Titel:
berufsvorbereitende Maßnahme, ausschließliche Zuständigkeit, eigene Zuständigkeit, Heimunterbringung, Jugendhilfeträger, Rechtshängigkeit
Normenkette:
SGB III § 22 Abs. 2
Schlagworte:
berufsvorbereitende Maßnahme, ausschließliche Zuständigkeit, eigene Zuständigkeit, Heimunterbringung, Jugendhilfeträger, Rechtshängigkeit
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Urteil vom 21.02.2022 – L 10 AL 81/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 55279
Tenor
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger zum Hilfefall D., geb. ... .2001, die Kosten für die Heimunterbringung in der Einrichtung der I., ab 03.09.2018 zu erstatten und in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger Verzugszinsen in Höhe von 4 v. H. ab 01.10.2018 zu entrichten.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Im vorliegenden Rechtsstreit geht es um Teilhabe am Arbeitsleben in der Form der Heimunterbringung für D. in der Einrichtung der I. in W..
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Mit Schreiben vom 14.02.2018 wurde dem am ... 2001 geborenen D. (H.) von der Klägerin Eingliederungshilfe in einer vollstationären Einrichtung, hier I. in W. ab 18.02.2018 gewährt.
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Am 11.07.2018 stellte H. einen Antrag auf Teilhabe am Arbeitsleben bei der Beklagten.
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Mit Schreiben vom 24.07.2018 teilte die Beklagte H. mit, dass sie nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zuständige Reha-Trägerin für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wäre.
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Die vollstationäre Einrichtung werde gemäß § 35a Abs. 2 Nr. 4 i. V. m. § 36 ff. Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) bereits durch das Landratsamt Kitzingen übernommen.
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Mit Bescheid vom 24.07.2018 bewilligte die Beklagte H. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, nämlich „eine Berufsvorbereitung (BvB) im C.-D. B. gGmbH Berufsbildungswerk W..
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Mit Schreiben vom 07.08.2018 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass zu Beginn der Unterbringung von H. deutlich geworden wäre, dass eine Teilhabe am Arbeitsleben noch nicht möglich gewesen wäre. Daher wäre jegliche Hilfe durch den Kläger erfolgt. Ab Beginn der berufsvorbereitenden Maßnahme stehe die Teilhabe am Arbeitsleben im Vordergrund. Da die Teilhabe am Arbeitsleben im Vordergrund stehe, und auch im Zuständigkeitsbereich der Beklagten eine stationäre Unterbringung vorgesehen wäre, sei auch Sicht des Klägers, ab Beginn der BvB vorrangig die Beklagte für die Hilfegewährung mit Übernahme der Unterbringungskosten zuständig.
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Mit Schreiben vom 16.08.2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass nach ihrer Auffassung für die Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der heilpädagogischen Unterbringung nach dem SGB VIII nach wie vor der Träger der Jugendhilfe originär und ausschließlich zuständig wäre.
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Mit dem 18.01.2019, eingegangen beim Sozialgericht Würzburg am 23.01.2019, beantragt der Kläger:
1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger im Hilfefall D., geb. ... 2001, die Kosten für die Heimunterbringung in der Einrichtung der C.-D. B. gGmbH W. ab 03.09.2018 zu erstatten und den Fall zeitnah in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, Zinsen in Höhe von 4% ab 01.10.2018 zu entrichten.
3. Die Beklagte wird verpflichtet, Prozesszinsen in Höhe von 5% über den Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu entrichten.
4. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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Die Beklagte habe mit Bescheid vom 16.08.2018 Ausbildungsgeld und die berufsvorbereitende Maßnahme als „Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben“ ab 03.09.2018 für H. bewilligt. Hieraus sei ersichtlich, dass die Beklagte den Reha-Status für H. anerkannt und aus diesem Grund die Berufsvorbereitungsmaßnahme bewilligt habe. Bei dieser Maßnahme wäre es darum gegangen, für H. die Teilnahme am Arbeitsleben zu verbessern. Da der Kläger von der Beklagten bereits vorab telefonisch informiert worden wäre, dass sie beabsichtige, ab September 2018 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu bewilligen, habe der Kläger mit Schreiben vom 07.08.2018 bei der Beklagten ab Maßnahmenbeginn die Übernahme des Falles in die eigene Zuständigkeit beantragt.
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Ab 03.09.2018 habe der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Kostenerstattung der bereits geleisteten Kosten für die Heimunterbringung und auf Übernahme des Hilfefalles in die eigene Zuständigkeit der Beklagten.
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Rechtsgrundlage für den Erstattungsanspruch sei § 104 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).
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Grundsätzlich bestehe ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII für H. beim Kläger. Von der Beklagten selbst wurde H. der Reha-Status bestätigt, in dem sie ihm Leistungen für Bildung und Teilhabe nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) gewährt habe.
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Die nachrangige Verpflichtung des Klägers ergebe sich aus § 10 Abs. 1 SGB VIII. Hiernach würden Verpflichtungen Anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen durch das SGB VIII nicht berührt. Auf Rechtsvorschriften beruhender Leistungen Anderer dürften nicht deshalb versagt werden, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen seien.
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Nach § 113 Abs. 1 SGB III könnten als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben allgemeine und besonderer Leistungen erbracht werden. Die besonderen Leistungen nach § 118 Nr. 3 SGB III umfassten die Übernahme der Teilnahmekosten für eine Maßnahme.
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Nach § 49 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX gehörten zu den Leistungen auch die Übernahme der erforderlichen Kosten für Unterkunft und Verpflegung, wenn die Ausführung einer Leistung eine Unterbringung außerhalb des eigenen oder des elterlichen Haushalts wegen Art oder Schwere der Behinderung oder zur Sicherung des Erfolges der Teilhabe notwendig sei.
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Nach dem vorliegenden psychologischen Gutachten der Uniklinik W. vom 02.01.2018 sei die Unterbringung in einer vollstationären heilpädagogischen Einrichtung mit der Möglichkeit einen Berufsförderungskurs zu besuchen und später eine Ausbildung zu machen für H. notwendig, um überhaupt eine Chance auf eine berufliche Integration zu haben.
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Es handele sich somit bei der Unterbringung von H. in der Einrichtung der C.-D.B. gGmbH um eine Annexleistung, ohne die die Hauptleistung, nämlich der Besuch der berufsvorbereitenden Maßnahme, nicht möglich wäre.
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Somit seien die Voraussetzungen des § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX erfüllt und H. habe einen Anspruch auf Übernahme der notwendigen Unterbringungskosten zusätzlich zu den durch die Beklagte bereits geleisteten Teilnahmekosten.
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Aus den o. g. Gründen habe der Kläger am 03.09.2018 einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Heimunterbringung von H. und auf zeitnahe Übernahme des Hilfefalles in die eigene Zuständigkeit der Beklagten.
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Die Verzugszinsen wären nach § 108 SGB X mit 4% zu berechnen.
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Die Prozesszinsen wären mangels spezialgesetzlicher Regelung nach den §§ 287, 288 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit 5% ab Rechtshängigkeit zu berechnen.
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In der Klageerwiderung stellt die Beklagte den Antrag,
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Nach Auffassung der Beklagten wäre für die Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der heilpädagogischen Unterbringung nach dem SGB VIII nach wie vor der Träger der Jugendhilfe originär und ausschließlich zuständig.
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Auch durch das Bundesteilhabegesetz hätten sich hier keine Änderungen ergeben. Eine Teilhabeplankonferenz wäre nicht angezeigt.
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Im Erörterungstermin vom 04.12.2019 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren.
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Die Entscheidung erging durch Urteil in der Sitzung der 7. Kammer des Sozialgerichts Würzburg vom 15.01.2020.
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Beigezogen waren neben der Gerichtsakte die H. betreffenden Akten des Klägers und der Beklagten.
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Auf deren Inhalt wird im Weiteren ausdrücklich Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet. Die Entscheidung konnte im Einverständnis der Beteiligten im schriftlichen Verfahren ergehen, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten der Heimunterbringung im C.-D. B. Heim in W. zu erstatten, § 104 Abs. 1 SGB X.
32
Der Kläger hat mit Bescheid vom 18.02.2018 in eigener Zuständigkeit die Unterbringung des Klägers dort gemäß § 35a SGB VIII geregelt.
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Ab 03.09.2018 ist der Kläger jedoch nachrangig Verpflichteter, weil die Beklagte vorrangig zuständig ist für die Unterbringung von H.
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Die Beklagte hat H. mit Bescheid vom 24.07.2018 mitgeteilt, dass sie gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX die Reha-Trägerin für die Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist. Bewilligt wurde eine Berufsvorbereitung im C.-D. B. Heim in W..
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Mit der Feststellung gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zuständiger Reha-Träger zu sein, gehört aber auch, dass die Beklagte zuständig ist, für die Übernahme der Kosten der Heimunterbringung für die Zeit ab Beginn der Ausbildung.
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Verpflichtet ist die Beklagte nach dem § 112 ff. SGB III.
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Gemäß § 112 Abs. 1 SGB III können behinderten Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern, soweit Art oder Schwere der Behinderung dies erfordern.
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Nach § 113 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB III können für behinderte Menschen allgemeine Leistungen und besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie diese ergänzende Leistungen erbracht werden, wobei nach § 113 Abs. 2 SGB III besondere Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nur erbracht werden, soweit nicht bereits durch die allgemeinen Leistungen eine Teilhabe am Arbeitsleben erreicht werden kann.
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Dies ist hier der Fall.
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Gemäß § 117 Abs. 1 Satz 1 SGB III sind die besonderen Leistungen anstelle der allgemeinen Leistungen insbesondere zur Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung einschließlich Berufsvorbereitung sowie blindentechnischer und vergleichbarer spezieller Grundausbildungen zu erbringen, wenn Art oder Schwere der Behinderung oder die Sicherung der Teilhabe am Arbeitsleben die Teilnahme an einer Maßnahme an einer besonderen Einrichtung für behinderte Menschen unerlässlich macht. Auch dies ist hier gegeben.
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Diese besonderen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zählen nicht zu den Ermessungsleistungen der aktiven Arbeitsförderung. Sie sind vielmehr als Pflichtleistung zu gewähren.
42
Der Kläger ist für die streitigen Leistungen auch nicht vorrangig zuständig. Dies ergibt sich aus dem Zusammenwirken der Subsidiaritätsregeln in § 22 Abs. 1 SGB III und § 10 Abs. 1 SGB VIII. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII werden Verpflichtungen anderer, insbesondere der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen, durch das SGB VIII nicht berührt. Auf Rechtsvorschriften beruhende Leistungen Anderer dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen sind. Wenn Leistungen eines anderen Sozialleistungsträgers nicht deshalb versagt werden dürfen, weil es im SGB VIII entsprechende Leistungen gibt, zeigt dies, dass im Sinne der weiteren Nachrangregelung des § 22 Abs. 1 und 2 SGB III eine Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers in Fallgestaltungen gleichartiger Leistungen gerade nicht bestehen soll und die Jugendhilfe als nachrangig angesehen werden muss (BSG, Urteil vom 12.10.2017, Az.: B 11 AL 20/16 R).
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Nach § 33 Abs. 1 SGB IX werden zur Teilhabe am Arbeitsleben die erforderlichen Leistungen erbracht, um die Erwerbsfähigkeit Behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern. Die Leistungen umfassen gemäß § 33 Abs. 6 Satz 1 SGB IX auch medizinische, psychologische und pädagogische Hilfen, soweit diese im Einzelfall erforderlich sind, um die in Absatz 1 der Vorschrift genannten Ziele zu erreichen oder zu sichern und Krankheitsfolgen zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu vermeiden, wie bereits oben ausgeführt. Ausdrücklich genannt sind dabei Hilfen zur seelischen Stabilisierung und zur Förderung der sozialen Kompetenz. Das LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.04.2015, Az.: L 8 AL 2430/12, hat hierzu ausgeführt: „Denn bei diesen Leistungen handelt es sich um Annexleistungen zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben …, für die derjenige Reha-Träger zuständig ist, der auch für die Hauptleistung Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zuständig ist. Diese Annexleistungen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der beruflichen Rehabilitationsleistung als Hauptleistung; es handelt sich nicht um eigenständig zu gewährende Sozialleistungen … Dies entspricht auch der vom Gesetzgeber angenommenen umfassenden Zuständigkeit des leistenden Rehabilitationsträgers …“.
44
Auch bei der Unterbringung von H. im C.-D. B. Heim W. handelt es sich um Leistungen, die die Berufsvorbereitung bzw. die Berufsausbildung unterstützen und insoweit sichern. Damit handelt es sich nicht um eigenständige psychologische, pädagogische oder sonstige isolierte erzieherische Maßnahmen, die rehabilitationsunabhängig wären. Diese Maßnahmen dienen der Unterstützung und Ermöglichung der Ausbildung von H.
45
Nach § 22 Abs. 1 SGB III ist die Beklagte grundsätzlich nur zuständig bei Nichtbestehen einer Leistungspflicht anderer öffentlicher Stellen. Außerdem erbringt die Beklagte allgemeine und besondere Rehabilitationsleistungen nach § 22 Abs. 2 SGB III nur dann, wenn nicht andere Rehabilitationsträger, zu denen nach § 6 SGB IX auch der Jugendhilfeträger gehört, im Sinne des SGB IX zuständig sind. Wenn allerdings Leistungen eines anderen Trägers, wie hier der Beklagten, nach § 10 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nicht deshalb versagt werden dürfen, weil es im SGB VIII entsprechende Leistungen gibt, so zeigt dies, dass im Sinne des § 22 Abs. 1 und 2 SGB III eine Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers gerade nicht bestehen soll und die Jugendhilfe mithin als nachrangig angesehen werden muss (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 09.06.2016, Az.: L 1 AL 53/15).
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Insoweit hat die Beklagte dem Kläger die Unterbringungskosten ab 03.09.2018 für H. zu erstatten und den Fall in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen.
47
Die Beklagte hat auch Verzugszinsen in Höhe von 4% ab 01.10.2018 zu entrichten.
48
Die Verpflichtung zur Übernahme von Prozesszinsen in Höhe von 5% ab Rechtshängigkeit ist jedoch abzulehnen, da hierfür keine Rechtsgrundlage besteht.
49
Die Beklagte hat die Kosten gemäß § 197a Abs. 1 SGG zu übernehmen.