Inhalt

SG Landshut, Gerichtsbescheid v. 01.10.2020 – S 11 AS 761/19
Titel:

Umfang der Mitwirkungspflichten und Versagung von Leistungen 

Normenkette:
SGB I § 60 Abs. 1, § 66 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 60 Abs. 1 SGB I bezieht sich auf die Angabe bzw. Ermittlung von Tatsachen. Die begehrte Einwilligung zur Begutachtung eines Grundstücks fällt nicht unter § 60 ff. SGB I. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Durch die Generalklausel in § 66 Abs. 1 S. 2 SGB I können die Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB I nicht erweitert werden. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
SGB II-Leistungen, Mitwirkungspflichten, Versagung, Vermögen, Hilfebedürftigkeit, Begutachtung eines Grundstücks, Ermessen
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 28.09.2021 – L 7 AS 589/20
BSG Kassel, Beschluss vom 17.01.2022 – B 4 AS 349/21 B
Fundstelle:
BeckRS 2020, 55561

Tenor

I. Der Bescheid vom 30.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

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Zwischen den Beteiligten ist die Versagung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) umstritten.
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Die 1954 geborene Klägerin streitet seit dem Jahre 2013 mit dem Beklagten darüber, ob ihr selbst genutztes Wohnhaus ein Vermögen darstellt, welches die Hilfebedürftigkeit der Klägerin ausschließt.
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Am 30. April 2019 beantragte die Klägerin erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beim Beklagten.
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Zuletzt forderte der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 05. Juli 2019 dazu auf, den Erhebungsbogen zu Verkehrsermittlung vollständig ausgefüllt und unterschrieben vorzulegen. Der Gutachterausschuss könne erst nach Eingang des Erhebungsbogens die Verkehrsermittlung vornehmen. Außerdem werde um die Vorlage der vollständigen aktuellen Rentenauskunft gebeten. Die Unterlagen seien bis zum 22. Juli 2019 vorzulegen.
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Weiter heißt es: „Haben Sie bis zum genannten Termin nicht reagiert oder die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht, können die Geldleistungen ganz versagt werden, bis Sie die Mitwirkung nachholen (§ § 60, 66, 67 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I). Dies bedeutet, dass sie keine Leistungen erhalten.“
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Die Klägerin reagierte mit Schreiben vom 09. Juli 2017. Sie sei Mitwirkungspflichten bereits am 24. Juni 2019 vollständig nachgekommen. Aus der vorgelegten Rentenauskunft gehe hervor, dass sie die Regelaltersrente ab 01. August 2020 einreichen könne. Bezüglich des Hauses liege bereits ein Gutachten vor, dass nicht älter als zwei Jahre sei. Der Gutachter habe Mängel des Hauses ignoriert. Den Bogen zur Verkehrswertermittlung habe Sie bereits ausgefüllt und händige den Bogen dem Gutachter bei der Besichtigung aus. Ohne Besichtigungstermin sei sie nicht bereit, ein Gutachten erstellen zu lassen.
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Mit Bescheid vom 30.07.2019 versagte der Beklagte die Leistungen ab 01.04.2019 ganz. Der Erhebungsbogen sowie die aktuelle vollständige Rentenauskunft seien nicht vorgelegt worden. Die Klägerin habe keine relevanten Gründe mitgeteilt, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu ihren Gunsten berücksichtigt werden könnten. Das Vermögen sei mit seinem Verkehrswert zu berücksichtigen. Ferner werde darauf hingewiesen, dass erst nach Vorlage des Erhebungsbogens eine Prüfung des Gutachterausschusses - auch unter Berücksichtigung eventuell vorhandener Mängel -erfolgen könne. Die vorgelegte Rentenauskunft habe lediglich die Seiten 1 und 3 enthalten. Nach Abwägung des Sinn und Zweck der Mitwirkungsvorschriften mit den Interessen der Klägerin an den Leistungen sowie des öffentliche Interesses an Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, würden die Leistungen ganz versagt.
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Mit Schreiben vom 05.08.2019 legte die Klägerin Widerspruch ein. Die Mängel des Grundstückes seien mehr geworden. Der Beklagte sei jedoch nicht bereit, einen Ortstermin bei der Klägerin durchzuführen. Der Wert sei gesunken. Für die Beurteilung der Rentenversicherung seien alle Unterlagen vorgelegt worden.
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Mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 14.10.2019 wurde der Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Die Klägerin wehre sich nach Aktenlage gegen die Neubewertung des Grundstücks. Um eine Begutachtung durchführen zu lassen, seien die Angaben der Klägerin und diesbezüglich die Entbindung vom Sozialdatenschutz gegenüber den Gutachtern notwendig.
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Mit ihrer Klage vom 13.11.2019, die am selben Tag bei Gericht einging, hat sich die Klägerin an das Sozialgericht Landshut gewandt. Die Begründung ergebe sich aus dem Widerspruch. Die Entbindung von der Schweigepflicht sei nicht erforderlich, da die Leistungen unabhängig vom Wert der Immobilie gezahlt werden müssten. Außerdem gebe es einen Verwertungsausschluss.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Beklagten vom 30.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin ab April 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Weitergabe der Unterlagen an den Gutachterausschuss dürfe nur erfolgen, wenn die Klägerin zustimme. Genau den Datenschutz habe die Klägerin bei der ersten Begutachtung moniert. Eine Begutachtung nach Aktenlage sei wenig sinnvoll. Die Mitwirkungspflicht folge aus § 60 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Die Versagung sei überdies das mildere Mittel.
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Mit Schreiben 02.09.2020 hat der Beklagte dem Gericht kommentarlos die Rentenauskunft der Klägerin vom 29.07.2020 übersandt.
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Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Akte des Beklagten und die Akte des Sozialgerichts verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten hierzu angehört wurden.
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Die Klage ist teilweise zulässig und begründet.
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Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Begehren der Klägerin, den Versagungsbescheid des Beklagten vom 30.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 aufzuheben und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab April 2019 zu erhalten.
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Statthafte Klageart im vorliegenden Verfahren ist alleine die Anfechtungsklage. Im Wege der Klage gegen einen auf § 66 SGB I gestützten Versagungsbescheid kann im Grundsatz nicht die Verpflichtung der Behörde zur Gewährung der beantragten Sozialleistung erstritten werden, denn in § 66 SGB I ist ein eigenständiger Versagungsgrund normiert (Voelzke in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 66 SGB I (Stand: 21.04.2020), Rn. 73 m. w. N.). Die Rechtmäßigkeit eines auf § 66 SGB I gestützten Versagungsbescheides ist allein danach zu beurteilen, ob die in dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen bei seinem Erlass erfüllt waren. Bei einer Rechtswidrigkeit des Versagungsbescheides genügt dessen Aufhebung. Die Behörde hat dann über den geltend gemachten Sozialleistungsanspruch in der Sache selbst zu entscheiden. Bei einer Versagung der Leistung nach § 66 SGB I wegen fehlender Mitwirkung des Klägers beschränkt sich die gerichtliche Überprüfung demgemäß allein darauf, ob die in dieser Vorschrift geregelten Voraussetzungen erfüllt sind.
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Die Klage ist als Anfechtungsklage auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 30.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
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Die Voraussetzungen für eine Versagung nach § 66 Abs. 1 SGB I sind nicht erfüllt. Es fehlt an einer Mitwirkungspflichtverletzung nach § 60 Abs. 1 SGB I. Die Ermessensentscheidung ist ebenso rechtswidrig.
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1. Der Leistungsträger kann ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind, wenn der, der eine Sozialleistung beantragt, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird (§ 66 Abs. 1 SGB I). Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt und entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.
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2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend hinsichtlich der streitigen Versagungsentscheidung nicht erfüllt.
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a) Die Versagung auf Grundlage von § 66 SGB I scheitert - unabhängig von den weiteren Voraussetzungen - vorliegend bereits daran, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht erfüllt sind.
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Der streitgegenständliche Bescheid vom 30.07.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.10.2019 stützt die Versagung der beantragten Leistung darauf, dass die Klägerin nicht die vollständige Rentenauskunft und insbesondere nicht an der Einleitung der Begutachtung mitgewirkt hat. Eine solche Pflicht zur Duldung oder Mitwirkung an einer Begutachtung des Grundstückes der Klägerin lässt sich jedoch dem § 60 Abs. 1 SGB I gerade nicht entnehmen. Der Beklagte hat im gerichtlichen Verfahren zwar eine Rechtsgrundlage für eine derartige Verpflichtung dargelegt. § 60 Abs. 1 SGB I bezieht sich jedoch alleine auf die Angabe bzw. Ermittlung von Tatsachen. Vorliegend wird jedoch von der Klägerin nicht die Angabe von Tatsachen, sondern die Einwilligung zur Begutachtung verlangt. Eine solche Pflicht ergibt sich jedenfalls nicht aus den §§ 60 bis 62, 65 SGB I. Dementsprechend liegt in der Weigerung der Klägerin, einer Begutachtung des Grundstückes zuzustimmen, keine Verletzung einer Mitwirkungspflicht im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I. Auch § 66 Abs. 1 Satz 2 SGB I, wonach die Norm auch Anwendung findet, wenn der Antragsteller in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, rechtfertigt das Vorgehen des Beklagten nicht. Durch diese Generalklausel können die Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB I nicht erweitert werden (KassKomm/Spellbrink, 110. EL Juli 2020, SGB I § 66 Rn. 18; SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 08. März 2006 - S 88 SO 32/06 -).
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Das Ausgeführte hat jedoch keinen Einfluss auf die materielle Beweislast. Grundsätzlich käme zukünftig auch eine Ablehnung aus Gründen der materiellen Beweislast in Betracht. Eine Ablehnung in der Sache kann nach den Regeln der materiellen Beweislast nach einer Prüfung der materiellen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs erfolgen. Nach diesen Grundsätzen ist dann die Frage zu beantworten, zu wessen Ungunsten die sich nach gebotener Ausschöpfung aller geeigneten und zumutbaren Aufklärungsmöglichkeiten ergebende Unaufklärbarkeit einer rechtserheblichen Tatsache, eine sog. non-liquet-Situation, geht.
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Soweit sich die Versagung auf die fehlende Rentenauskunft bezog, liegt die Rentenauskunft dem Beklagten mittlerweile vor.
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b) Auch das Ermessen wurde unzureichend ausgeübt. Die Rechtsfolge einer fehlenden Mitwirkung steht im Ermessen der Behörde. Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise entziehen, wenn derjenige, der eine Sozialleistung erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Bei der Erteilung des Bescheids vom 30.07.2019 war dem Beklagten zwar bewusst, dass ihm Ermessen zusteht. Er führte nämlich aus, dass die Klägerin keine Gründe mitgeteilt habe, die im Rahmen der Ermessensentscheidung zu ihren Gunsten berücksichtigt werden könnten. Das reicht aber nicht für eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung aus, die auch im Widerspruchsverfahren nicht nachgeholt wurde. Der Beklagte hätte jedenfalls berücksichtigen müssen, dass die Klägerin sich grundsätzlich zur Begutachtung und Erteilung der Entbindung von der Schweigepflicht bereits erklärt hatte, falls ein Vororttermin stattfinden würde. Vor diesem Hintergrund hätte es einer Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen bedurft. Es fehlt überdies eine Verhandlung der Frage, ob auch eine teilweise Versagung möglich wäre.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 105 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 193 SGG und folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache. Sie berücksichtigt, dass die Klägerin nur bezogen auf die Anfechtungsklage erfolgreich war.