli Galli Drecksauparty“ im Austausch mit Oberleutnant ÄÄÄ von einem nicht mehr feststellbaren Ort den angeschuldigten Text. Unmittelbar danach folgten zwei aus dem ausgedruckten Chatverkehr nicht erkennbare Emojis. Dem ging unmittelbar folgende Bemerkung des Oberleutnants ÄÄÄ unter Beifügung eines aus dem ausgedruckten Chatverkehr nicht abgedruckten Bildes - nach Erinnerung des Soldaten war ein Feuer abgebildet - voraus: „Wir haben gestern Feuer gemacht.“ Zwei aus dem ausgedruckten Chatverkehr nicht erkennbare Emojis folgten. Die „Frage“ des Soldaten bejahte Oberleutnant ÄÄÄ unter Hinzufügung eines aus dem ausgedruckten Chatverkehr nicht erkennbaren Emojis und schrieb anschließend: „aber das wird unsere nächste mottoparty. jeder leiht sich ein bisschen entartete Literatur aus der Bibliothek und dann machen wir nen Kulturabend.“ Es folgte ein aus dem ausgedruckten Chatverkehr nicht erkennbares Emoji.
69
Der Soldat ließ sich in der Hauptverhandlung im Kern dahingehend ein, dass er mit seiner Bemerkung über die Bücherverbrennung auf ein zurückliegendes privates Gespräch mit Oberleutnant ÄÄÄ abgestellt habe, das von einer Bücherverbrennung ohne Bezug zum Nationalsozialismus gehandelt habe. Es sei bloß ein Scherz mit einem für ihn neutralen Begriff gewesen.
Anschuldigungspunkt 6:
70
Die vorgeworfene Tat konnte nicht in rechtlich zulässiger Weise bewiesen werden.
71
Zwar ist aufgrund eines Ausdrucks eines Chatverkehrs betreffend die WhatsAppGruppe „Malli Galli Drecksauparty“ bekannt, dass der Soldat am 3. Mai 2018 um 18:09 Uhr als „…“ (Vorname des Soldaten) von einem nicht mehr feststellbaren Ort aus den im Anschuldigungssatz enthaltenen Text schrieb. Auch der Kontext ergibt sich daraus.
72
Dieser Urkundenbeweis darf aber nicht zu Lasten des Soldaten verwertet werden, da insoweit aus den gleichen Gründen wie oben zu Anschuldigungspunkt 4 ein Beweisverwertungsverbot existiert.
73
Weitere Beweismittel liegen nicht vor; die möglicherweise beweiskräftige Aussage des - damals bei der Beschlagnahme und Auswertung des (privaten) Mobiltelefons des Soldaten im Auftrag der Wehrdisziplinaranwaltschaft anwesenden - Zeugen Oberstleutnant WWW, dass sich der Soldat ihm gegenüber für eine Bemerkung - zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach - entschuldigt habe, hat unberücksichtigt zu bleiben, da sie jedenfalls vom Beweisverwertungsverbot mitumfasst ist. Abgesehen davon, dass Oberstleutnant WWW auch als Disziplinarvorgesetzter des Soldaten nicht berechtigt war, die Beweisergebnisse inhaltlich zu sichten und insbesondere von der angeschuldigten Bemerkung Kenntnis zu nehmen - allein die Wehrdisziplinaranwaltschaft führte disziplinare Vorermittlungen, nicht auch der nächste Disziplinarvorgesetzte in einem einfachen Disziplinarverfahren, so dass er nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WDO nicht datenschutzrechtlich berechtigt war -, stellte es eine Aushöhlung des angenommenen Beweisverwertungsverbots dar, wenn eine Zeugenaussage beweiskräftig wäre, die allein erst dadurch möglich wurde, dass der Zeuge (Oberstleutnant WWW) die entscheidende Vorkenntnis durch Einblick in den ausgewerteten, vom oben angeführten Beschlagnahmebeschluss nicht umfassten Chatverlauf nahm. Wäre bei der Beschlagnahme rechtmäßig gehandelt worden, hätte dieser Zeuge diesbezüglich niemals Kenntnis erhalten. Der Soldat selbst erwähnte den angeschuldigten Ausspruch gegenüber dem Zeugen Oberstleutnant WWW bei seiner Quasi-Entschuldigung nicht. Der alleinige Anknüpfungspunkt bleibt das zu Unrecht beschlagnahmte und von der Wehrdisziplinaranwaltschaft als Beweismittel behandelte Chatprotokoll. Unrecht von Gewicht darf aber nicht beweisrechtlich perpetuiert werden.
IV.
74
Die verbleibenden Anschuldigungspunkte 1, 2 und 5 begründen kein Dienstvergehen i.S.d. § 23 Abs. 1 SG, so dass der Soldat freizusprechen war (dazu 3.). Verfahrenshindernisse (dazu 1.) oder wesentliche formelle Mängel der Anschuldigungsschrift (dazu 2.), die einer Sachentscheidung entgegengestanden hätten, liegen nicht vor.
75
1. Im Zeitpunkt der Hauptverhandlung ist kein Verfahrenshindernis in Form einer unwirksamen Einleitungsverfügung (mehr) anzunehmen.
76
Zwar war die Einleitungsverfügung vom 21. Dezember 2018 zunächst wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs des Soldaten unwirksam, wie im Beschluss der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 27. Juni 2019 zum Az S 5 GL 04/19 festgestellt wurde. Allerdings wurde dieser erhebliche Verfahrensmangel vor Anschuldigung dadurch geheilt, dass der Kommandeur …. Panzerdivision am 12. Juli 2019 seine Einleitungsentscheidung unter Würdigung des Verteidigervorbringens vom 21. Dezember 2018 aufrechterhielt.
77
2. Die Anschuldigungsschrift enthält keine wesentlichen Mängel i.S.d. § 99 Abs. 3 WDO, die zu einer nicht wirksamen Anschuldigung geführt haben könnten.
78
Zwar ist sie in den hier noch entscheidungserheblichen Anschuldigungspunkten 1, 2 und 5 insoweit defizitär, als sie jeweils keinen Begehungsort der Dienstpflichtverletzung (im Folgenden: Tatort) angeführt hat (vgl. „von einem nicht mehr näher feststellbaren Ort“ im Anschuldigungssatz, ohne Ergänzung tatsächlicher Art im wesentlichen Ermittlungsergebnis).
79
Dies stellt grundsätzlich einen erheblichen Mangel dar, weil dadurch der Tatvorwurf nicht ausreichend konkretisiert ist. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
80
§ 99 Abs. 1 Satz 2 WDO führt zwar nur an, dass die Anschuldigungsschrift Tatsachen, in denen ein Dienstvergehen erblickt wird, und die Beweismittel geordnet darstellen soll; sie schreibt nicht ausdrücklich eine Tatortangabe vor. Im Gegensatz dazu schreibt § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO für das Strafverfahren unter anderem vor, dass die Anklageschrift den Ort der Begehung der vorgeworfenen Tat zu bezeichnen hat. § 52 Abs. 1 Satz 2 des Bundesdisziplinargesetzes hingegen enthält wiederum nur die Forderung, dass die Klageschrift die Tatsachen, in denen ein Dienstvergehen gesehen wird, und die anderen Tatsachen und Beweismittel, die für die Entscheidung bedeutsam sind, geordnet darzustellen hat. Was die einfache Disziplinarmaßnahme betrifft, muss diese nach § 37 Abs. 3 Satz 2 WDO auch den Ort des Dienstvergehens enthalten; für den Fall eines Verstoßes sieht § 46 Abs. 2 Nr. 8 2. Alternative WDO zwingend die Aufhebung vor.
81
Das Erfordernis einer Tatortangabe auch in einer Anschuldigungsschrift ist beispielsweise den folgenden höchstrichterlichen Entscheidungen zu dieser Schrift oder ähnlich wichtigen behördlichen Schriften zu entnehmen, die damit eine Art Mindeststandard aufstellen:
82
Nach dem 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 11. September 2014 - 2 WD 11.13 - Rn. 28) muss eine Anschuldigungsschrift hinsichtlich des Schuldvorwurfs hinreichend bestimmt sein und die Sachverhaltselemente, aus denen sich die vorgeworfene Pflichtverletzung ergibt, so deutlich und klar beschreiben, dass sich der Soldat für seine Verteidigung darauf einstellen und das Gericht den Gegenstand seiner Urteilsfindung eindeutig eingrenzen kann. Zu den konstitutiven Sachverhaltselementen gehört aber gerade der Tatort.
83
Der 2. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts fordert für das Beamtendisziplinarrecht, dass Ort und Zeit der einzelnen vorgeworfenen Handlungen möglichst genau angegeben werden müssen (Beschluss vom 17. Juli 2013 - 2 B 27.12 - Rn. 14).
84
Auch der Bundesgerichtshof (Urteil vom 11. Januar 1994 - 5 StR 682/93 - Rn. 6 juris) verlangt, dass die Anklageschrift die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen sind, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist.
85
Dahinter steht zum einen der Gedanke, dass sich der Betroffene - z.B. ein angeschuldigter Soldat - auch insoweit für seine Verteidigung darauf einstellen können muss und das Gericht den Gegenstand seiner Urteilsfindung eindeutig eingrenzen kann (Informations- und Eingrenzungsfunktion). Zum anderen ist im Hinblick auf die spätere Rechtskraft der Entscheidung notwendig, dass sich der verhandelte Lebenssachverhalt im Gegensatz zu potentiellen anderen genau abgrenzen lässt.
86
Fehlen aber wichtige Angaben wie der Tatort, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Identität des in Rede stehenden geschichtlichen Vorgangs auf andere Weise erkennbar und klargestellt ist, welche bestimmte Tat gemeint wird (Bundesgerichtshof, a.a.O.). Aus der jeweiligen Schrift - hier der Anschuldigungsschrift - muss bei verständiger Lektüre eindeutig hervorgehen, welche konkreten Handlungen dem Betroffenen als Dienstvergehen zur Last gelegt werden (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. Juli 2013 - 2 B 27.12 - Rn. 14).
87
Im vorliegenden Fall ist aufgrund des jeweils nicht alltäglichen, vielmehr eher einmaligen Vorwurfs und der zumindest möglichen quasiräumlichen Zuordnung zu bestimmten WhatsApp-Gruppen ausnahmsweise auch ohne Tatortangabe der jeweilige angeschuldigte Lebenssachverhalt so klar und abgegrenzt, dass keine Missverständnisse über dessen Grenzen entstehen können. Der Soldat hatte tatsächlich auch keine Probleme mit der Einordnung der Vorwürfe.
88
Der Mangel der Anschuldigungsschrift war damit nicht durchgreifend. Es kann daher die Frage unbeantwortet bleiben, ob die wohl häufige Schwierigkeit der Bestimmung des Tatorts bei Deliktgruppen im Zusammenhang mit dem Internet Abstriche vom grundsätzlichen Anforderungsprofil einer Sachdarstellung im Anschuldigungssatz zulässt.
89
3. Bezüglich der Anschuldigungspunkte 1, 2 und 5 liegen keine schuldhaften Dienstpflichtverletzungen und damit kein Dienstvergehen nach § 23 Abs. 1 SG vor.
Zu Anschuldigungspunkt 1:
90
Das außerdienstliche Posting des Schildkrötenbildes mit dem Text „My name ist Ionesome George. I was born in 1912 and I am the last of my kind. It is up to me to preserve the values and morals of may time. HEIL FUCKING HITLER“ in der - wegen des Erfordernisses der deutschen Gerichtssprache gemäß § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes einzig rechtlich relevanten (Näheres dazu Beschluss der 5. Kammer des Truppendienstgerichts vom 27. Juni 2019 zum Az S 5 GL 04/19) - deutschen Übersetzung der Wehrdisziplinaranwaltschaft im Anschuldigungssatz („Ich heiße Lonesome [einsamer] George. Ich wurde 1912 geboren und bin der Letzte meiner Art. Ich trage die Verantwortung, die Werte und Sitten meiner Zeit zu bewahren. Heil, fucking Hitler!“) hat keine disziplinare Relevanz.
91
Weder die politische Treuepflicht (§ 8 SG) noch die Pflicht zur Zurückhaltung (§ 10 Abs. 6 SG) oder die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative SG alter Fassung) sind einschlägig. Andere Disziplinartatbestände scheiden von vornherein aus, insbesondere § 7 1. Alternative SG bezüglich möglichen strafrechtlichen Verhaltens, weil bei außerdienstlichem Verhalten außerhalb dienstlicher Unterkünfte und Anlagen - wie hier - § 17 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative SG alter Fassung insoweit eine Sperrwirkung entfaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Januar 2013 - 2 WD 5.13 - Leitsatz 2, Rn. 53). Ein sonstiger ausreichender Dienstbezug fehlt.
92
Die politische Treuepflicht ist hier mangels eines eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) gerichteten Inhalts nicht berührt.
93
Nach § 8 SG hat ein Soldat die FDGO im Sinne des Grundgesetzes anzuerkennen und durch sein gesamtes Verhalten für ihre Erhaltung einzutreten. Der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts hat jüngst dazu insbesondere ausgeführt (Urteil vom 18. Juni 2020 - 2 WD 17.19 - Rn. 36 f.): „Der Begriff ‚freiheitliche demokratische Grundordnung‘ in § 8 SG ist identisch mit dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, wie er bezogen auf Art. 21 Abs. 2 GG konturiert worden ist. Daraus folgt unter Zugrundelegung der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 21 GG eine Konzentration auf wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind (BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 - 2 BvB 1/13 - BVerfGE 145, 20 Rn. 535). Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffsinhalts ist danach die Würde des Menschen und das Demokratieprinzip, für das die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller am politischen Willensbildungsprozess sowie die Rückbindung der Ausübung von Staatsgewalt an das Volk maßgeblich ist. Schließlich erfasst der Begriff den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.
94
Mit der Pflicht aus § 8 SG ist folglich ein Verhalten unvereinbar, das objektiv geeignet oder gar darauf angelegt ist, die Ziele des NS-Regimes zu verharmlosen sowie Kennzeichen, Symbole oder sonstige Bestandteile der NS-Ideologie (wieder) gesellschaftsfähig zu machen. (…). Der Treuepflicht zum Grundgesetz widersprechen somit alle Bestrebungen, die objektiv oder subjektiv darauf angelegt sind, im Sinne der ‚nationalsozialistischen Sache‘ zu wirken. Dementsprechend liegt eine Verletzung der Pflicht nach § 8 SG dann vor, wenn ein Soldat Propagandamaterial einer NSDAP-Auslandsorganisation verbreitet, das ‚Horst-Wessel-Lied‘ singt, Massenmorde an Menschen jüdischen Glaubens während des NS-Regimes leugnet, vor der NS-Hakenkreuzfahne oder anderen NS-Symbolen posiert, ‚Sieg Heil‘ ruft, den ‚Hitler-Gruß‘ verwendet oder wenn er Ausdrücke verwendet, die auf Sympathien zum NS-Regime und zur WaffenSS schließen lassen (zusammenfassend: BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2008 - 2 WD 1.08 - BVerwGE 132, 179 Rn. 54).“
95
Eine bloße „Anscheinserweckung“ von derartigen oder ähnlichen Sympathiebekundungen ohne objektive Eignung an sich, wie sie ergänzend angeschuldigt ist, fällt von vornherein nicht unter § 8 SG und könnte es mangels ausdrücklicher gesetzlicher Normierung (oder zumindest eindeutiger Konkretisierung durch die Rechtsprechung) wegen des auch im Soldatendisziplinarrecht geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG entsprechend), der auch eine zu Lasten des „Täters“ gehende Analogie verbietet, nicht.
96
Nach den angeführten Maßstäben hat der Soldat bereits objektiv nicht gegen § 8 SG verstoßen. Mit seinem Posting hat er insbesondere weder die Inhalte der FDGO, die sich aus Artt. 1 und 20 GG ergeben, bekämpft oder bekämpfen wollen noch das nationalsozialistische Herrschaftsregime in irgendeiner Weise gutgeheißen oder dessen Verbrechen verharmlost. Das ergibt sich aus einer Bewertung des Inhalts des Postings.
97
Da es sich bei diesem Vorwurf - wegen des weiten Meinungsbegriffs des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG - im Zweifel um eine Meinungskundgabe handelt, ist am Anfang jeder Prüfung eines in Betracht kommenden Pflichtentatbestandes der objektive Bedeutungsgehalt der Äußerung durch Interpretation zu ermitteln, um der Gewährleistung der grundrechtlichen Meinungsfreiheit Rechnung zu tragen und um festzustellen, ob danach überhaupt von einem beanstandungswürdigen Inhalt zulässigerweise ausgegangen werden darf. So ist nach dem Bundesverfassungsgericht (vgl. Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476/91, 1 BvR 102/92, 1 BvR 221/92 - Rn. 124 juris) Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (z.B. Beschluss vom 1. August 2001 - 1 BvR 1906/97 - Rn. 16 juris). Dem ermittelten Bedeutungsgehalt darf danach keine Bedeutung beigemessen werden, den dieser objektiv nicht hat. Im Falle einer - häufig vorliegenden - Mehrdeutigkeit darf nicht von einer zur Verurteilung führenden Deutung ausgegangen werden, soweit nicht andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen wurden. Dabei ist nicht darauf abzustellen, wie der konkrete Empfänger, sondern wie ein verständiger Dritter unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles die Äußerung verstehen musste. Es sind die gesamten Begleitumstände, unter denen die Äußerung getätigt wurde, zu berücksichtigen. Sie dürfen allerdings nur dann zu Lasten des Betroffenen gewertet werden, wenn sie ihm zurechenbar sind (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 19. April 1990 - 1 BvR 42/86 - Rn. 28 ff. juris).
98
Bei der abgebildeten Schildkröte handelt es sich nach Recherchen im Internet (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 WDB 2.19 - Rn. 20 zum Beschwerdeverfahren im Nachgang zu § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO betreffend den Soldaten) mutmaßlich um eine „Lonesome George“ genannte Riesenschildkröte, die 1971 auf den Galápagos-Inseln entdeckt wurde und 2012 im Alter von etwa 100 Jahren als vermutlich letztes Individuum ihrer Unterart starb. Ihr wurde der Text in den Mund gelegt, dass es an ihr liege, die Werte und Moralvorstellungen ihrer Zeit (ca. von 1912 bis 2012) zu bewahren, mit dem Zusatz „HEIL FUCKING HITLER“. Die große Zeitspanne lässt dabei nicht erkennen, worauf genau die „Bewahrungsverantwortung“ gerichtet sein soll. Eine Eingrenzung auf die Zeit des Nationalsozialismus kann dem Bild jedenfalls nicht entnommen werden. Die im letzten Bildteil stehenden, vorgenannten Worte knüpfen an die aus dem sog. Dritten Reich bekannte Begrüßungsformel „Heil Hitler“ an und verfremden diese dadurch, dass das - offensichtlich in diese „deutsche Formel“ nicht hineinpassende - englische Wort „fucking“ dazwischengesetzt wurde, das als Adjektiv umgangssprachlich in erster Linie mit „verdammt“ übersetzt wird (vgl. Internetausgabe des englischdeutschen PONS-Wörterbuches unter https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/englischdeutsch/fucking).
99
Was damit genau ausgesagt werden soll, erscheint nicht eindeutig.
100
So kann aufgrund der Satzstellung und des vorgenannten Bedeutungsgehalts angenommen werden, dass sich „fucking“ auf Adolf Hitler beziehen soll und damit eine negative, abwertende Zuschreibung enthält im Sinne von „(Heil) verdammter Hitler“. Ob daraus auch eine Adolf Hitler verehrende Bildaussage aufgrund einer Verwendung des Wortes „fucking“ in einem verstärkenden, positiven Sinn herausgelesen werden kann, erscheint fraglich; für die Annahme dieser nachrangigen Bedeutungsvariante des Wortes „fucking“ liegen keine weiteren, eindeutigen Anzeichen vor.
101
Die von der Wehrdisziplinaranwaltschaft in ihrer Anschuldigungsschrift vertretene Deutung, dass - vor dem Hintergrund einer Verwendung des englischsprachigen Vulgärausdrucks „fucking“ in verschiedenen Bedeutungen und seines Sinngehalts einer nachdrücklichen Betonung bei Verwendung als Adjektiv - hier insofern nicht auf den Namen „Hitler“ abgestellt werde, sondern auf das durch Adolf Hitler verkörperte NSUnrechtsregime, ist mangels näherer Erläuterung nicht richtig nachvollziehbar. Auch die vom Vertreter der Wehrdisziplinaranwaltschaft im Schlussvortrag vorgenommene Bewertung, dass das Wort „fucking“ im Schildkrötenbild bestätigend gebraucht worden sei und nicht in einem verfluchenden Sinn und dass es damit (am Schluss) scherzhaft zu der Pointe „Heil Hitler“ gekommen sei, ist eine mögliche, sich aber nicht aufdrängende und keinesfalls zwingende Auslegungsvariante.
102
Der Soldat verstand das gepostete Bild wiederum in einem anderen, oben beim Sachverhalt genannten Sinn (kurz: nur scheinbare Werteverhaftung von alten Menschen).
103
Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass es jedenfalls keine sich aufdrängende, eindeutig disziplinar relevante Bedeutungsvariante gibt (so auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner Kurzbewertung zum selben Bild im vorgenannten Beschluss vom 10. Oktober 2019, a.a.O., Rn. 20). Nach der eingangs erwähnten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es in Fällen, in denen - wie hier - eine zugunsten des Täters anzunehmende mögliche unkritische Bedeutungsvariante nicht mit guten Gründen ausgeschlossen werden kann, nicht zulässig, ihm eine ausschließlich ihn disziplinar belastende Variante vorzuhalten.
104
Aus diesem Grund ist auch eine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative SG alter Fassung) zu verneinen.
105
Eine Verletzung des § 10 Abs. 6 SG schließlich scheidet bereits deshalb aus, weil es an einem (ungeschriebenen) Tatbestandsmerkmal der zu prüfenden Norm fehlt. Das aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift abgeleitete Erfordernis, dass die in Rede stehende Äußerung in die Öffentlichkeit dringen oder Untergebenen zu Gehör kommen kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2008 - 2 WD 1.08 - Rn. 34), liegt hier offensichtlich nicht vor.
106
Die Äußerung fiel in einer geschlossenen, mit weniger als 10 Mitgliedern überschaubaren WhatsApp-Gruppe („Ein Käfig voller Helden“) von Offizieren, aus der grundsätzlich keine Informationen in die Öffentlichkeit dringen oder Untergebenen zu Gehör kommen. Die nur theoretische Möglichkeit, dass die Äußerung aus besonderen Gründen - wie im Fall einer Beschlagnahme des Mobiltelefons mit anschließender Auswertung des Chatverkehrs oder durch vertrauensbrechende Weitergabe eines Inhalts, der offenkundig nicht „weitergabegedacht“ war, von Seiten eines Chatteilnehmers an Dritte - dem im vorigen Absatz genannten Kreis bekannt wird, hat außer Betracht zu bleiben. Eine mittelbare Bekanntgabe reicht nämlich nicht aus (so auch BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1996 - 2 WD 22.96: „…erfüllt eine solche mittelbare Kenntnisnahme nicht die Voraussetzungen des § 10 Abs. 6 SG. Andernfalls läge es in der Hand eines Betroffenen, durch die Weitergabe einer Äußerung eine Pflichtverletzung nach § 10 Abs. 6 SG herbeizuführen. Ebensowenig sind die Voraussetzungen des § 10 Abs. 6 SG erfüllt, wenn die verbale Entgleisung des Soldaten im Rahmen des disziplinargerichtlichen Verfahrens Untergebenen bekannt geworden ist.“; ebenso Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, Kommentar, 10. Auflage 2018, § 10 Rn. 62). Durch eine die mittelbare Kenntnisnahme einschließende Auslegung würde das einschränkende Erfordernis faktisch obsolet. Außerdem stände einer solchen den Wortlaut (der Ergänzung durch die Rechtsprechung) übersteigenden Auslegung zulasten des „Täters“ das auch im Disziplinarrecht anzuwendende Analogieverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG entgegen. Der Soldat durfte hier davon ausgehen, dass der einschlägige Teil des Chatverkehrs nicht ohne seine Erlaubnis an Dritte weitergegeben wird. Er unterlag damit nicht dem Pflichteninhalt des § 10 Abs. 6 SG.
Zu Anschuldigungspunkt 2:
107
Das Posting des unter diesem Anschuldigungspunkt vorgeworfenen vermeintlichen Schreibens eines Fußballfanclubs ist disziplinarrechtlich nicht relevant.
108
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Vorwurf nicht bereits deshalb zu verneinen ist, weil die Behauptung (und damit möglicherweise rechtlich erhebliche Eingrenzung) im Anschuldigungssatz, dass es sich um ein Foto eines Schreibens eines Fußballclubs gehandelt habe, nicht bewiesen werden konnte.
109
Jedenfalls ist weder die politische Treuepflicht (§ 8 SG), die Pflicht zur Zurückhaltung (§ 10 Abs. 6 SG) noch die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative SG alter Fassung) verletzt. Andere Disziplinartatbestände kommen von vornherein nicht in Betracht, insbesondere § 7 1. Alternative SG bezüglich möglichen strafrechtlichen Verhaltens, weil bei außerdienstlichem Verhalten außerhalb dienstlicher Unterkünfte und Anlagen - wie hier - § 17 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative SG alter Fassung insoweit eine Sperrwirkung entfaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Januar 2013 - 2 WD 5.13 - Leitsatz 2, Rn. 53). Ein sonstiger ausreichender Dienstbezug fehlt.
110
Wie bereits oben erwähnt, ist bei einer Meinungsäußerung - wie hier - nach der maßgebenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst der Aussagegehalt zu bestimmen und im Falle einer Mehrdeutigkeit nur dann die für den Täter belastende Variante zu wählen, wenn andere in Betracht kommende, ihn nicht belastende Deutungsvarianten mit guten Gründen ausgeschlossen werden können.
111
§ 8 SG ist - entgegen der Annahme in der Anschuldigungsschrift - bereits deshalb nicht einschlägig, da es hier recht offensichtlich weder um die FDGO noch um eine den Nationalsozialismus verherrlichende oder seine Schrecken verharmlosende Aussage geht.
112
Allein die Formulierung im als sicher anzunehmenden Textausschnitt - der gesamte Textinhalt ist aus den oben genannten Gründen unklar geblieben - über die Juden, nämlich dass sie nicht verfolgt werden dürften, hat keinen einschlägigen Bezug. Denn diese aufgrund des Witzecharakters der Fußballmannschaftsaufstellung lustig gemeinte Aussage ist inhaltlich unkritisch, weil sie eine Selbstverständlichkeit für viele (heutige) Deutsche ausdrückt und erkennbar nicht verletzend gemeint ist. Sie knüpft lediglich mittelbar (vom Verständnis her) an die Verbrechen an den Juden während des Nationalsozialismus an, ohne diese in irgendeiner Weise zu billigen oder zu verharmlosen.
113
Darauf, ob allein durch die vorgenannte Erwähnung das Anstandsgefühl eines Menschen berührt ist, kommt es rechtlich nicht an. Jenes ist weder Maßstab eines rechtlich auszulegenden Disziplinartatbestands noch erheblich angesichts der grundrechtlich verbürgten und auch für Soldaten geltenden (vgl. § 6 Satz 1 SG) Meinungsfreiheit.
114
§ 10 Abs. 6 SG scheidet aus den zu Anschuldigungspunkt 1 genannten Gründen aus.
115
§ 17 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative SG alter Fassung ist ebenfalls nicht einschlägig, weder in Ausprägung eines Strafrechtsverstoßes noch in seiner originären Variante der potentiellen Ansehensschädigung.
116
Für Ersteres fehlt es an einer strafrechtlichen Relevanz. Der einzig in Betracht kommende Straftatbestand der Beleidigung (§ 185 1. Alternative StGB) ist bereits deshalb nicht verletzt, da hier keine tauglichen Tatobjekte vorliegen. Es geht weder um konkrete Personen noch um mehrere Einzelpersonen als Angehörige einer Personenmehrheit (sog. Kollektivbeleidigung). Nicht ausreichend ist insoweit, wenn nicht hinreichend konkretisierte Personengruppen wie „die Homosexuellen“ oder „die Juden“ betroffen sind (vgl. Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, Kommentar, 67. Aufl. 2020, § 185 Rn. 11). Hier ging es aber gerade um nicht individualisierte Personengruppen (Juden, Chinesen, „Neger“, „Schwule“). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die genannte Zahl der jeweils betroffenen Gruppen wegen des Bezugs zu einer Fußballmannschaft einstellig ist, da es inhaltlich bei einer Abstraktheit bleibt und keine namentlich auszumachenden Personen angesprochen sind.
117
Die zu prüfende Norm ist auch nicht in ihrem ursprünglichen Pflichtengehalt, in Form der potentiellen Ansehensschädigung, berührt - eine Verletzung des Ansehens der Bundeswehr als weitere Alternative (§ 17 Abs. 2 Satz 2 1. Alternative SG alter Fassung) kommt bereits aufgrund des Dienstgrades des Soldaten nicht in Betracht.
118
Das vorgeworfene Verhalten ist nicht geeignet, das dienstliche Ansehen des Soldaten zu beeinträchtigen. Es handelt sich nämlich nur um das Posten eines Witzes innerhalb einer geschlossenen Chatgruppe unter jungen Offizieren, ohne dass diesem Witz bei verständiger Würdigung Schmähcharakter oder eine sonstige gewichtige negative Bedeutung zukommt. Auf die oben genannten Auslegungskriterien wird verwiesen.
119
Der Rahmen des geposteten Schreibens und damit die Gesamtumstände ließen sich wegen der Nichtlesbarkeit des geposteten Schreibens nicht mehr aufklären, so dass der für eine rechtliche Bewertung wichtige Kontext im Unklaren bleibt. Der vom Soldaten eingeräumte vorgeworfene, jedoch insgesamt verkürzte Inhalt des Schreibens sowie gesicherte Umstände rund um das Posting (Auffinden des Schreibens bei einer Partyraumausstattung auf dem Dachboden des Hauses der Großeltern des Soldaten; Zusatzbemerkung des Soldaten unter das gepostete Bild: „Was man alles so auf dem Dachboden findet“; Erwähnung des Wortes „TENGELMANN“ im Schreiben; Kursieren von ähnlichen Mannschaftsaufstellungen im Internet, meist mit einer älteren Nonne im Tor) bzw. mögliche Umstände (wohl Bezugnahme im Schreiben auf die Fußballmannschaft Eintracht Braunschweig Anfang 1980; Firma Tengelmann als vermeintlicher Urheber) lassen eine Bewertung aber noch im ausreichenden Maße zulässig erscheinen; Unklarheiten dürfen dann aber nicht zulasten des Soldaten gehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2006 - 2 WD 26.05 - Rn. 62: „Der Inhalt einer Meinungsäußerung ist nämlich unter Heranziehung des gesamten Kontextes der Erklärung, in dem sie erfolgt, zu ermitteln (…). Ist das nicht möglich, dürfen daraus keine Nachteile für die angeschuldigte Soldatin erwachsen.“).
120
Das offensichtlich als Witz zu verstehende Schreiben ist inhaltlich dadurch gekennzeichnet, dass er unter scheinbaren (geringfügigen) Tabubrüchen eine wirkungsvolle Aufstellung einer Fußballmannschaft beschreibt. Dabei werden zum einen Angehörige von Menschengruppen, die ehemals verfolgt und ausgegrenzt wurden (Juden, Homosexuelle), und solche, die sich durch ihre Hautfarbe von einer „weißen“ Fußballelf unterscheiden (Chinesen, „Neger“), mit Eigenschaften von vermeintlich fußballerischer Relevanz zusammengebracht. Der Lacheffekt ist darauf gegründet, dass es sich um eine unvermutete, überraschende Zusammenstellung handelt, die vordergründig stimmig erscheint (Erreichen eines druckvollen, farbigen, angriffseffektiven Fußballspiels), aber hintergründig auf einen vermeintlichen Tabubruch abzielt - Erwähnung von Menschengruppen, über die man nach den ungeschriebenen Forderungen der politischen Korrektheit keine Witze machen sollte und die in den Medien - abgesehen von den Chinesen - regelmäßig als besonders „schutzbedürftig“ behandelt werden. Dabei wird bei objektiver Betrachtung keine dieser Menschengruppen diffamiert oder schlecht geredet - darauf kommt es im Sinne der Witzelogik gar nicht an -, vielmehr witzetypisch nur mit einem stereotypisch zutreffenden, wenn auch die Ganzheit der jeweiligen Personentypik vernachlässigenden, fokussierten „Etikett“ (z.B. Analbezogenheit der männlichen Homosexuellen) versehen. Der Witz will wohl durch seine ungewöhnliche, vordergründig stimmige Idealaufstellung überraschen und ein zustimmendes Lächeln erheischen und womöglich als „versteckte Botschaft“ aufmerksam machen auf Dinge, die man in der öffentlichen Meinung in Deutschland kaum frei äußern kann, ohne dafür kritisiert zu werden (Stichwort: faktische Macht der belehren wollenden politischen Korrektheit).
121
Diesem Witz Rassismus, Diskriminierung oder ein Sich-Lustig-Machen über darin thematisierte Menschengruppen zuzuschreiben, erschiene vor dem Hintergrund der beschriebenen Zielrichtung des Witzes schwer nachvollziehbar und eher auslegungsund lebensfern. Eine derartige Betrachtungsweise verkennte auch die Üblichkeit von Witzen im sozialen Miteinander und den Umstand, dass die Witzekultur gerade davon lebt, auf Stereotype (wie Eigenschaften oder Verhalten von Frauen, insbesondere Blondinen, von Preußen, Bayern, Schwaben, Ostfriesen oder Polen, von Ärzten oder Juristen, etc.) abzustellen, die per se - aus einer Gesamtbetrachtung heraus - wahrheitsverkürzt und damit „ungerecht“ oder sogar verletzend sind. Gerade dadurch wird ein Lachen oder eine gewollte Provokation hervorgerufen, ohne dass bestimmte Individuen gemeint sind. Eine solche typische Anknüpfung ohne strafbaren Inhalt mit übertriebenen, zudem rechtlich unpräzisen Zuschreibungen wie rassistisch, fremdenfeindlich, judenfeindlich oder sexuell diskriminierend zu bezeichnen und damit den Inhalt als disziplinarrechtlich relevant hinzustellen, offenbart eine nicht mehr sachverhaltsangemessene Bewertung und hieße, nur noch politisch korrekte Witze dulden zu wollen und damit faktisch eine Meinungszensur zu etablieren. Das wäre mit der Natur eines freiheitlichen Staates, in dem die Meinungsfreiheit als Grundrecht einen hohen Stellenwert genießt und geradezu eine Demokratiesäule darstellt, jedoch nicht vereinbar. Auf diese Weise würde unter den Soldaten ein Klima der Angst und Repression geschaffen, das einem demokratischen Rechtsstaat nicht würdig wäre. Außerdem müsste die Wehrdisziplinaranwaltschaft dann bei jedem wahrgenommenen Witz, in dem irgendeine Gruppe „auf’s Korn genommen wird“, aus Gleichbehandlungsgesichtspunkten tätig werden, da die oben angeführten Menschengruppen rechtlich keine „Vorzugsbehandlung“ genießen (argumentum ad absurdum).
122
Das Wehrdisziplinarrecht hat zwar Erziehungscharakter ab, erfüllt aber nicht den Zweck, Soldaten auf eine politisch korrekte Linie zu bringen. Das wäre nicht mit dem Leitbild der sog. Inneren Führung in Einklang zu bringen, das auf einen selbstbewussten, mündigen Staatsbürger in Uniform abzielt, der seine Meinung - innerhalb der im Lichte der einschlägigen Grundrechte eher restriktiv auszulegenden Grenzen des Soldatengesetzes - sagen darf, auch wenn sie kritisch ist und vielleicht nicht der militärischen oder politischen Führung gefällt.
123
Eine potentielle Ansehensschädigung liegt auch nicht darin, dass das gepostete Schreiben (vermutlich) die Wortbezeichnung „Neger“ aufweist.
124
Aus den oben genannten Gründen liegt darin keine Beleidigung im strafrechtlichen Sinn (vgl. auch den maßgeblichen StGB-Kommentar Fischer, a.a.O., § 185 Rn. 12b: „Verstöße gegen die ‚P.C.‘ sind nicht ohne Weiteres Beleidigungen iS von § 185. Der Begriff ‚Neger‘ etwa, der heute als herabwürdigend angesehen wird, (ähnlich Zigeuner …), umfasst eine Bedeutungs-Vielfalt (von ‚Nigger‘ bis zu ‚Roberto Blanco war ein ganz wunderbarer Neger‘ [Bayer. Staatsminister des Innern in einem TV-Interview]) und ist selbst dann keine Beleidigung, wenn er zur rassistischen Konnotation verwendet wird.“). Aber auch unterhalb dieser Schwelle ist allein das Posten eines von einer anderen Person stammenden, vorgefertigten Schreibens mit diesem Wort nicht potentiell ansehensschädigend.
125
Zwar ist die Bezeichnung „Neger“ im heutigen volkstümlichen Sprachgebrauch in Deutschland weit weniger üblich als vor Jahrzehnten. So äußerte der Duden in seiner 23. Auflage (2004) noch zu diesem Wort in einem gesonderten Kasten Folgendes: „Viele Menschen empfinden die Bezeichnungen Neger, Negerin heute als diskriminierend.“ In dessen Onlineausgabe 2019 hieß es weitgehender: „Die Bezeichnungen Neger gilt im öffentlichen Sprachgebrauch als stark diskriminierend und wird deshalb vermieden.“ 2020 heißt es nunmehr sogar: „Die Bezeichnungen Neger, Negerin sind stark diskriminierend und sollten vermieden werden.“ Abgesehen davon, dass es sich dabei nur um Sprachempfehlungen handelt, denen ein Soldat in seiner Freiheit nicht folgen muss, geben diese Veränderungen doch eine Vorstellung von sich wandelnden Sprachgepflogenheiten. Dabei ist zu bedenken, dass bloße (Sprach-) Empfindlichkeiten nicht der maßgebliche rechtliche Maßstab sind, an der sich die Auslegung eines Disziplinartatbestandes zu orientieren hat. Vielmehr kommt es darauf an, wie ein unbefangener, objektiver Zuhörer ohne „übersteigerte moralische Aufladung“ die jeweilige Äußerung mit dem Wort „Neger“ auffasst. Das hängt maßgeblich vom Kontext ab (vgl. die von Fischer gebrachten Beispiele). Auf der anderen Seite können und müssen heute gängiges Sprachempfinden und nachweislich gewandelte Sprachansichten im Rahmen der Würdigung der Gesamtumstände bei einer Interpretation des Sinngehaltes einer Äußerung Berücksichtigung finden.
126
Im vorliegenden Fall kam es für die Witzewirkung nur insoweit auf die Bezeichnung „Neger“ an, als damit vermeintlich Tabus angesprochen wurden; für die propagierte Farbigkeit des Spiels hätte auch die Bezeichnung als „Schwarzer“ ausgereicht. Dabei ist zu bedenken, dass das Schreiben mutmaßlich aus vergangenen Jahrzehnten stammt, in denen diese Wortwahl noch gang und gäbe war und keinen diskriminierenden Charakter hatte. Die Weiterverwendung eines bereits feststehenden (mutmaßlich) älteren Textes mit einem heute als anstößig angesehenen Wort hat bei einer außerdienstlichen Verwendung dann keine disziplinare Relevanz, wenn es - wie hier - nicht strafbar oder unterhalb dieser Schwelle als Zeichen einer Verachtung der Schwarzen verwendet wurde.
Zu Anschuldigungspunkt 5:
127
Das Posting des Satzes „Ausnahmsweise mal ohne Bücherverbrennung?“ in der WhatsApp-Gruppe „Malli Galli Drecksauparty“ außer Dienst ist disziplinarrechtlich nicht relevant.
128
Da es bekanntlich einen Disziplinartatbestand „Verharmlosung des NS-Unrechtsregimes“ oder gar „Anscheinserweckung der Verharmlosung des NS-Unrechtsregimes“ nicht gibt, ist zu fragen, welche Dienstpflichten aus dem Katalog der §§ 7 ff. SG einschlägig sein könnten. Dabei ist wiederum zu bedenken, dass auch im Disziplinarrecht der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, der sich in § 1 StGB wiederfindet, gilt. Er gebietet, dass eine Tat nur bestraft - im Disziplinarrecht entsprechend zu verstehen im Sinne von „mit einer Disziplinarmaßnahme gemaßregelt“ - werden darf, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass bereits zum Tatzeitpunkt ein derartiger Pflichteninhalt, wegen der abstrakten Weite der Disziplinartatbestände gegebenenfalls konkretisiert durch die Rechtsprechung, vorgelegen haben muss, der das angeschuldigte Tun verbietet.
129
Hier kommen insbesondere weder eine Verletzung der Treuepflicht (§ 7 1. Alternative SG), der politischen Treuepflicht (§ 8 SG), der Pflicht zur Zurückhaltung (§ 10 Abs. 6 SG) noch der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 Satz 3 2. Alternative SG) in Betracht.
130
§ 10 Abs. 6 SG scheidet bereits aus den gleichen Gründen wie oben (Stichwort: abgeschlossene Chatgruppe) aus.
131
Auch § 7 1. Alternative SG ist nicht einschlägig, da keine aus der Treuepflicht von der Rechtsprechung abgeleiteten, gängigen Konkretisierungen (vgl. Auflistung bei Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, Soldatengesetz, Kommentar, 10. Aufl. 2018, § 7 Rn. 12 ff. mit Weiterungen unter Rn. 21 ff.) greifen. Dabei ist die verfassungsrechtliche Problematik der ausreichenden Bestimmtheit von Straf- und Disziplinartatbeständen (Art. 103 Abs. 2 GG) zu beachten. Es wäre danach nicht zulässig, aus der sehr weiten Tatbestandsfassung des treuen Dienens beliebig viele Unterpflichten auf den Fall hin zu generieren, ohne dass diese bereits - mangels tatbestandlicher Normierung zumindest - „rechtsprechungsmäßig abgesichert“ sind wie beispielsweise die bekannten Kernpflichten (zur Vermögenswahrung oder zum Dienstleisten).
132
Auch die Pflicht zur Loyalität gegenüber dem Staat (a.a.O., Rn. 19) ist nicht einschlägig, da jener selbst durch die bloße Verwendung des Wortes „Bücherverbrennung“ im Zusammenhang mit einer Aktion der Nationalsozialisten in keiner Weise tangiert ist. Selbst die spezielle Ausprägung „Leugnung/Verbreitung/Verwendung von NS-Gedankengut“, die von Eichen/Metzger/Sohm (Soldatengesetz, Kommentar, 4. Auflage 2020, § 7 Rn. 32) unter Rechtsprechungshinweis bei Einzelfällen des § 7 SG aufgeführt wird und bei der fraglich sein könnte, ob sie überhaupt anerkanntes Gut der Treuepflicht ist, ist offensichtlich nicht anwendbar, da es hier, wie unten näher erläutert, lediglich um die Benutzung eines zuordnungsmehrdeutigen Wortes mit allenfalls einer Möglichkeit der Anspielung auf die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 geht, ohne dass damit irgendeine Sympathieaussage getroffen wird. Dadurch würde das Regime der Nationalsozialisten weder irgendwie gutgeheißen noch verharmlost.
133
Für einen Verstoß gegen § 8 SG fehlt es an einem tauglichen Verletzungsakt gegenüber dem Inhalt der FDGO und dem sonstigen Pflichteninhalt.
134
Auch hier ist zunächst der objektive Sinngehalt der Äußerung zu ermitteln. Dabei ist nach zitierter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zweifel von einer für den Täter - hier den Soldaten - günstigen Auslegungsvariante auszugehen.
135
Laut ausgedrucktem Chatverlauf ging es unmittelbar vor der zu prüfenden Äußerung um die Kommentierung von zwei nicht abgedruckten Bildern (nur Angabe der jpg-Dateikennung) mit den Bemerkungen des Soldaten „Ach, alte Erinnerungen“ und „Elite“ durch Oberleutnant Mrklas sowie dann dessen Anmerkung „Wir haben gestern Feuer gemacht.“ Nach letztgenanntem Satz erfolgte die in Rede stehende Äußerung, danach die Entgegnung des anderen „ja“ mit einem im Chatverlauf nicht wiedergegebenen Emoji und den Sätzen „aber das wird unsere nächste mottoparty. jeder leiht sich ein bisschen entartete Literatur aus der Bibliothek und dann machen wir nen Kulturabend“ - mit einem im ausgedruckten Chatverlauf nicht wiedergegebenen Emoji.
136
Die als Dienstpflichtverletzung vorgeworfene Äußerung des Soldaten knüpft also an die Äußerung des einzigen Gesprächsadressaten Oberleutnant ÄÄÄ - andere Chatteilnehmer der WhatsApp-Gruppe waren nicht beteiligt - bezüglich des Feuermachens an und stellt auf die Art, Feuer zu machen bzw. in Gang zu halten, oder auf den Zweck des Feuers - im Sinne einer Verbrennung von etwas - ab. Sie ist vom Kontext her offensichtlich scherzhaft gemeint, da Bücherverbrennungen in der Bundesrepublik Deutschland, wo sich der Chatpartner vermutlich am Vorabend des 1. Mai aufhielt, normalerweise nicht vorkommen, es sei denn, sie hätten provozierenden oder Aufmerksamkeit erregenden Charakter im Sinne einer politischen Aussageabsicht. Für Letzteres gibt es hier keine Anhaltspunkte. Mit der Formulierung „Ausnahmsweise mal ohne …“ wollte der Soldat mutmaßlich augenzwinkernd als nicht ernst gemeinte Spitze kundtun, dass Oberleutnant Mrklas sonst nur Feuer zum Zwecke einer Bücherverbrennung mache. Dieser „Nonsensinhalt“ hatte objektiv keinen ernstgemeinten Aussagegehalt. Er war lediglich ein - in Gesprächen oder in WhatsApp-Austauschen unter näher Bekannten - üblicher Lückenfüller zum Lachen oder Aufmerksamkeiterregen.
137
Selbst bei einem Fokus auf die Verwendung des Wortes „Bücherverbrennung“ ergibt sich keine disziplinarrechtliche Relevanz.
138
Zum einen ist nicht zweifelsfrei sicher, dass mit der Wortwahl die Bücherverbrennung (es wird von der Wehrdisziplinaranwaltschaft abgestellt auf die von der Deutschen Studentenschaft am 10. Mai 1933 ausgeführte Aktion, die im Zusammenhang mit der Kampagne der Nationalsozialisten „Wider den undeutschen Geist“ ausgeführt und bei der „undeutsches Schrifttum“ verbrannt wurde) des nationalsozialistischen Herrschaftsregimes gemeint war. Denn jene war keine einzigartige Aktion mit ausschließlicher Zuordnungsmöglichkeit zu diesem Bereich, sondern Bücherverbrennungen gab es auch sonst in der deutschen Geschichte (z.B. beim Wartburgfest 1817) oder in anderen Ländern (wie USA oder Sowjetunion) oder bei der katholischen Kirche im Mittelalter, als „öffentlichkeitswirksames“ Mittel der Ablehnung nichtgenehmer Schriften und der Zensur. Der Soldat ließ sich in der Hauptverhandlung dahingehend ein, dass er auf eine frühere Diskussion mit Oberleutnant ÄÄÄ zum Thema Bücherverbrennung, die nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt habe, abgestellt habe. Das erscheint möglich. Daran ändert auch die Reaktion des Chatpartners nichts, der von „entarteter Literatur“ sprach, was auf eine Redewendung aus der Zeit des Nationalsozialismus hindeutet, da diese Äußerung von einem anderen stammt und nicht dem Soldaten zugerechnet werden kann und sie erst im Anschluss an die vorgeworfene Äußerung allein aus dem Deutungsverständnis des Oberleutnant ÄÄÄ stammt. Außerdem ist zu bedenken, dass der Soldat ein gläubiger Christ und Mitglied der CDU ist, was eine gegen die FDGO gerichtete Grundhaltung unwahrscheinlich sein lässt.
139
Zum anderen - und darauf kommt es entscheidend an - ist eine erkennbar scherzhafte Verwendung eines solchen Ausdrucks, selbst wenn er auf den Vorfall am 10. Mai 1933 bezogen gewesen sein sollte, disziplinarrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist Ausdrucksmittel der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG). Sie mag von manchen als unpassend oder geschmacklos angesehen werden, worauf es rechtlich aber nicht ankommt. Denn Maßstab ist, wie bereits angeführt, nicht ein subjektiver außerrechtlicher, z.B. an der politischen Korrektheit ausgerichteter, sondern allein ein aus den Dienstpflichten des Soldatengesetzes (§§ 7 ff.), hier des § 8 SG, entnommener. Und Letzterer hat eine wesentlich höhere Schwelle für einen Unrechtsvorwurf. „Sprachpolizeiliche Erwartungen“ fielen jedenfalls nicht darunter.
140
Damit scheidet auch eine Verletzung des § 17 Abs. 2 Satz 3 2. Alternative SG aus.
V.
141
Die Entscheidung über die Kosten und die dem Soldaten erwachsenen notwendigen Auslagen beruht auf §§ 138 Abs. 4, 140 Abs. 1 1. Alternative WDO.