Titel:
Arbeitnehmer, Arbeitszeit, Erkrankung, Personalrat, Arbeitgeber, Manteltarifvertrag, Arbeitsleistung, Betreuung, Abmahnung, Wirksamkeit, Arbeitsbedingungen, Erledigung, Auslauffrist, Anlage, wichtiger Grund, milderes Mittel
Schlagworte:
Arbeitnehmer, Arbeitszeit, Erkrankung, Personalrat, Arbeitgeber, Manteltarifvertrag, Arbeitsleistung, Betreuung, Abmahnung, Wirksamkeit, Arbeitsbedingungen, Erledigung, Auslauffrist, Anlage, wichtiger Grund, milderes Mittel
Rechtsmittelinstanz:
LArbG München, Urteil vom 14.10.2021 – 3 Sa 83/21
Fundstelle:
BeckRS 2020, 53307
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 12.07.2019 nicht aufgelöst ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Sekretärin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weiterzubeschäftigen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
4. Der Streitwert wird auf 18.389,28 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.
2
Die am 00.00.1972 geborene, zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Klägerin war seit dem 01.11.1996 bei der Beklagten als Sekretärin zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von zuletzt € 4.597,32 beschäftigt.
3
Auf das Arbeitsverhältnis findet der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer/Innen des B. Anwendung.
4
Tarifziffer 275.1 lautet:
„Der B. kann das unbefristete Arbeitsverhältnis mit einem/einer AN, der/die das
35. Lebensjahr vollendet hat und dessen/deren Betriebszugehörigkeit mehr als zehn Jahre beträgt, nur mehr aus wichtigem Grunde kündigen. Für Orchester- und Chormitglieder gilt diese Bestimmung bereits nach einer Betriebszugehörigkeit von vier auf die Probezeit folgenden Jahren.“
5
Tarifziffer 275.2 lautet:
„Ist dieser wichtige Grund eine dauernde Minderleistung des/der AN, ist der B. verpflichtet, dem/der AN eine zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags anzubieten. Bei diesem Angebot soll die Vorbildung des/der AN berücksichtigt werden.“
6
Die Klägerin war bei der Beklagten als Sekretärin angestellt. Gemäß den tarifvertraglichen Regelungen war die Klägerin bei der so genannten Richtposition „Sekretärin B“ zugeordnet und wurde nach der Gehaltsgruppe 6 Stufe 8 vergütet. Seit dem Jahr 2007 wurde die Klägerin in der Hörfunkdirektion im Programmbereich BR-Klassik, Redaktion Musikwelten beschäftigt (vgl. im Einzelnen Beklagtenschriftsatz vom 06.08.2020, S. 4, Bl. 147 d.A.; auf den Inhalt im Einzelnen wird Bezug genommen). Die Redaktion Musikwelten wurde seit dem Jahr 2012 von Frau S. geleitet.
7
Am 14.07.2017 fand ein Gespräch mit der Klägerin statt, im Rahmen dessen Frau S. mit der Klägerin Vorgänge der letzten beiden Wochen durchging, die zu langem E-Mail-Verkehr und großen zeitlichem Aufwand für Frau H. und Frau S. geführt hatten. In einer EMail vom 14.07.2017 fasste Frau S. für die Klägerin den Inhalt des Gesprächs und die einzelnen Vorgänge zusammen. Sie kam in der E-Mail zu dem Resümee, dass die Arbeitsleistung der Klägerin weit davon entfernt sei, in Ordnung zu sein (vgl. im Einzelnen Schriftsatz der Beklagten vom 06.08.2020, S. 7, Bl. 150 d.A. sowie Anlage B13, Bl. 195 d.A.; auf den Inhalt im Einzelnen wird Bezug genommen).
8
Die Klägerin wurde im Jahr 2015 und zweimal im Jahr 2018 wegen falscher Arbeitszeitaufschriebe abgemahnt (vgl. näher Schriftsatz der Beklagten vom 06.08.2020, S. 8 f., Bl. 151 f. d.A. sowie die Anlagen B14 bis B16, Bl. 198 ff. d.A.).
9
In einer Ermahnung vom 10.08.2018 von Frau S. wurde die Klägerin daran erinnert, darauf zu achten, wie viel Zeit sie für einzelne Tätigkeiten benötigt. In einer weiteren Ermahnung vom 15.10.2018 wurde gerügt, dass die Klägerin am 14.09.2018 nicht zur Arbeit erschienen sei (vgl. im Einzelnen Schriftsatz der Beklagten vom 06.08.2020, S. 9 f. sowie Anlagen B17 und B18, Bl. 201 f. d.A.).
10
Der Klägerin wurde von Frau S. und Frau G. in einem Gespräch am 29.03.2019 erläutert, welche Aufgaben sie zu erledigen habe. Zur Verdeutlichung erhielt die Klägerin eine schriftliche Zusammenfassung ihrer Aufgabenbereiche und eine detaillierte Übersicht, welche Tätigkeiten ihr Arbeitsfeld konkret umfasst. Zugleich wurde mit der Klägerin vereinbart, dass sie bis auf Weiteres einen Tätigkeitsnachweis erstellt und Frau S. bzw. Frau G. vorlegt.
11
Am 03.04.2019 erteilte Frau S. der Klägerin den Auftrag, aus drei Fachzeitschriften insgesamt 36 Fachartikel zu scannen, zu beschriften und im Gruppen-Laufwerk abzulegen. Aufgrund zahlreicher, von der Klägerin bei der Umsetzung dieses Arbeitsauftrages verursachten Fehler, sah sich Frau S. gezwungen, die Arbeit sowohl am 10.04.2019 als auch erneut am 23.04.2019 umfänglich zu beanstanden und die Klägerin zur Korrektur der Fehler aufzufordern. Des Weiteren forderte Frau S. die Klägerin auf, ihr bis zum 26.04.2019 die korrigierten, fehlerfreien Fassungen zu erstellen und die originalen Zeitschriften zurückzubringen. Diese Vorgaben hielt die Klägerin nicht ein. Erst am 29.04.2019 lieferte die Klägerin ihre Arbeitsergebnisse ab. Nach deren Durchsicht musste Frau S. feststellen, dass diese wiederum zahlreiche Fehler enthielten. Für den Arbeitsauftrag wendete die Klägerin laut ihrer Tätigkeitsberichte mehrere Arbeitstage auf. Die Beklagte sah sich in der Folge erneut dazu veranlasst, die Klägerin abzumahnen (vgl. im Einzelnen zum Auftrag vom 03.04.2019 und den darauffolgenden Vorgängen: Schriftsatz der Beklagten vom 06.08.2020, S. 10 f., Bl. 159 f. d.A. sowie die Anlagen B20 bis B23, Bl. 206 ff. d.A.; auf den Inhalt im Einzelnen wird Bezug genommen).
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Für den Terminkalender sollte die Klägerin 23 Seiten kopieren. Bei der regelmäßigen Prüfung der von der Klägerin zu erledigenden Aufgaben musste eine Kollegin der Klägerin am 25.04.2019 feststellen, dass die Klägerin tatsächlich nur 21 Seiten kopiert hatte, wobei neun Seiten auch noch mangelhaft kopiert waren. In der Folge erteilte die Beklagte der Klägerin wegen dieses Vorgangs eine Abmahnung vom 04.06.2019 (vgl. Anlage B25, Bl. 214 d.A.; auf den Inhalt wird Bezug genommen). Am 09.05.2019 sollte die Klägerin Kopien von sieben Rahmenverträgen fertigen. Bei einer anschließenden Kontrolle musste Frau G. feststellen, dass die Klägerin von den sieben Rahmenverträgen einen Rahmenvertrag gar nicht kopiert und zwei fehlerhaft kopiert hatte. Es wurde wiederum eine Abmahnung ausgesprochen (vgl. Anlage B26, Bl. 221 d.A.; auf den Inhalt wird Bezug genommen). Am 20.05.2019 fand Frau H. mehrere Booklet-Kopien, deren Digitalisierung bereits erledigt war und die nicht aus der Wiedervorlagemappe entfernt worden waren, die ältesten davon von Anfang April 2019. Wegen einer aus Sicht der Beklagten bestehenden Fehlleistung in diesem Bereich wurde die Klägerin mit Abmahnungsschreiben vom 04.06.2019 abgemahnt (vgl. Anlage B27, Bl. 223 f. d.A.; auf den Inhalt wird Bezug genommen). Zwei weitere Abmahnungsschreiben vom 04.06.2019 rügten aus Sicht der Beklagten vorhandene Diskrepanzen zwischen den Zeitaufschrieben der Klägerin und der von ihr geschuldeten Arbeitszeit (vgl. Anlage B28, Bl. 225 ff. d.A.; auf den Inhalt wird Bezug genommen). Am 04.06.2019 erhielt die Klägerin von Frau S. schließlich den Arbeitsauftrag, 24 Fachartikel aus der Zeitschrift „Jazzthetik“ im Umfang von 46 Seiten zu scannen und unter dem Namen der/des jeweiligen Künstlers/in und Angabe der Ausgabe der jeweiligen Zeitschrift im Gruppen-Laufwerk/L-Musik/Artikel abzulegen. Der Auftrag sollte dabei bis zum 07.06.2019 zu erledigen sein. Frau S. wies dabei auf die bekannten Regeln zur Erledigung des wiederholt anfallenden Arbeitsauftrags hin, die sie der Klägerin bereits mit E-Mail vom 05.05.2019 erläutert hatte. Das von der Klägerin letztlich erbrachte Arbeitsergebnis war fehlerhaft und zum Großteil unbrauchbar. Es war infolgedessen insgesamt nicht verwertbar. Durch die mangelhafte Bildqualität waren die Artikel nicht ohne große Anstrengung auf dem Bildschirm zu lesen. Auch nach dem Ausdrucken blieb das gescannte Material kaum lesbar. Zudem benötigte die Klägerin für das Scannen und Ablegen der 46 Seiten ihren eigenen Angaben zufolge insgesamt eine Arbeitszeit von knapp elf Stunden (vgl. im Einzelnen Schriftsatz der Beklagten vom 06.08.2020, S. 13 f., Bl. 156 f. d.A. sowie Anlagen B29 und B30, Bl. 237 ff. d.A.; auf den Inhalt im Einzelnen wird Bezug genommen).
13
Die Beklagte hörte den bei ihr gebildeten örtlichen Personalrat mit Schreiben vom 08.07.2019 zu einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses an (vgl. Personalratsanhörung vom 08.07.2019 nebst Anlagen, Anlage B32, Bl. 269 ff. d.A.; auf den Inhalt der Personalratsanhörung im Einzelnen wird vollumfänglich Bezug genommen). Der Personalrat widersprach der beabsichtigten Kündigung mit Schreiben vom 11.07.2019 (Anlage B33, Bl. 373 ff. d.A.).
14
Mit Schreiben vom 12.07.2019 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit Auslauffrist zum 31.12.2020 (vgl. Kündigungsschreiben vom 12.07.2019, Anlage K3, Bl. 13 d.A.).
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Die Klägerin litt seit mehreren Jahren an einer psychischen Erkrankung, die episodenhaft verlief. Die Klägerin befand sich in psychotherapeutischer und psychiatrischer Behandlung, in der sie auch medikamentös behandelt wurde. In einem Gespräch zwischen dem behandelnden Psychiater der Klägerin und der Prozessbevollmächtigten der Klägerin stellte sich heraus, dass die Klägerin in eine zunehmende Abhängigkeit von so genannten Benzodiazepin (Lorazepam, so genannte Tranquilizer) geraten war. Diese Medikation war langfristig nicht zur Behandlung der Grunderkrankung der Klägerin geeignet. Die Klägerin hatte aufgrund der beruhigenden Wirkung von Benzodiazepin in der Vergangenheit Lorazepam als Dauermedikation konsumiert und hatte hierdurch eine Abhängigkeit entwickelt. Der dauerhafte Konsum konnte zu einer leichten Sedierung und zu kognitiven Störungen führen. Die Klägerin bemühte sich daraufhin einen Platz in einer Entzugsklinik. Auf der Grundlage einer Einweisung durch ihren behandelnden Psychiater vom 09.09.2020 begann sie ab dem 05.10.2020 einen Entzug.
16
Mit ihrer am 26.07.2019 beim Arbeitsgericht München eingegangenen Klage macht die Klägerin geltend, die Kündigung sei unwirksam.
17
Die Klägerin beantragt zuletzt,
- 1.
-
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung des Beklagten vom 12.07.2019 nicht aufgelöst ist.
- 2.
-
Der Beklagte wird verurteilt, die Klägerin für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag zu 1. zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Sekretärin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weiterzubeschäftigen.
18
Die Beklagte beantragt,
19
Die Beklagte trägt vor, schon im Jahr 2012, als Frau S. die Leitung der Redaktion übernommen habe, seien die von der Klägerin zu erledigenden Tätigkeiten als Sekretärin bereits in erheblichem Umfang an die schon damals aufgetretene verminderte Leistungsfähigkeit der Klägerin angepasst worden. Wegen der hohen Fehlerquote der Klägerin und weil die Klägerin selbst regelmäßige Standardvorgänge nicht habe eigenständig bearbeiten können, sei die Klägerin von Frau S. und Frau H. zusätzlich durch ein intensives Coaching und durch regelmäßige Feedback-Gespräche unterstützt und begleitet worden. Frau S. und die Kolleginnen der Klägerin hätten jedoch feststellen müssen, dass sich die Leistungsdefizite der Klägerin immer weiter verstärkt hätten und die Klägerin letztlich aufgrund ihrer Fehlerhäufigkeit selbst bei einfachsten Tätigkeiten nicht ohne intensive Betreuung und Kontrolle mehr einsetzbar gewesen sei (vgl. im Einzelnen Beklagtenschriftsatz vom 06.08.2020, S. 6, Bl. 149 d.A.; auf den Inhalt wird Bezug genommen).
20
Die Beklagte behauptet, nachdem sich die Leistungsdefizite der Klägerin weiter verstärkt und gehäuft hätten, sei es im Jahr 2017 erneut zu mehreren Gesprächen zwischen Frau S. und der Klägerin gekommen, in denen der Klägerin die unzureichenden Leistungen nochmals ausführlich aufgezeigt worden seien (vgl. Schriftsatz der Beklagten vom 06.08.2020, S. 6 f., Bl. 149 f. d.A. nebst Anlagen B2 bis B12, Bl. 171 ff. d.A.; auf den Inhalt im Einzelnen wird Bezug genommen).
21
Die Beklagte behauptet, die Aufgaben der Klägerin hätten sich im Wesentlichen nur noch auf Kopieren, Scannen und Botengänge beschränkt. Selbst derartige einfache Hilfstätigkeiten seien von der Klägerin nur noch mit einer Vielzahl von Fehlern ausgeführt worden. Dies habe einen enormen Kontroll- und Bearbeitungsaufwand bei den Kolleginnen verursacht.
22
Die Beklagte trägt vor, aus den Tätigkeitsnachweisen, die die Klägerin vor Ausspruch der Kündigung seit April 2019 täglich geführt hatte, gehe hervor, dass sie für einfachste Tätigkeiten einen nicht nachvollziehbaren hohen Zeitaufwand benötigt, der in Anbetracht der nachweislich von der Klägerin bei Ausübung dieser Tätigkeiten nicht erbrachten Sorgfalt umso schwerer wiege (vgl. Ausführungen der Beklagten im Schriftsatz vom 06.08.2020, S. 14 f., Bl. 157 f. d.A., Anlagenkonvolut B31, Bl. 258 ff. d.A.; auf den Inhalt im Einzelnen wird Bezug genommen).
23
Die Beklagte trägt vor, die Unfähigkeit der Klägerin, selbst die einfachsten vertragsgemäßen Sekretariatsaufgaben fehlerfrei in angemessenem zeitlichen Rahmen noch auszuführen sowie Arbeitsanweisungen und Anleitungen von vorgesetzten und Kolleginnen überhaupt zu begreifen, geschweige denn fehlerfrei umzusetzen, beruhe sehr wahrscheinlich auf einer psychischen Erkrankung der Klägerin und/oder ihrer Medikation.
24
Die Beklagte ist der Auffassung, die Klägerin sei aus personenbedingten sowie alternativ verhaltensbedingten Gründen außerordentlich mit einer der ordentlichen (fiktiven) Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist wirksam zum 31.12.2020 gekündigt worden. Die Klägerin sei infolge erheblicher persönlicher Leistungsdefizite auf unabsehbare Dauer nicht mehr in der Lage, ihre vertragliche Arbeitsleistung zu erfüllen. Die Beklagte meint, dass die erheblichen persönlichen Leistungsdefizite der Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr steuerbar seien, sodass es sich vorliegend um personen- und nicht verhaltensbedingte Gründe handele. Nichts desto trotz habe man das Verhalten der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung vorsorglich auch mehrfach abgemahnt.
25
Der Personalrat sei ordnungsgemäß angehört worden.
26
Anderweitige Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten für die Klägerin, bei denen sich die fehlende Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht negativ auswirken würde, seien von der Beklagten umfassend geprüft worden, bestünden jedoch nicht. Die Beklagte habe in der Vergangenheit bereits mehrere Anpassungen der Tätigkeit der Klägerin an ihre Leistungsunfähigkeit vorgenommen, wodurch die Leistungsstörung allerdings nie beseitigt habe werden können.
27
Die Beklagte vertritt die Meinung, es stehe kein milderes Mittel als die Kündigung zur Verfügung. Die in der Vergangenheit vorgenommenen Anpassungen der Tätigkeit der Klägerin an ihre verminderte Leistungsfähigkeit hätten die Leistungsstörung nicht beseitigen können. Vielmehr habe sich die Leistungsfähigkeit der Klägerin noch so stark verringert, dass sie zum Zeitpunkt der Kündigung unfähig gewesen sei, einfachste Arbeiten zu erbringen. Damalige Überlegungen, die Klägerin in der Postabteilung einzusetzen, in der bei der Beklagten noch geringere Arbeitsanforderungen gestellt werden, mussten im Anschluss an einen weiteren Vorgang verworfen werden: So sei es der Klägerin trotz expliziter Beschreibung, was genau sie zu erledigen habe, nicht einmal möglich gewesen, frankierte Rückumschläge von der Poststelle abzuholen. Hierdurch habe sich erneut bestätigt, dass die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Leistungsdefizite nicht in der Lage sei, einfachste Aufgaben zu erledigen. Ein Einsatz in der Poststelle würde daher aus Sicht der Beklagten zu den gleichen Problemen führen und sei daher ausgeschlossen. Andere Stellen würden aus dem gleichen Grund ausscheiden.
28
Es gebe bei der Beklagten weder eine andere freie Stelle noch eine sonstige Position, auf der die Klägerin hätte weiterbeschäftigt werden können. Die Beklagte habe vor Ausspruch der Kündigung alle etwa in Betracht kommenden Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten der Klägerin umfassend geprüft und eingehend sondiert, mit dem Ergebnis, dass keine Möglichkeit bestehe, die Klägerin auf einem anderen Arbeitsplatz oder zu anderen Arbeitsbedingungen zu beschäftigen. Aufgrund der in der Person der Klägerin liegenden Umstände sei deren Einsatz auch in anderen Bereichen nicht möglich. Tätigkeiten, die die Klägerin zukünftig erledigen könnte, ohne dass es zu gleichen Problemen kommen würde, gebe es bei der Beklagten nicht.
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Die Klägerin behauptet demgegenüber, aus den vorgelegten Zeitnachweisen gehe nicht hervor, dass sie einen exorbitanten Zeitaufwand für zugewiesene Tätigkeiten benötige. Zudem weist die Klägerin darauf hin, dass die Beklagte ihr überhaupt keine Tätigkeiten mehr zuweise, die ihrem Tätigkeitsprofil entsprächen.
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Die Abmahnungen seien teilweise nicht einschlägig, weil die Beklagte jedenfalls Verstöße gegen die Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Arbeitszeiterfassung nicht als den die Kündigung auslösenden Sachverhalt angebe. Die weiteren abgemahnten Vorfälle wirkten auf den ersten Blick erheblich, bei näherem Hinsehen handele es sich jedoch um Fehler, die entgegen des Vortrags der Beklagten nicht zu einer Unverwertbarkeit der Arbeitsleistung der Klägerin an sich geführt hätten.
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Die Anhörung des Personalrats ist nach Meinung der Klägerin nicht ordnungsgemäß erfolgt, da dieser vorrangig zu einer außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen angehört worden sei. Der Personalrat sei nicht in der Lage gewesen, sich ein Bild über die beabsichtigte Kündigung und deren Begründung zu machen.
32
Der Vortrag der Beklagten hinsichtlich der Prüfung anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten sei mangels Substantiiertheit nicht einlassungsfähig.
33
Jedenfalls sei es der Beklagten auch zuzumuten, der Klägerin einen Entzug von ihrer Medikamentenabhängigkeit zu ermöglichen. Nach erfolgreichem Entzug sei eine positive Prognose für den weiteren erfolgreichen Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu erwarten.
34
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
35
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Kündigung ist unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Die Klägerin kann von der Beklagten Weiterbeschäftigung verlangen.
36
Die Klage ist zulässig.
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Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist eröffnet gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3 a) und Nr. 3 b) ArbGG.
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Die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichtes A-Stadt ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 12, 17 ZPO Die Klage ist auch begründet.
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I. Der Kündigungsschutzantrag (Antrag zu 1) ist begründet. Die Kündigung vom 12.07.2019 ist unwirksam.
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1. Die Klägerin hat die Kündigung vom 12.07.2019 mit ihrer am 26.07.2019 bei Gericht eingegangenen Kündigungsschutzklage innerhalb der Frist der §§ 4 S.1, 13 Abs. 1 S. 2, 7 KSchG angegriffen.
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2. Gemäß Tarifvertrag (Tarifziffer 275.1) war das Arbeitsverhältnis nicht mehr ordentlich kündbar, weil die Klägerin das 35. Lebensjahr überschritten und dem Betrieb länger als zehn Jahre angehört hatte.
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3. Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB i.V.m. Tarifziffer 275.1 des Manteltarifvertrags steht der Beklagten nicht zur Seite.
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a) Mit dem Begriff des „wichtigen Grundes“ knüpft die tarifvertragliche Bestimmung an die gesetzliche Regelung des § 626 Abs. 1 BGB an (vgl. zum TVöD etwa: LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.09.2010 - 3 Sa 233/10, NZA-RR 3011, 126).
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Dabei können auch vom Arbeitnehmer nicht zu vertretende Umstände in seiner Person geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Ein wichtiger Grund kann insbesondere dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer aufgrund von Umständen, die in seiner Sphäre liegen, zu der nach dem Vertrag vorausgesetzten Arbeitsleistung auf unabsehbare Dauer nicht mehr in der Lage ist. Darin liegt regelmäßig eine schwere und dauerhafte Störung des vertraglichen Austauschverhältnisses, der der Arbeitgeber, wenn keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen, mit einer außerordentlichen Kündigung begegnen kann. Ist die ordentliche Kündbarkeit tariflich ausgeschlossen, kann eine außerordentliche Kündigung mit einer der ordentlichen Kündigung entsprechenden Auslauffrist berechtigt sein (BAG, Urteil vom 28.10.2010 - 2 AZR 688/09, NZA-RR 2011, 155). Auch wenn das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung auf einer krankheitsbedingten Leistungsminderung beruht, kann dies für eine außerordentliche Kündigung herangezogen werden.
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Jedoch ist bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB ein sehr strenger Maßstab anzulegen: Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Schon eine ordentliche Kündigung wegen einer Leistungsminderung setzt voraus, dass die verbliebene Arbeitsleistung die berechtigte Gleichwertigkeitserwartung des Arbeitgebers in einem Maße unterschreitet, dass ihm ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag unzumutbar ist; für die außerordentliche Kündigung gilt dies in noch höherem Maße (BAG, Urteil vom 20.03.2014 - 2 AZR 825/12, NZA 2014, 1089).
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Im Fall eines tariflich unkündbaren Arbeitnehmers kommt des Weiteren der Verpflichtung des Arbeitgebers, die Kündigung - wenn möglich - durch andere Maßnahmen abzuwenden, eine besondere Bedeutung zu. Der Arbeitgeber hat zur Vermeidung einer Kündigung alle in Betracht kommenden Beschäftigungsund Einsatzmöglichkeiten von sich aus umfassend zu prüfen und eingehend zu sondieren. Aus dem Vorbringen des Arbeitgebers muss erkennbar sein, dass er auch unter Berücksichtigung der besonderen Verpflichtungen alles Zumutbare unternommen hat, um eine Kündigung zu vermeiden. Ist der Arbeitnehmer ordentlich unkündbar, kann der Arbeitgeber im Einzelfall verpflichtet sein, zur Vermeidung einer außerordentlichen Kündigung einen gleichwertigen Arbeitsplatz frei zu kündigen (BAG, Urteil vom 28.10.2010 a.a.O., Rz 33; BAG, Urteil vom 13.05.2004 - 2 AZR 36/04, NZA 2004, 1271 Leitsatz 2). Als milderes Mittel kann auch eine außerordentliche Änderungskündigung in Betracht kommen, wenn der Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz mit geringerem Anforderungsprofil eingesetzt werden kann (MüKoBGB/Henssler, 8. Aufl. 2020, BGB § 626 Rn. 225). Zu berücksichtigen ist zudem Tarifziffer 275.2 des Manteltarifvertrags, wonach für den Fall, dass der wichtige Grund eine dauernde Minderleistung des Arbeitnehmers ist, die Beklagte verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer eine zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags anzubieten.
47
b) Vorliegend beruhen die von der Beklagten angeführten Fehlleistungen auf gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin. Hiervon geht auch die Beklagte aus, wenn sie ausdrücklich ausführt, die erheblichen persönlichen Leistungsdefizite der Klägerin seien aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr steuerbar, sodass es sich vorliegend um personen- und nicht verhaltensbedingte Gründe handele. Zudem trägt die Beklagte vor, die Unfähigkeit der Klägerin, selbst die einfachsten vertragsgemäßen Sekretariatsaufgaben fehlerfrei in angemessenem zeitlichen Rahmen noch auszuführen sowie Arbeitsanweisungen und Anleitungen von vorgesetzten und Kolleginnen überhaupt zu begreifen, geschweige denn fehlerfrei umzusetzen, beruhe sehr wahrscheinlich auf einer psychischen Erkrankung der Klägerin und/oder ihrer Medikation.
48
c) Die oben dargestellten strengen Vorgaben der Rechtsprechung erfüllt der Vortrag der Beklagten indes nicht.
49
d) Ob hinreichend detaillierter Vortrag der Beklagten vorliegt, aufgrund welcher konkreten Umstände / Defizite der Klägerin die Gleichwertigkeitserwartung der Beklagten in einem Maße unterschritten ist, die ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag unzumutbar macht, kann dahinstehen. Denn die Beklagte hat jedenfalls nicht ihrer Darlegungslast mit Blick auf den Vorrang milderer Mittel genügt. Dies führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.
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Die Beklagte ist hier in der Pflicht, im Hinblick auf mildere Mittel, die wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedweder Kündigung voranzugehen haben, darzulegen, ob sich die krankheitsbedingten Einschränkungen der Klägerin durch andere Maßnahmen (Änderung des Arbeitsablaufs, Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Umverteilung der Aufgaben, Einsatz auf anderen Arbeitsplätzen) abgewendet werden können. Aus dem Vortrag der Beklagten ergibt sich aber nicht hinreichend, dass zur Vermeidung einer Kündigung alle in Betracht kommenden Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten umfassend geprüft und eingehend sondiert wurden. Es wird nicht klar, welche Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten bei der Beklagten potentiell zur Verfügung stünden und in welcher Weise diese Möglichkeiten (wann? von wem? mit welchem Ergebnis?) geprüft wurden. Der Vortrag der Beklagten, anderweitige Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten für die Klägerin, bei denen sich die fehlende Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht negativ auswirken würde, seien von der Beklagten umfassend geprüft worden, bestünden jedoch nicht, ist hier ersichtlich zu pauschal und enthält letztlich keinen konkreten Sachvortrag.
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Gleiches gilt für die von der Beklagten angeführten Überlegungen, die Klägerin in der Postabteilung einzusetzen. Hier trägt die Beklagte nur vor, diese Überlegungen hätten verworfen werden müssen, weil es der Klägerin trotz expliziter Beschreibung, was genau sie zu erledigen habe, nicht einmal möglich gewesen sei, frankierte Rückumschläge von der Poststelle abzuholen. Detaillierterer Vortrag, welche Einschränkungen der Klägerin zu welchen konkreten Problemen geführt haben, fehlt. Wenn die Beklagte ausführt, andere Stellen würden aus dem gleichen Grund ausscheiden wie ein Einsatz in der Poststelle, so fehlen Angaben, welche Stellen gemeint sind und aus welchem Grund sie ausscheiden.
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Es fehlt auch Vortrag der Beklagte dahingehend, wann der Klägerin im Sinne der Tarifziffer 275.2 des Manteltarifvertrags welche zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags angeboten wurde.
53
Nicht ausreichend ist auch der Vortrag der Beklagten, sie habe in der Vergangenheit bereits mehrere Anpassungen der Tätigkeit der Klägerin an ihre Leistungsunfähigkeit vorgenommen, wodurch die Leistungsstörung allerdings nie beseitigt haben werden können. Es fehlt ein Vorbringen dahingehend, welche Anpassungen genau von wem zu welchem Zeitpunkt mit welchem Ziel und welchem Erfolg vorgenommen wurden.
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e) Eine außerordentliche „verhaltensbedingte“ Kündigung scheidet vorliegend aus, da die Defizite der Klägerin nicht auf einem steuerbaren Verhalten beruhen. Die Ausführungen zu Abmahnungen und Schlechtleistungen der Klägerin sind deshalb nicht geeignet, eine wirksame außerordentliche Kündigung zu begründen.
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f) Da die Kündigung bereits den Anforderungen des § 626 Abs. 1 BGB nicht genügt, kommt es auf die Frage, ob die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB, welche auch im Fall einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist einzuhalten ist, gewahrt wurde, nicht mehr an.
56
g) Auch das Problem der ordnungsgemäßen Durchführung der Personalratsanhörung kann hier dahinstehen, wobei sich Zweifel eventuell daraus ergeben könnten, dass sich die Beklagte in diesem Rahmen ganz maßgeblich auf ein steuerbares Verhaltend der Klägerin stützt (vgl. S. 3: „nicht mehr gewillt ist […] die Anforderungen […] zu erfüllen.“), nunmehr aber von personenbedingten Gründen ausgeht.
57
II. Auch der Weiterbeschäftigungsantrag (Antrag zu 2) hat Erfolg.
58
Auf Grund der Unwirksamkeit der Kündigung vom 12.07.2019 ist auch der Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin begründet. Die Beklagte ist gemäß den vom Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgestellten Grundsätzen (BAG Beschluss vom 27.2.1985 - GS 1/84, BeckRS 9998, 150642) verpflichtet, die Klägerin vertragsgerecht als Sekretärin weiter zu beschäftigen. Besondere Umstände, die die trotz des Obsiegens der Klägerin mit dem Kündigungsschutzantrag ein überwiegendes Interesse an ihrer Nichtbeschäftigung begründen könnten, sind weder dargetan, noch ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO.
60
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 61 ArbGG, 3 ff. ZPO.
61
Gegen dieses Endurteil kann die Beklagte Berufung einlegen. Es gilt die folgende Rechtsmittelbelehrung.