Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Endurteil v. 04.08.2020 – 2 O 775/20
Titel:

Krankenkasse, Verkehrsunfall, Haftpflichtversicherer, Versicherungsschutz, Betriebsgefahr, Haftpflichtversicherung, Beteiligung, Auslegung, Streitwert, Leistungsfreiheit, Widerklage, Vollstreckung, Anspruch, Gesamtschuldner, Kosten des Rechtsstreits, Sinn und Zweck, Zeitpunkt des Vertragsschlusses

Schlagworte:
Krankenkasse, Verkehrsunfall, Haftpflichtversicherer, Versicherungsschutz, Betriebsgefahr, Haftpflichtversicherung, Beteiligung, Auslegung, Streitwert, Leistungsfreiheit, Widerklage, Vollstreckung, Anspruch, Gesamtschuldner, Kosten des Rechtsstreits, Sinn und Zweck, Zeitpunkt des Vertragsschlusses
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss vom 23.11.2020 – 4 U 2946/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 54110

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 611,14 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 31.07.2018 zu zahlen.
2. Die Widerklage wird abgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 6% und die Beklagte 94% zu tragen.  
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Schuldner kann die Vollstreckung des Gläubigers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet. 
Beschluss
Der Streitwert wird bis 03.10.2019 auf 1.025,99 €, von 04.10.2020 bis 28.04.2020 auf 7.025,99 € (Klage 1.025,99 €; Widerklage 6.000 €) und ab 29.04.2020 auf 6.611,14 € (Klage 611,14 €; Widerklage 6.000 €) festgesetzt.  

Tatbestand

1
Die Parteien streiten mit Klage und Widerklage um wechselseitige Verpflichtungen aus einem Rahmen-Teilungsabkommen.
2
Die Klägerin ist mit dem AOK-Bundesverband, welchem die Beklagte angeschlossen ist, durch ein vom 01.07.2013 datierendes Rahmen-Teilungsabkommen (im Folgenden: RTA; Anlage BLD 1; Bl. 8 ff d. A.) zur einvernehmlichen Regulierung von Schadensfällen aus den Bereichen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, allgemeine Haftpflichtversicherung und der Luftfahrt-Haftpflichtversicherung verbunden. Die Beklagte ist als gesetzliche Krankenkasse dem RTA beigetreten.
3
Das RTA soll zu einer Vereinfachung der Regulierung von Regressschäden der Beklagten durch Vereinbarung einer festen Quote von 55%, in deren Höhe die Regressansprüche der Beklagten durch die Klägerin zu erstatten sind, dienen. Bei der vereinbarten Quote von 55% handelt es sich um einen gemittelten Wert, nach dem auch dann zu regulieren ist, wenn der Haftungsanteil der Klägerin nach Sach- und Rechtslage höher oder geringer ist.
4
Die Präambel des RTA lautet wie folgt:
„Werden von einer auf Seiten des AOK-Bundesverbandes beigetretenen Krankenkasse Schadensersatzansprüche nach § 116 SGB X aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen gegen eine Person erhoben, die gegen die Folgen der gesetzlichen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, der allgemeinen Haftpflichtversicherung und der Luftfahrthaftpflichtversicherung bei der A. Versicherungsschutz genießt, so richtet sich die Abwicklung des Regresses nach Maßgabe dieses Teilungsabkommens.“
5
In § 1 Abs. 1 RTA findet sich folgende Regelung:
„Erhebt eine diesem Abkommen beigetretene Krankenkasse Schadensersatzansprüche aufgrund gesetzlicher Ansprüche nach § 116 SGB X gegen Kraftfahrzeughalter und - Führer bzw. Halter und Führer eines Anhängers oder Aufliegers, die aus dem Schadensfall bei der A. Versicherungsschutz genießen, so erstattet die A. der Krankenkasse ohne Prüfung der Haftungsfrage namens der haftpflichtversicherten Personen im Rahmen des bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrages und nach Maßgabe der nachstehenden Bedingungen
55%
ihrer anlässlich des Schadensfalls aufgrund Gesetzes erwachsenden Aufwendungen.“
6
§ 6 Abs. 1 RTA enthält folgende Regelung:
„Das Abkommen findet Anwendung, wenn und soweit die A. aus dem den Regressansprüchen zugrunde liegenden Schadenfall Versicherungsschutz zu gewähren hat (…)
7
§ 11 RTA lautet:
(1) Die Regressansprüche der beigetretenen Krankenkasse sind mit der abkommensgemäßen Beteiligung sowohl gegenüber der A. als auch gegenüber den bei ihr versicherten Personen abgefunden.“
(2) Sind an der Entstehung des Schadensfalles außer den bei der A. versicherten Personen noch Dritte beteiligt, so kann die Kasse wegen des über die abkommensgemäßen Beteiligung hinausgehenden Restschadens nur dann einen weiteren Regress nehmen, wenn sie mit dem Haftpflichtversicherer des Dritten kein Teilungsabkommen unterhält und nur unter der Voraussetzung, dass dadurch nicht Ausgleichsansprüche des Dritten jedweder Art gegen die A. oder die bei ihr versicherten Personen entstehen würden (Nachregress).
(3) Nimmt die Kasse zunächst bei solchen Personen Regress, die nicht bei der A. versichert sind und mit deren Haftpflichtversicherer sie kein Teilungsabkommen unterhält, so wird ein eventuell verbleibender Restschaden nach Maßgabe dieses Abkommens abgewickelt. Das gilt nicht, wenn der Vorabregress auf einem Teilungsabkommen mit dem Haftpflichtversicherer des Dritten beruht; in solchen Fällen wird der verbleibende Restschaden der A. nicht in Rechnung gestellt.
(4) Führt ein Regress der Kasse bei einem Dritten zu Rückgriffsansprüchen gegenüber der A. bzw. der bei ihr Versicherten, so hat die Kasse der A. den eine abkommensgemäßen Beteiligung übersteigenden Betrag zurückzuerstatten.
(5) Sofern sich Regressansprüche gegen ein unfallbeteiligtes Gespann (Zugfahrzeug mit Anhänger/Auflieger) richten, kann die Krankenkasse - unabhängig davon, ob der Anhänger/Auflieger zum Unfallzeitpunkt mit dem Zugfahrzeug noch verbunden war - nur den KH-Versicherer des Zugfahrzeugs in Anspruch nehmen, außer
- Das Zugfahrzeugzeug ist nicht ermittelbar oder
- Das Zugfahrzeug ist nicht versichert oder
- Das Zugfahrzeug ist nicht in Deutschland versichert oder
- Es besteht ein Verweisungsprivileg zugunsten des Zugfahrzeuges nach § 117 VVG, jedoch nur hinsichtlich des Verweisungsbetrages.
8
§ 19 RTA enthält eine Schlichtungsregel:
Bestehen unterschiedliche Auffassungen zwischen einer dem Abkommen beigetretenen Krankenkasse und der A. zur Auslegung und Anwendung des Abkommens, kann der Regressanspruch erst dann rechtshängig gemacht werden, wenn vorher eine Erörterung der Streitpunkte zwischen dem AOK-Bundesverband bzw. dem von diesem Beauftragten und der Hauptverwaltung der A. stattgefunden hat. Die zur Durchführung des Schiedsgesprächs berufenen Vertreter der Vertragsparteien sind berechtigt, im Einzelfall einvernehmlich auf die Durchführung eines Erörterungsgesprächs zu verzichten.
9
Im Rahmen der Klage beansprucht die Klägerin Ausgleich für Zahlungen aus 3 Schadensereignissen. Die streitgegenständlichen Fälle haben gemeinsam, dass die Beklagte jeweils aus übergegangenem Recht Ansprüche eines bei einem Verkehrsunfall Verletzten und bei ihr gesetzlich Krankenversicherten geltend macht, während die Klägerin als Haftpflichtversicherer eines unfallverursachenden Kraftfahrzeugs dem Versicherten der Beklagten jeweils gesamtschuldnerisch mit einem Dritten (Haftpflichtversicherer des Kfz, in welchem der bei der Beklagten Versicherte saß) haftet. Die Beklagte machte ihre Regressansprüche jeweils nicht gegenüber der Klägerin geltend, sondern gegen den Haftpflichtversicherer des Dritten. Dieser haftet dem Versicherten der Beklagten jeweils aus Betriebsgefahr nach § 7 StVG zu 100%. Der Haftpflichtversicherer des Dritten wiederum nahm die Klägerin im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs wegen bestehender Verschuldenshaftung des bei der Klägerin Versicherten zu 100% in Regress.
10
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Fälle:
- Zum Aktenzeichen der Beklagten … nahm die Beklagte für ihre Versicherte … bei der … Versicherung AG in Höhe von 728,75 € für ihre Aufwendungen Regress. Zugunsten der Beklagten ergibt sich eine Differenz in Höhe von 188,65 €, die sie bei direkter Inanspruchnahme der Klägerin im Rahmen des Teilungsabkommens nicht erhalten hätte.
- Zum Aktenzeichen der Beklagten … erhielt die Beklagte ihre Aufwendungen in Höhe von 994,47 € von der …. Zugunsten der Klägerin ergibt sich eine Differenz von 308,22 €.
- Zum Aktenzeichen der Beklagten … erhielt die Beklagte ihre Aufwendungen in Höhe von 556,75 € von der … ersetzt. Gegenüber der direkten Inanspruchnahme der Klägerin ergibt sich eine Differenz von 114,27 € zugunsten der Beklagten.
11
Insgesamt beträgt die Differenz 611,14 €, die streitgegenständliche Klageforderung.
12
Die Klägerin meint, aufgrund der Vereinbarungen im Teilungsabkommen stehe der Beklagten der Gesamtbetrag von 611,14 € nicht zu. Die Beklagte habe hier unter Umgehung der vertraglichen Vereinbarung einen anderen Gesamtschuldner in Anspruch genommen, um in der Folge auf Kosten der Klägerin eine 100-prozentige Erstattung zu erlangen. Die Beklagte habe daher aus § 11 Abs. 4 RTA den über den Prozentsatz des Teilungsabkommens hinausgehenden Betrag an die Klägerin zurückzuerstatten.
13
Die Klägerin hat ursprünglich beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 1.025,99 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 31.07.2018 zu verurteilen. Mit Schriftsatz vom 27.04.2020 (Bl. 100 f. d.A.) hat die Klägerin die Klage teilweise zurückgenommen.
14
Die Klägerin beantragt nunmehr,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 611,14 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 31.07.2018 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
16
Zudem beantragt die Beklagte widerklagend:
17
Es wird festgestellt, dass die Beklagte nach dem Rahmenteilungsabkommen (RTA) zwischen dem AOK-Bundesverband und der A. V. AG (Klägerin) vom 01.07.2013 nicht verpflichtet ist, jeglichen Schadensfall eines Mitglieds der Beklagten, an dem ein Kfz-Halter und/oder -Führer bzw. Halter und Führer eines Anhängers oder Aufliegers, der bei der Klägerin versichert ist, beteiligt war ausschließlich über das RTA abzuwickeln, sondern dass die Beklagte stattdessen frei wählen darf, ob sie die Klägerin oder einen Dritten/anderen Kfz Haftpflichtversicherer in Anspruch nimmt. Nimmt die Beklagte einen Dritten/anderen Kfz-Haftpflichtversicherer in Anspruch, die Klägerin aber nicht, besteht kein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte gemäß § 11 Abs. 4 RTA, selbst wenn der Dritte/andere Kfz-Haftpflichtversicherer Rückgriff bei der Klägerin nimmt und dies zu einer Leistungsverpflichtung der Klägerin oberhalb der RTA-Quote führt.
18
Die Klägerin beantragt insoweit,
die Widerklage abzuweisen.
19
Die Beklagte meint, der Anwendungsbereich des RTA sei in den streitgegenständlichen Fällen schon gar nicht eröffnet, weil sie nicht die Klägerin in Anspruch genommen habe, sondern einen anderen Gesamtschuldner. Das RTA beschränke nicht das freie Wahlrecht jedes Gläubigers, sich an einen beliebigen Gesamtschuldner zu wenden. Das streitgegenständliche Vorgehen sei in den Regelungen des RTA „eingepreist“. Es sei nicht Sinn und Zweck des RTA die Beklagte zu zwingen, statt eine 100-prozentige Regressmöglichkeit zu nutzen ausschließlich auf die Klägerin nach Maßgabe einer 55-prozentigen RTA-Quote zurückzugreifen. Dies sei mit der, der Beklagten aus § 76 Abs. 1 SGB IV obliegenden Verpflichtung, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben, nicht in Einklang zu bringen. Darüber hinaus beziehe sich § 11 Abs. 4 RTA nur auf die Regelung des § 11 Abs. 2 RTA, welcher voraussetze, dass die Beklagte zunächst die Klägerin in Anspruch nehme. Ein Doppelregressverbot sei explizit nicht vereinbart und dem Parteiwillen auch nicht zu entnehmen. Hilfsweise ist die Beklagte der Auffassung, dass die Klage wegen Missachtung der in § 19 RTA vereinbarten Schlichtungsregelung schon unzulässig sei.
20
Hinsichtlich der Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die wechselseitigen Schriftsätze verwiesen. Mit Beschluss vom 26.03.2020 hat die Kammer den Rechtsstreit nach § 348 Abs. 3 Satz 2 ZPO übernommen. Eine Beweisaufnahme hat nicht stattgefunden. Mit Einverständnis der Parteien hat die Kammer am 07.05.2020 die Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO beschlossen. Als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden konnten, war der 04.06.2020 bzw. verlängert der 08.07.2020 bestimmt.

Entscheidungsgründe

A.
21
Die Klage ist, soweit sie noch rechtshängig ist, zulässig und vollumfänglich begründet. Die Widerklage hingegen ist zum Teil unzulässig, im Übrigen auch unbegründet und war daher abzuweisen.
I. Zur Zulässigkeit:
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1. Die in § 19 RTA (“Schlichtungsregel“) vereinbarte, vorgelagerte Durchführung eines „Schiedsverfahrens“ steht der Zulässigkeit der Klage vorliegend nicht entgegen. Unstreitig wurde das Schiedsgespräch in einem der drei streitgegenständlichen Fälle durchgeführt. Ausweislich der im Weiterem unbestritten gebliebenen Ausführungen der Klägerin (Bl. 58, 61 d.A.) scheiterte dieses Schiedsgespräch, eine Einigung hinsichtlich der hier streitigen grundsätzlichen Frage konnte nicht erzielt werden. Die Beklagte ließ per E-Mail vom 10.04.2019 darauf hinweisen, dass die Stellungnahme bezüglich des ersten Falles auch Geltung bezüglich der weiteren beiden Fälle habe. Die Schiedsverfahren sind daher hinsichtlich aller drei streitgegenständlichen Fälle als gescheitert zu betrachten.
23
Der Zulässigkeit der Widerklage steht § 19 RTA bereits deshalb nicht entgegen, da sich die Widerbeklagte/Klägerin ausdrücklich nicht auf eine vorrangige „Erörterung der Streitpunkte“ beruft (vgl. BGH Urt. v. 16.8.2018 - III ZR 267/16).
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2. Die Widerklage ist allerdings insoweit unzulässig, als sie in Satz 1 des Widerklageantrags ein „freies Wahlrecht“ der Beklagten festgestellt wissen will.
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Die Kammer hat mit Hinweis-Beschluss vom 06.04.2020 darauf hingewiesen, dass die Klägerin die im Widerklageantrag in Satz 1 beschriebene Vorgehensweise der Beklagten („freies Wahlrecht“) nicht in Abrede stellt (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 28.11.2019 S. 3, Gerichtsakte S. 62). Damit aber fehlt es der Beklagten - zumindest bzw. nur insoweit - an dem nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderlichen Rechtsschutzinteresse für eine entsprechende Feststellung.
II. Zur Klage:
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1. Der Klägerin steht der geltend gemachte Zahlungsanspruch aus § 11 Abs. 4 RTA in der zuletzt noch geltend gemachten Höhe von insgesamt 611,14 € zu.
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a) Der Anwendungsbereich des RTA ist in den streitgegenständlichen Fällen eröffnet.
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Die Rechtsfrage der Eröffnung des Anwendungsbereichs des RTA für die streitgegenständlichen Konstellationen erfordert eine Auslegung des zwischen den Parteien bestehenden RTA gemäß §§ 133, 157 BGB. Die Auslegung von Teilungsabkommen hat nach der Rechtsprechung des BGH vom Wortlaut ausgehend den Sinngehalt der Regelungen unter Berücksichtigung der Interessenlage der Vertragspartner im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu ermitteln (BGH v. 12.6.2007 - VI ZR 110/06, Rn. 10).
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Die Kammer ist der Auffassung, dass der Gesamtkontext der im RTA getroffenen Regelungen zwingend gebietet, dass diese Regelungen für jegliche Form des Regresses zwischen den Parteien Geltung entfalten sollen. In diesem Gesamtkontext ist auch der Wortlaut des § 11 Abs. 1 RTA zu sehen, wonach die Regressansprüche (Anmerkung der Kammer: sämtliche) der beigetretenen Krankenkasse mit der abkommensgemäßen Beteiligung sowohl gegenüber der A. als auch gegenüber den bei ihr versicherten Personen abgefunden sind.
30
Nach diesem Verständnis wäre es zu kurz gegriffen, nur auf den Wortlaut der Präambel sowie des § 1 Abs. 1 abzustellen, worin jeweils davon die Rede ist, dass Ansprüche der beigetretenen Krankenkasse gegen die Klägerin „erhoben“ werden, was hier ja unstreitig nicht - zumindest nicht unmittelbar - der Fall war.
31
b) Die Kammer stützt ihre Auslegung maßgeblich auf folgende Erwägungen:
32
Der Regelung des § 11 Abs. 2 RTA ist zu entnehmen, dass eine Belastung der Klägerin über das im Rahmenteilungsabkommen quotenmäßig Vereinbarte hinaus durch das Regressverhalten der Beklagten nicht möglich sein soll: „Sind an der Entstehung des Schadensfalles außer den bei der A. versicherten Personen noch Dritte beteiligt, so kann die Kasse wegen des über die abkommensgemäße Beteiligung hinausgehenden Restschadens nur dann einen weiteren Regress nehmen, wenn sie mit dem Haftpflichtversicherer des Dritten kein Teilungsabkommen unterhält und nur unter der Voraussetzung, dass dadurch nicht Ausgleichsansprüche des Dritten jedweder Art gegen die A. oder die bei ihr versicherten Personen entstehen würden“. So ist zwar zutreffend, dass durch das Teilungsabkommen im Außenverhältnis (!) die freie Wahl der Inanspruchnahme eines von mehreren Gesamtschuldnern nicht eingeschränkt ist; entgegen der Auffassung der Beklagten zieht das RTA aber im Innenverhältnis faktische (betragliche) Grenzen, denen sich die Beklagte mit dem Abkommen selbst unterworfen hat - dies nach dem Verständnis der Kammer auch in der streitgegenständlichen Konstellation.
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Soweit die Beklagte behauptet, ihr Vorgehen sei im RTA von vorneherein, schon seit Jahrzehnten und mit Wissen der Klägerin „eingepreist“, mithin eine Mehrbelastung der Klägerin in Einzelfällen Teil der Vereinbarung, so führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Beklagte ist für diese - ihr günstige - streitige Behauptung darlegungs- und beweisbelastet. Die Beklagte behauptet nämlich damit ein Verständnis bzw. eine Handhabung zwischen den Parteien mit Ausnahmecharakter, welche im Widerspruch zu sämtlichen sonstigen Regelungen des RTA stünde, das gerade auf eine umfassende Regelung des Ausgleichsverhältnisses der Beteiligten abzielt. Ausdrücklichen Niederschlag findet diese behauptete Ausnahmeregelung im RTA nicht. Die Klägerin hat eine dahingehende Vereinbarung ausdrücklich in Abrede gestellt. Beweis hat die Beklagte nicht angeboten, sodass sie insoweit beweisfällig geblieben und dieser Aspekt im Rahmen der Auslegung nicht zu berücksichtigen ist.
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Die Kammer verkennt auch nicht, dass § 11 Abs. 2 RTA den Fall regelt, in dem die Beklagte zunächst die Klägerin in Anspruch nimmt. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass der Anwendungsbereich des RTA für die streitgegenständlichen Fälle ausgeschlossen sein soll. Vielmehr ist aus dem Gesamt-Kontext der Vereinbarung das Gegenteil zu entnehmen.
35
Auch § 6 Abs. 1 RTA macht dieses Verständnis deutlich. Dort heißt es: „Das Abkommen findet Anwendung, wenn und soweit die A. aus dem den Regressansprüchen zugrunde liegenden Schadenfall Versicherungsschutz zu gewähren hat.“ Dies ist vorliegend unstreitig der Fall.
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Soweit die Beklagte zutreffend ausführt, dass § 6 Abs. 1 RTA eine Regelung für den Fall der Leistungsfreiheit der Klägerin beinhaltet, legt dies nach dem Verständnis der Kammer nicht gleichzeitig eine „Prüfungsreihenfolge“ fest, nach der § 6 Abs. 1 RTA erst dann bei der Auslegung berücksichtigungsfähig wäre, wenn die Beklagte tatsächlich Ansprüche gegenüber der Klägerin erheben würde. Überdies handelt es sich bei der Regelung ebenfalls um eine solche, die den Anwendungsbereich des RTA betrifft - diesmal konkret im Bezug auf die Frage der Leistungsfreiheit der Klägerin. Wie oben ausgeführt, ist aber auch ihr die grundsätzliche Wertung zu entnehmen - welche die Kammer der Gesamtvereinbarung entnimmt -, dass das RTA für all jene Fälle Anwendung finden soll, in denen die Klägerin als Haftpflichtversicherer zu haften hat.
37
Das Vorgehen der Beklagten ist damit zwar nicht ausdrücklich durch das RTA verboten, es handelt sich aber nach Auffassung der Kammer um eine Umgehung des Abkommens als umfassender Regelung zwischen den Beteiligten zur Verteilung des Risikos. Der Wille beider Seiten geht ersichtlich dahin, einen Schadensfall im Verhältnis zueinander mit der Regulierung aufgrund des Abkommens abschließend zu erledigen. Die in § 1 Abs. 1 RTA vereinbarte Deckungsquote von 55% bestimmt im Verhältnis der Abkommenspartner den Belastungsrahmen und die Belastungsgrenze für den Haftpflichtversicherer (vgl. BGH 14.7.1976 - IV ZR 239/74, juris Rn. 17, 24). Damit entspricht es gerade dem Willen der Parteien, dass keine der Vertragsparteien ihr Wahlrecht zulasten der anderen Partei ausüben kann. Dies ergibt sich letztlich auch aus der Regelung des § 11 Abs. 4 RTA. Mit dieser Regelung soll eine ungerechtfertigte Bereicherung der Beklagten zulasten der Klägerin durch Ausübung des Wahlrechts bei der Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners wieder ausgeglichen werden, um die zwischen den Parteien des RTA vereinbarte Quote im Gleichgewicht zu halten. Demnach bedarf es nach Auffassung der Kammer auch nicht der Vereinbarung eines Mehrfach-Regressverbots, um für das beklagtenseits gewählte Vorgehen den Anwendungsbereich des RTA als eröffnet zu erachten.
38
§ 11 Abs. 4 RTA schneidet damit nicht das Wahlrecht der Beklagten ab, sondern trifft eine Regelung für den Fall, in dem die Inanspruchnahme eines Dritten im Rahmen dieses Wahlrechts zu einer Eintrittspflicht der Klägerin führt, die über das Teilungsabkommen hinausgeht. Soweit die Beklagte moniert, dass dieses Verständnis de facto zu einem völligen Leerlaufen des bloß hypothetisch im Außenverhältnis bewilligten Wahlrechts der Beklagten führen würde, so ist dies einerseits nicht richtig, weil eine Ausgleichspflicht gegenüber der Klägerin in einem weiteren Schritt deren erfolgreiche Inanspruchnahme durch den Dritten voraussetzt (was zwar praktisch häufig der Fall sein wird, jedoch nicht zwingend ist). Damit sind durchaus Fälle denkbar, in denen die Beklagte ihr Wahlrecht durch Inanspruchnahme eines Dritten ausüben kann, ohne sich gleichzeitig einem Ausgleichsanspruch seitens der Klägerin ausgesetzt zu sehen. Für die Fälle der hier streitgegenständlichen Art, in denen nach erfolgtem Regress durch den Dritten über § 11 Abs. 4 RTA ein Ausgleich vorzunehmen ist, entspricht dies aber tatsächlich der Auslegung des Parteiwillens anhand der Vereinbarungen im RTA und stellt kein Doppelregressverbot dar. Die Beklagte kann im Außenverhältnis uneingeschränkt Dritte in Anspruch nehmen, solange sich dies nicht zulasten der Klägerin auswirkt. Vielmehr ist lediglich nach Ausübung des Wahlrechts im Innenverhältnis das zu Lasten der Klägerin Erlangte zurückzugewähren.
39
Darüberhinaus spricht auch die Regelung des § 11 Abs. 5 RTA - wenn auch in anderem Kontext - dafür, dass Vereinbarungen der Parteien zur Einschränkung des Wahlrechts bei der Inanspruchnahme von Gesamtschuldnern durchaus vom Parteiwillen getragen sind.
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Die Kammer teilt auch die Einschätzung nicht, der Anwendungsbereich des § 11 Abs. 4 RTA sei (ausschließlich) auf die Fälle des § 11 Abs. 2 RTA beschränkt (Schriftsatz des Beklagtenvertreters v. 04.05.2020 S. 7, Bl. 111 d.A.). Sie ist dem Wortlaut der Regelung in keiner Weise zu entnehmen und auch nach Sinn und Zweck der Gesamtregelung nicht nachvollziehbar. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit die Reihenfolge der gewählten Inanspruchnahme der Gesamtschuldner durch die Beklagte Einfluss auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Regressanspruches der Klägerin haben könnte. Oder anders formuliert: Für die Aufrechterhaltung der vereinbarten Risikoverteilung zwischen den Parteien kann es keinen Unterschied machen, ob die Beklagte sich zunächst an die Klägerin wendet und in der Folge weitere Regressansprüche bei einem Dritten geltend macht, die wiederum Regressansprüche gegenüber der Klägerin zur Folge haben, oder ob sich die Klägerin sofort an den Dritten wendet, der aus Betriebsgefahr haftet und dementsprechend 100% an die Beklagte zu erstatten hat, und sich dies wiederum zu 100% von der Klägerin erstatten lässt.
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Auch der Wortlaut des § 11 Abs. 4 RTA gibt eine Beschränkung des Anwendungsbereichs auf § 11 Abs. 2 RTA nicht her. Dort ist davon die Rede, dass „ein“ Regress der Kasse bei einem Dritten zu Rückgriffsansprüchen gegenüber der Klägerin führt. Eine Beschränkung auf einen Nach- bzw. Vorabregress enthält die Regelung hingegen nicht. Nach allgemeinem Verständnis ist damit jede Form des Regresses und damit auch der Vorliegende gemeint.
42
Schließlich spricht auch der systematische Aufbau des § 11 RTA nicht für die Auslegung der Beklagten. Wäre eine Beschränkung des Rückforderungsanspruchs lediglich auf die Fälle des Nachregresses des § 11 Abs. 2 RTA gewünscht gewesen, hätte diese Rückforderungsklausel unproblematisch in § 11 Abs. 2 aufgenommen werden können. Die Bildung eines eigenen Absatzes spricht gegen eine derartige Auslegung des hinsichtlich seiner Regelungsinhalte heterogen wirkenden § 11 RTA.
43
Anders als die Beklagte sieht die Kammer in der Anwendbarkeit des § 11 Abs. 4 RTA auch nicht den angemessenen Risikoausgleich gefährdet, der durch den Abschluss des RTA bezweckt ist. Eine Gefährdung stellt insoweit allenfalls das von der Beklagten angestrebte Vorgehen dar. Nach dem Verständnis der Kammer soll durch das RTA ein umfassender Ausgleich der zwischen den Parteien bestehenden Regressbeziehungen gewährleistet werden. Damit beinhaltet das Gesetz der großen Zahl einerseits die Fälle, in denen die Klägerin nach Haftungsrecht 100% zu tragen hätte - wie hier -, andererseits aber auch die Fälle in denen die Klägerin quotenmäßig tatsächlich weniger zu leisten hätte. Die streitgegenständlichen Fälle sind bei der Berechnung einer angemessenen Ausgleichsquote zu berücksichtigen. Der angemessene Risikoausgleich wäre immer dann gestört, wenn die Beklagte unter Umgehung der Vereinbarungen des RTA auf Kosten der Klägerin einen höheren als den vereinbarten Prozentsatz erlangen könnte.
44
Damit ist nach Auffassung der Kammer der Anwendungsbereich des RTA eröffnet, wenn eine entsprechende Regressbeziehung zwischen den Parteien besteht, unabhängig davon ob die Beklagte die Klägerin direkt in Anspruch nimmt oder sich (zunächst) an einen weiteren Gesamtschuldner wendet, von dem sie vollen Ausgleich ohne Berücksichtigung der Quote eines Teilungsabkommens verlangen kann. Dementsprechend ist vorliegend auch der Anwendungsbereich des § 11 Abs. 4 RTA eröffnet.
45
c) Letztlich greift auch der Hinweis auf § 76 Abs. 1 SGB IV nicht zugunsten der Beklagten durch.
46
Insoweit ist auf die ersichtlich vorrangige Sonderregelung des § 116 Abs. 9 SGB X zu verweisen. Dieser erlaubt die mit Teilungsabkommen stets verbundene Pauschalierung ausdrücklich und schränkt so die Erhebungspflicht nach § 76 Abs. 1 SGB IV ein (von Boetticher in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 3. Aufl., § 76 SGB IV (Stand: 01.03.2016) Rn. 19).
47
d) Die Klägerin hat mit der Klage vorgetragen, dass sie ihrerseits den Gesamtschuldnerausgleich zu 100% bedient hat (Klageschrift S. 4), mithin tatsächlich Zahlungen in streitgegenständlicher Höhe erbracht hat, die die Beklagte entlasten. Auch die Klageerwiderung geht davon aus, dass die Klägerin die an sie gerichtete Ausgleichsforderung „gezahlt hat“ (Klageerwiderung S. 16). Soweit die Beklagte gleichwohl moniert, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass sie infolge der Inanspruchnahme durch den weiteren Gesamtschuldner die entsprechenden Beträge auch tatsächlich überwiesen habe, kommt es hierauf entscheidungserheblich nicht an. Die Klägerin wurde - was zwischen den Parteien unstreitig ist - im Rahmen des Gesamtschuldnerausgleichs in Anspruch genommen. Diese Inanspruchnahme reicht für das Entstehen des Regressanspruchs aus. Ausweislich der Vereinbarung in § 11 Abs. 4 RTA knüpft der Regressanspruch an „Rückgriffsansprüche“ und nicht an deren Befriedigung an.
48
2. Der Höhe nach ist die Klageforderung zwischen den Parteien nicht (mehr) im Streit.
49
Die Beklagte hat eine etwaige Rückforderung auf der Grundlage ihrer Berechnung mit 611,14 € beziffert. Durch die hierauf erklärte entsprechende Klagerücknahme hat die Klägerin den Bestand der Klageforderung erkennbar als nur in dieser Höhe bestehend unstreitig gestellt.
50
Der Anspruch ist damit in der geltend gemachten Höhe von 611,14 € berechtigt.
51
3. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, 288 Abs. 1 BGB.
III. Zur Widerklage:
52
Die Widerklage ist - soweit zulässig - unbegründet. Nach den obigen Ausführungen besteht in den streitgegenständlichen Konstellationen ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte aus § 11 Abs. 4 RTA, sodass die mit Satz 2 des Widerklageantrags beantragte Feststellung nicht auszusprechen ist.
B.
53
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 91 Abs. 1 S. 1, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Soweit die Klage zurückgenommen ist, hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen.
54
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.