Titel:
Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung
Normenkette:
SGB VI § 43
Leitsatz:
Psychische Erkrankungen sind indes erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (vgl. z. B. Bayer. LSG, Urteil vom 15.11.2017, Az.: L 19 R 66/15). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erwerbsminderungsrente, Weitergewährung, Alkoholabhängigkeit, psychische Erkrankung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Beschluss vom 21.10.2021 – L 19 R 71/21
BSG Kassel, Beschluss vom 15.02.2022 – B 5 R 307/21 B
Fundstelle:
BeckRS 2020, 55959
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 09.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.10.2018 hinaus.
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Der am xx.xx.1980 geborene Kläger bezog in der Zeit vom 01.07.2012 bis 31.10.2018 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit. Unter dem 02.07.2018 beantragte er die Weitergewährung der Rente. Mit Bescheid vom 09.08.2018 lehnte die Beklagte den Antrag auf Weiterzahlung der Rente für die Zeit ab 01.11.2018 ab, da die medizinischen Voraussetzungen für die Rente nicht mehr erfüllt seien. Die Einschränkungen, die sich aus den Krankheiten oder Behinderungen des Klägers ergäben, führten nicht mehr zu einem Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung. Denn nach medizinsicher Beurteilung der Beklagten könne der Kläger wieder mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Den Widerspruch des Klägers vom 22.08.2018 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 05.12.2018 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass der Kläger ab dem 01.11.2018 keinen Anspruch mehr auf Rente wegen Erwerbsminderung habe. Voraussetzung hierfür sei, dass der Kläger nicht in der Lage sei, mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Grundlage für die Entscheidung seien die Beurteilung des Leistungsvermögens durch den ärztlichen Sachverständigen sowie die Befunde aus den vorangegangenen Verfahren, die Schlussberichte über die vom 22.11.2017 bis zum 11.04.2018 und vom 11.04.2018 bis zum 02.07.2018 erbrachten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, das im Widerspruchsverfahren vorgelegte ärztliche Attest. Der ärztliche Sachverständige habe alle vorliegenden Unterlagen ausgewertet und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger wieder mindestens sechs Stunden täglich mittelschwere Arbeiten verrichten könne. Die Auswertung der medizinischen Unterlagen sei für die Beklagte schlüssig und nachvollziehbar. Danach sei zwar das Leistungsvermögen des Klägers eingeschränkt. Der Kläger könne dennoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wieder mindestens sechs Stunden täglich arbeiten.
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Gegen den Widerspruchsbescheid vom 05.12.2018 wendet sich der Kläger mit seiner Klage vom 27.12.2018, bei Gericht eingegangen am 28.12.2018.
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Der Kläger begehrt die Weitergewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung. Zur Begründung trägt er vor, dass er entgegen der Einschätzung der Beklagten keinesfalls wieder in der Lage sei, auch nur eine leichte Tätigkeit zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem Umfang von mindestens drei Stunden täglich zu verrichten. Der Kläger verweist auf eine ausgeprägte, rezidivierende depressive Störung, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie die Folgen eines Alkoholabhängigkeitssyndroms. So habe er sich in der Zeit vom 10.08.2017 bis 02.07.2018 durchgängig in stationären Behandlungen befunden, zuletzt vom 11.04.2018 bis 02.07.2018 in der I. Der Kläger verweist auf die Einschätzung seines behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H..
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Das Gericht hat Befundberichte des behandelnden Hausarzt Dr. G., der vorhandene Fremdbefunde beigefügt hat, sowie des behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. eingeholt sowie den Entlassungsbericht der I. und die Schwerbehindertenakte beigezogen. Gemäß Beweisanordnung vom 23.01.2020 hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den J.. Dieser hat in seinem Gutachten vom 13.03.2020 (Bl. 222 bis 256 GA) ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der bestehenden Gesundheitsstörungen dem Kläger zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch eine mindestens sechsstündige Tätigkeit zumutbar sei. Wegen der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung sollten überwiegend leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten, ohne Körperzwangshaltungen oder besonderen Belastung der Lendenwirbelsäule durchgeführt werden. Tätigkeiten, bei denen der Kläger mit Alkohol in Kontakt kommen könnte, sollten bei Alkoholabhängigkeit vermieden werden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf die Ausführungen des Sachverständigen in seinem Gutachten sowie in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.08.2020 (Bl. 288 bis 290 GA) sowie auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2018 zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 31.10.2018 hinaus weiter zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte verweist auf ihr Vorbringen in den angefochtenen Bescheiden.
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Der Kläger hat die Klage zunächst beim Sozialgericht München erhoben. Mit Beschluss des Sozialgerichts München vom 28.02.2019 () ist der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Würzburg verwiesen worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten und der Behindertenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
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Der Bescheid vom 09.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2018 ist rechtmäßig ergangen und verletzt den Kläger in seinen Rechten nicht. Der Kläger hat keinen Anspruch mehr auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Der Antrag auf Weitergewährung der Rente über den 31.10.2018 hinaus wurde daher zutreffend abgelehnt.
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Gemäß § 43 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
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Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen wieder imstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese Beurteilung des Leistungsvermögens ergibt sich unter Berücksichtigung aller Einzelumstände des vorliegenden Falles und aus einer Gesamtschau der über den Gesundheitszustand des Klägers vorliegenden ärztlichen Unterlagen sowie insbesondere dem Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie J. vom 13.03.2020. Aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen J. ist die Kammer von einem vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers ab dem 01.11.2018 überzeugt.
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Der Sachverständige J. hat in seinem Gutachten folgende Gesundheitsstörungen beim Kläger festgestellt:
1. Rezidivierend depressive Störung, gegenwärtig remittiert (ICD-10: F33.4)
2. Psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol, Abhängigkeit, derzeit abstinent (ICD-10: F10.20)
3. Psychische und Verhaltensstörung durch Nikotin, Abhängigkeit (ICD-10: F17.24)
4. Degenerative Wirbelsäulenerkrankung ohne Nervenwurzelreizerscheinungen (ICD-10: M54).
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Im Einzelnen hat der Sachverständige J. ausgeführt, dass zum Untersuchungszeitpunkt keine tiefergehende depressive Stimmungsauslenkung habe festgestellt werden können. Somit befinde sich die rezidivierend depressive Störung derzeit in Remission (ICD-10: F33.4). Für die jeweiligen depressiven Episoden scheine die narzisstische Persönlichkeitsstruktur und die Tendenz des Klägers, Konflikte nach außen zu projizieren, verantwortlich zu sein. Insofern handele es sich um eine neurotische Entwicklung, die sich schon in seiner frühen Jugend bei sehr strengem Erziehungsstil des Vaters und verwöhnender Haltung der Mutter manifestiert habe. Auf diesen Hintergrund habe der Kläger keine adäquaten Bewältigungs- und Konfliktstrategien erlernen und entwickeln können. Zum jetzigen Zeitpunkt scheine er in einer regressiven und inaktiven Haltung zu verharren, in der er sich belastungsgemindert fühle und deswegen unterstützt oder versorgt werden wolle, statt eigene aktive Verhaltensmuster zu mobilisieren.
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Der Sachverständige hat ausgeführt, dass dem Kläger unter Berücksichtigung der oben angegebenen Gesundheitsstörungen zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch eine mindestens sechsstündige Tätigkeit zumutbar sei. Wegen der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung sollten überwiegend leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten, ohne Körperzwangshaltungen oder besonderen Belastung der Lendenwirbelsäule durchgeführt werden. Tätigkeiten, bei denen der Kläger mit Alkohol in Kontakt kommen könnte, sollten bei Alkoholabhängigkeit vermieden werden. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei gegenüber der sozialmedizinischen Beurteilung im Entlassungsbrief der Klinik B. und der I. keine abweichende sozialmedizinische Einschätzung vorgenommen worden. Eine Verschlechterung oder wesentliche Besserung der Abschlussbefunde der obigen Kliniken habe nicht festgestellt werden können. Die behandelnden Kollegen hätten schon eine gute Stabilisierung der psychischen Verfassung des Klägers attestiert. Eine Heilbehandlung scheine nicht indiziert zu sein. Dem Kläger sei dringend die regelmäßige Teilnahme an der Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke angeraten worden. Des Weiteren bedürfe er einer regelmäßigen ambulanten psychotherapeutischen Behandlung, die in den letzten Jahren nicht durchgeführt worden sei.
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Die Kammer folgt der überzeugenden Beurteilung durch den Sachverständigen J.. Die Kammer hatte keinen Anlass an der Sachkunde des im Rentenrecht sehr erfahrenen Facharztes sowie an der Richtigkeit seiner Feststellungen zu zweifeln. Der Sachverständige stützt seine ausführlich und schlüssig begründeten Schlussfolgerungen nicht nur auf die eingehende Untersuchung des Klägers und die sorgfältige Befunderhebung, sondern auch auf die Auswertung der im Untersuchungszeitraum aktenkundigen ärztlichen Unterlagen. Für die Kammer überzeugend hat er die oben genannten Gesundheitsstörungen sowie die hieraus resultierenden Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Klägers festgestellt. Anhaltspunkte für eine unvollständige Befunderhebung oder eine unzutreffende Leistungsbeurteilung sind für die Kammer nicht ersichtlich. Die Ausführungen des Sachverständigen sind schlüssig, in sich widerspruchsfrei und überzeugend begründet.
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Die Einwendungen des Klägers vermögen dagegen nicht zu überzeugen. Soweit der Kläger auf die Stellungnahme seines behandelnden Psychiaters Dr. H. vom 15.04.2020 verweist, so hat der Sachverständige J. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.08.2020 überzeugend begründet, dass er ausführlich und differenziert die soziale und persönliche Entwicklung des Klägers dargestellt habe. Aus diesen Zusammenhängen habe er die entsprechenden Diagnosen, Therapieoptionen und die sich daraus ergebende sozialmedizinische Beurteilung abgeleitet. Die Fortführung der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung werde von ihm weiterhin empfohlen.
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Weder die Ausführungen des behandelnden Arztes Dr. H. noch die Bescheinigung der den Kläger seit dem 21.04.2020 behandelnden Dipl.-Psychologin S. vom 29.09.2020, wonach beim Kläger ein Alkoholrückfall eingetreten sei, vermögen eine andere leistungsrechtliche Beurteilung des Klägers zu begründen. Es liegen keine objektivierbaren Befunde vor, die dazu führen, dass der Kläger nicht mehr sechs Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten kann. Das Vorliegen einer vollen oder zumindest teilweisen Erwerbsminderung ist damit nicht nachgewiesen.
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Zudem ist auch nach Empfehlung der Dipl.-Psychologin ein stationärer Aufenthalt des Klägers dringend empfohlen. Psychische Erkrankungen sind indes erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann - weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (vgl. z. B. Bayer. LSG, Urteil vom 15.11.2017, Az.: L 19 R 66/15; zitiert nach juris).
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Nach alledem ist der angefochtene Ablehnungsbescheid rechtmäßig ergangen. Die Klage war abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.