Titel:
Schadensersatz, Fahrzeug, Unfall, Kaufvertrag, Bescheid, Sittenwidrigkeit, Rechtsanwaltskosten, Auslegung, Widerspruch, Software, Anrechnung, Darlehen, Zeitpunkt, Kreditvertrag, gerichtlicher Hinweis, negative Tatsache, billigend in Kauf
Schlagworte:
Schadensersatz, Fahrzeug, Unfall, Kaufvertrag, Bescheid, Sittenwidrigkeit, Rechtsanwaltskosten, Auslegung, Widerspruch, Software, Anrechnung, Darlehen, Zeitpunkt, Kreditvertrag, gerichtlicher Hinweis, negative Tatsache, billigend in Kauf
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 22.01.2021 – 27 U 7045/20
OLG München, Beschluss vom 23.02.2021 – 27 U 7045/20
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 15.09.2021 – VII ZR 263/21
Fundstelle:
BeckRS 2020, 51682
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 60.007,43 € festgesetzt.
Tatbestand
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Der Kläger erwarb am 02.09.2017 über die … einen Mercedes-Benz, Typ V 250d 4M, Kilometerstand 33.849 km zum Preis von 49.777,00 € brutto. Der Kläger zahlte 15.000,00 € an und finanzierte den Rest über ein Darlehen der …. Im dem Fahrzeug ist der Motor OM 651 verbaut. Ein amtlicher Rückruf für das gegenständliche Fahrzeug besteht. Gegen den entsprechenden Bescheid hat die Beklagte Widerspruch eingelegt.
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Der Kläger stellt sich auf den Standpunkt, dass in dem Fahrzeug mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut seien.
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In technischer Hinsicht führt der Kläger aus:
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In dem Motor OM 651 sei ein sog. „Thermofenster“ verbaut. Dieses ermittle die Umgebungstemperatur als Parameter für die Steuerung des sogenannten Abgasrückführungssystems (AGR-System). Die Rate der Abgasrückführung werde bei dem gegenständlichen Fahrzeug abhängig von der Umgebungsluft zurückgefahren. Bei einer Umgebungslufttemperatur von zum Beispiel 7 Grad Celsius oder darunter sei die Abgasrückführung um bis zu 48 % niedriger als bei höheren Temperaturen. Bei Unterschreiten bestimmter Temperaturen werde die Abgasrückführung ganz abgeschaltet. Der Jahrestemperaturmittelwert in Deutschland betrage 8,2 Grad Celsius, das „Thermofenster“ führe deshalb zu einer ständigen (teilweise) Deaktivierung des Emissionskontrollsystems. Die Stickoxidemissionen unter normalen Fahrbedingungen, bei z.B. 7 Grad Umgebungstemperatur lägen deshalb im Mittel um ein Vielfaches über den Werten, die auf dem Prüfstand erreicht würden. Da das übliche NEFZ-Verfahren bei 20 bis 30 Grad Celsius durchgeführt werde, hätten dort Auffälligkeiten nicht festgestellt werden können.
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In dem Motor sei zudem eine „Kühlmittel-Sollwert-Temperatur-Regelung“ verbaut. Diese funktioniere über zwei Betriebsmodi, deren wesentlicher Unterschied in der Steuerung der AGR-Rate liege. Im „Prüfstandmodus“ werde diese nicht heruntergefahren, sodass die Stickoxidemissionen auf das gesetzlich zulässige Maß abgesenkt würden. Im Normalbetrieb werde ein anderer Betriebsmodus eingeschaltet, der im Ergebnis zu einer Reduzierung der AGR-Rate und damit zu wesentlich höheren Stickoxidemissionen führe. Wäre dieser Modus im Prüfstand aktiv gewesen, hätte das gegenständliche Fahrzeug den für die Typengenehmigung notwendigen Abgastest nicht bestanden.
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Im streitgegenständlichen Euro 6-Fahrzeug seien weitere Abschalteinrichtungen im Herstellungsprozess durch eine entsprechende Software-Kalibrierung verbaut worden, die dazu führten, dass das Fahrzeug das Durchfahren des NEFZ auf dem Prüfstand erkenne und abhängig davon, die Abgasaufbereitung dergestalt regele, dass der Ausstoß an Stickoxiden nur beim Durchfahren des NEFZ optimiert werde. So sei der Prüfmodus im streitgegenständlichen Fahrzeug so angepasst, dass hierbei die Schadstoffreduktion für die Dauer der Prüfung maximal erfolge, während dies außerhalb des Prüfzyklus nicht der Fall sei. Während des Durchfahrens des NEFZ werde eine erhöhte Menge an benötigtem Harnstoff (AdBlue) im SCR-System beigemischt, während dies im realen Fahrbetrieb nicht der Fall sei. Die konkrete Softwareprogrammierung beinhalte, dass die Regeneration von SCR-Katalysatoren, die für die Effizienz der Abgasreinigung erforderlich sei, beinahe ausschließlich in den ersten rund 20 Minuten des Fahrzeugbetriebes erfolge, also der Zeit, die der übliche NEFZ-Zyklus brauche.
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Wie andere Hersteller nutze auch die Beklagte eine Harnstofflösung, um Abgase zu reinigen. Allerdings verschlechtere sich laut KBA der Wirkungsgrad ohne erklärbaren Grund, sobald der Motor nach dem Start 17,6 Gramm Stickoxide ausgestoßen habe. Diese Software-Funktion (Einstellung bzw. Drosselung der Abgasreinigung nach Ausstoß von 17,6 Gramm Stickoxiden nach dem Start) sei auch als Bit 13 bekannt geworden. Der Ausstoß von 17,6 Gramm Stickoxiden entspricht der Länge eines highway Testzyklusses bei Abgastests in den USA. Bei der streitgegenständlich verwendeten Bit 13-Funktion richte sich der Stickoxidausstoß auch nach der Länge eines Prüfzyklusses nach NEFZ. Die Reinigung mit AdBlue laufe insofern auch mit der streitgegenständlichen, im Herstellungsprozess „verbauten“, Bit 13-Funktion nur nach den prüfstandsbezogenen Parametern.
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Weiter sei im streitgegenständlichen Fahrzeug eine sog. Bit 14-Funktion verbaut, die nach 1.200 Sekunden in den „schmutzigen Abgasmodus“ wechsele. Die Stickoxidgrenzwerte würden in diesem Modus nicht eingehalten. Der NEFZ dauere insgesamt 1.180 Sekunden. Der City-Zyklus (städtische Bedingungen) dauere zwei Drittel dieser Zeit und der Überland-Zyklus (außerstädtischen Bedingungen) ein Drittel. Die Umgebungstemperatur während der Messung betrage grundsätzlich 20 bis 30 Grad Celsius und liege vorher mindestens 6 Stunden lang um das abgestellte Fahrzeug vor. Der Wechsel in den schmutzigen Modus nach 1.200 Sekunden diene also ausschließlich dazu, den NEFZ-Test zu bestehen. Die Funktionalität sei ausschließlich mit dem Ziel eingebaut worden, im Prüfstand einen besonders niedrigen NOx-Ausstoß zu generieren.
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Diese Täuschungssoftware Bit 15 funktioniere für die amerikanischen Euro 6 Fahrzeuge der Beklagten so, dass für die ersten 16 Milen bzw. 26 Kilometer das Fahrzeug „sauber“ fahre und danach die Abgasreinigung ausgeschaltet bzw. zurückgefahren werde. Der NEFZ Fahrzyklus betrage 11.000 Meter, also 11 Kilometer. Die hier im Herstellungsprozess „verbaute“ Software-Kalibrierung Bit 15-Funktion sei also für die NEFZ betreffenden Fahrzeuge (auch das streitgegenständliche) so programmiert, dass die Abgasreinigung die ersten 11 Kilometer (bzw. etwas mehr) so funktioniere, dass die Nox Reinigung vorschriftsmäßig laufe, danach nicht mehr. Auch diese Funktionalität sei ausschließlich mit dem Ziel eingebaut worden, im Prüfstand einen besonders niedrigen NOx-Ausstoß zu generieren.
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Schließlich existiert eine Funktion namens „Slipguard“, die anhand von Geschwindigkeit und Beschleunigung erkenne, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand stehe und die Adblue-Dosierung beeinflussen könne. Auch im streitgegenständlichen Fahrzeug sei eine entsprechende Software-Kalibrierung „Slipguard“ im Herstellungsprozess verbaut worden, die anhand von Geschwindigkeit, Beschleunigung und Straßenneigung erkenne, ob das Fahrzeug auf dem Prüfstand nach den NEFZ Vorgaben stehe bzw. fahre. Die Funktionalität sei ausschließlich mit dem Ziel eingebaut worden, den Prüfstand zu erkennen und dann im Prüfstand einen besonders niedrigen NOx-Ausstoß zu generieren (ggf. auch im Zusammenspiel mit weiteren Abschalteinrichtungen).
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Das streitgegenständliche Fahrzeug habe zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht den Vorgaben der EG-VO 715/2007 entsprochen. Hätte der Kläger gewusst, dass in dem Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut sei aufgrund deren die Grenzwerte nur auf dem Prüfstand eingehalten werden, hätte er den Kaufvertrag und den Kreditvertrag nicht abgeschlossen.
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Zu den Vorgängen bei der Beklagten trägt die Klägerseite wie folgt vor:
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Die Beklagte habe vorsätzlich gehandelt. Dem Vorstand sei bekannt gewesen, dass die produzierten Dieselfahrzeuge die zulässigen Grenzwerte im realen Straßenverkehr nicht einhielten. Es sei daher auch bekannt gewesen, dass die Einhaltung der Werte auf dem Prüfstand vorgetäuscht werde. Jedenfalls dem Entwicklungsvorstand … seien die technischen Details fortlaufend berichtet worden. Auch andere Vorstandsmitglieder hätten Kenntnis gehabt und seien über die Vorgänge informiert gewesen. Das Alternativszenario widerspräche allen üblichen Gepflogenheiten und sei daher abwegig. Zudem treffe die Beklagte eine sekundäre Darlegungslast.
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Die Klagepartei beantragt zuletzt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 30.893,64 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung von 0,1067829 EUR pro gefahrenem Kilometer seit dem 14.10.2017, die sich nach folgender Formel berechnet:
(49.777,00 EUR × gefahrene Kilometer) : 466.151 km,
2. die Beklagte weiter zu verurteilen, den Kläger von den Verbindlichkeiten aus dem zwischen ihm und der … am 02.09.2017 geschlossenen Darlehensvertrags zum Fahrzeug Mercedes V-Klasse V 250 d 4Matic von derzeit noch 23.658,57 EUR freizustellen,
jeweils Zug um Zug gegen Übertragung der Rechte an dem Fahrzeug Mercedes V 250d 4M, ….
4. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.954,46 EUR freizustellen,
5. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Pkws des Klägers, Mercedes V 250d 4M, … in Annahmeverzug befindet,
6. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger Schadensersatz für Schäden, die aus der Ausstattung des Fahrzeugs Mercedes V 250d 4M, …, mit einer unzulässigen Abschaltvorrichtung resultieren, zu zahlen.
7. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, auf die nach dem 04.05.2020 von dem Kläger gezahlten Darlehnsraten zu dem unter Ziff. 2 genannten Darlehnsvertrag jeweils ab dem jeweiligen Zahlungsdatum an den Kläger Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte weist darauf hin, dass gewährleistungsrechtliche Ansprüche gegen sie nicht in Frage kämen, sondern lediglich deliktsrechtliche Ansprüche.
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Die Klagepartei habe das Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen bereits nicht substantiiert vorgetragen. Die Beklagte jedenfalls habe weder vorsätzlich noch sittenwidrig gehandelt.
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Das streitgegenständliche Fahrzeug verfüge über eine wirksame EG-Typgenehmigung. Es unterscheide sich grundlegend von den Fahrzeugen des VW-Konzerns, bei denen die Rechtsprechung eine Prüfstandsmanipulation mittels Umschaltens zwischen einem Modus 0 und einem Modus 1 festgestellt habe. Eine Funktion, durch die der Prüfstand erkannt und der Stickoxidausstoß manipulativ lediglich für die Zwecke des EG-Typgenehmigungsverfahrens gezielt reduziert werde, existiere im streitgegenständlichen Fahrzeug gerade nicht.
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Die Ausführungen des Klägers zur temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung im streitgegenständlichen Fahrzeug vermögen eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht zu begründen. Der Gesetzgeber sei ersichtlich davon ausgegangen, dass Emissionskontrollsysteme generell nicht mit gleicher Wirksamkeit bei allen Temperaturen funktionierten. Anders als bei Benzinmotoren, die bei niedrigen Temperaturen ausdrücklich mehr emittieren dürften, gäbe es für Dieselmotoren keine Grenzwerte bei niedrigen Temperaturen. Nach Anhang I Tabelle 4 VO (EG) Nr. 715/2007 lege der europäische Gesetzgeber für Benziner im NEFZ kalt bei -7 °C einen 15 Mal höheren Grenzwert für die Kohlenmonoxidmasse (15 g/km statt 1 g/km) und einen 18 Mal höheren Grenzwert für die Kohlenwasserstoffmasse (1,8 g/km statt 100 mg/km) fest. Diese Grenzwerte gelte nach Art. 3 Abs. 9 UAbs. 1 Durchführungs-VO (EG) Nr. 692/2008 nicht für Dieselfahrzeuge. Das sei auch sachgerecht. Aufgabe der Emissionskontrollsysteme beim Dieselmotor sei die Verminderung diverser Emissionen (unter anderem Stickoxide, CO2 und Partikel), die während der Verbrennung von Kraftstoff und Sauerstoff insbesondere bei hohen Verbrennungsspitzentemperaturen entstünden. Die Steuerung der Abgasreinigung erfolge im Wege einer dynamischen Berechnung, in die notwendigerweise eine Vielzahl von Parametern und Sensordaten, einschließlich regelmäßig bestimmter Temperaturwerte, eingehe, um eine angemessene Reduzierung sämtlicher betroffener Emissionen zu erzielen. Die Grundidee der Abgasrückführung bestehe darin, Abgas bereits innermotorisch über ein Rohrsystem in den Brennraum zurückzuführen. Insoweit handele es sich um kein Konstruktionsteil, das die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verändere, sondern um eine vorgelagerte, innermotorische Maßnahme, die schon die Entstehung bestimmter Emissionen verringere. Durch die innermotorische Rückführung des Abgases verringere sich die Sauerstoffkonzentration der Zylinderladung und die Verbrennungstemperatur sinke. Durch die niedrigeren Verbrennungstemperaturen entstünden weniger NOx-Emissionen. Finde die Rückführung allerdings bei zu niedrigen Temperaturen statt, komme es zur Kondensation von Abgasbestandteilen. Dies wiederum führe zu verschiedenen unerwünschten Ablagerungen in den Bauteilen. Ein wiederholter Betrieb des Motors in diesem Zustand könne zu einer dauerhaften Schädigung des Motors führen. Daher könne es zum Schutz des Motors erforderlich sein, die Abgasrückführung abhängig von der Temperatur zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund stünden die Entwicklungsingenieure der Beklagten und anderer Hersteller vor der Aufgabe, widerstreitende Ziele (d.h. eine angemessene Reduzierung verschiedener Arten von Emissionen und Schutz von Bauteilen vor Schäden) zum Ausgleich zu bringen. Dabei seien ingenieurstechnische Abwägungs- und Risikoentscheidungen zu treffen gewesen. Die Reduzierung einer Emissionsart (z.B. NOx) könne zugleich andere Emissionen erhöhen (z.B. CO2 oder Partikel). In Fachkreisen und demgemäß auch bei den Genehmigungsbehörden sei anerkannt, dass es notwendig sei, die Abgasrückführung unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen zu steuern, um eine hinreichende Reduzierung sämtlicher relevanter Emissionen zu erzielen, Schäden am Motor und Abgassystem zu vermeiden und den sicheren Betrieb des Systems zu gewährleisten. Insoweit seien Prognosen und Einschätzungen erforderlich, die ex post nur einer eingeschränkten tatsächlichen Überprüfung zugänglich seien. Zu diesem Zweck wären selbst Abschalteinrichtungen ausdrücklich zulässig (siehe Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) VO (EG) Nr. 715/2007). Das AGR-System im streitgegenständlichen Fahrzeug sei selbst bei zweistelligen Minusgraden noch aktiv.
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Weder mit Blick auf die vom Rückruf des KBA betroffenen Fahrzeuge, noch mit Blick auf das streitgegenständliche Fahrzeug läge eine Regelung vor, aufgrund derer auf dem Prüfstand eine andere Abgasreinigungsstrategie bzw. Emissionskontrollstrategie angewendet würde als im realen Straßenbetrieb unter gleichen Betriebsbedingungen. Es liege also kein Mechanismus und keine Softwarelogik vor, der oder die erkennen würde, ob das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im Straßenbetrieb sei und in Abhängigkeit davon irgendetwas schalten oder regeln würde. Die Kühlmitteltemperaturregelung sei vielmehr in beiden Fallgruppen, also auch im Straßenbetrieb und nicht nur auf dem Prüfstand, aktiviert. Vom KBA sei im Rückrufbescheid nur eine Umrüstung in Gestalt von Nebenbestimmungen zur Typgenehmigung angeordnet worden, die durch das Aufspielen einer geänderten Motorsteuerungssoftware durchgeführt werden könne. Die entsprechend geänderte Software habe das KBA auch umgehend freigegeben und zugleich festgestellt, dass mit der geänderten Software keine relevanten Auswirkungen auf die Schadstoffemissionen und Dauerhaltbarkeit von emissionsmindernden Einrichtungen, Kraftstoffverbrauchswerte und Kohlenstoff-dioxid-Emissionen, Motorleistung und maximales Drehmoment und die Geräuschemissionen des Fahrzeuges einhergehen würde. Zwar teile die Beklagte die Auffassung des KBA nicht und habe den Rückrufbescheid mit dem Widerspruch angefochten. Gleichwohl läge damit aber selbst für ein rückrufbetroffenes Fahrzeug keine deliktsrechtlich tatbestandliche Schädigung vor, weil das Fahrzeug in Übereinstimmung mit der Typgenehmigung gestanden habe, stehe und auch in Zukunft uneingeschränkt stehen werde, sofern die Nebenbestimmungen (zur Typgenehmigung) durch Aufspielen der freigegebenen und von der Beklagten angebotenen Motorsteuerungssoftware eingehalten würden. Das gelte auch für das streitgegenständliche Fahrzeug. Dessen Tauglichkeit sei zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Die Softwareänderung sei dem Kläger auch angeboten worden. In jedem Fall fehle es aber an einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. Die Kühlmittelsolltemperaturregelung habe nicht den Zweck einer allein auf die Prüfbedingungen bezogenen Emissionsverringerung. Das zeige sich schon darin, dass die Kühlmittelsolltemperaturregelung in einer Reihe von Fahrzeugen vom KBA gerade nicht als problematisch bewertet worden sei. Das geregelte Kühlmittelthermostat sei sowohl im Straßenbetrieb als auch auf dem Prüfstand aktiv und diene gerade dem von dem Gesetzgeber angestrebten Ziel der Reduktion der Emissionen nach Kaltstarts, insbesondere im Stadtverkehr.
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Neben den innermotorischen Maßnahmen kämen im gegenständlichen Fahrzeug Maßnahmen der Abgasnachbehandlung in Form des sog. SCR-Systems zum Einsatz. Dabei werde dem Abgas eine wässrige Harnstofflösung (AdBlue) beigemischt, die durch die hohen Temperaturen im Abgassystem in Ammoniak umgewandelt würden. Das SCR-System sei nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch im Straßenbetrieb in Funktion. Die wesentliche technische Herausforderung des SCR-Systems sei die Beimischung der jeweils richtigen AdBlue-Menge. Die Umwandlung von AdBlue in Ammoniak erfordere Mindesttemperaturen, da sonst der physikalische und chemische Prozess nicht vollständig ablaufen könne (bei ca. 180 Grad Celsius Abgastemperatur). Nach welcher Betriebsdauer und unter welchen sonstigen Voraussetzungen das SCR-System diese Temperatur erreiche, hänge von verschiedenen Faktoren, nicht zuletzt von der Art der Beschichtung des Katalysators ab. Während des für das EG-Typgenehmigungsverfahren maßgeblichen, niedriglastigen Prüfzyklus lägen die Abgastemperaturen im SCR-Katalysator teilweise unterhalb der Mindesttemperatur. Der Zyklus habe eine Dauer von 20 Minuten. Die AdBlue-Dosierfreigabe und die damit verbundene Reduktion der Stickoxid-Emissionen erfolge unter den gesetzlich vorgeschriebenen Prüfbedingungen abhängig von der jeweiligen Ausstattung (das heißt insbesondere Gewicht) und abhängig vom Fahrwiderstand des Fahrzeuges erst nach einigen Minuten. In dieser Zeitspanne entfalte der SCR-Katalysator keine Wirkung. Dennoch würden die Grenzwerte nicht überschritten. Bei besonders hoher Last des Motors, das heißt etwa bei längeren schnellen Autobahnfahrten, wenn also im jeweiligen Betriebszustand eine besonders hohe Stickoxid-Rohemmission auftrete, könne die Kapazität des Katalysators an ihre physikalischen Grenzen kommen. Dies habe zur Folge, dass eine gegenüber dem amtlichen Prüfzyklus erhöhte Stickoxid-Rohemission auch zu einem höheren Schadstoffausstoß führe, weil der Katalysator seine Reinigungsleistung nicht im selbst Verhältnis steigern könne, wie die Rohemissionen bei besonders hoher Motorlast anstiegen. Bei solchen Belastungszuständigen würden naturgemäß höhere Emissionen auftreten als im - vergleichsweise niedriglastigen - gesetzlichen Prüfzyklus.
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Der Kläger spekuliere ferner pauschal und unsubstantiiert zu verschiedenen Softwarefunktionen („Slipguard“, „Bits“), welche er offenbar der Presseberichterstattung zu US-Untersuchungen entnommen habe. Er bezeichne jedoch keine greifbaren Anhaltspunkte für sein Vorbringen. Letztlich fußten diese Spekulationen auf der Annahme, dass in dem Fahrzeug eine „Umschaltlogik“ verbaut sei, die den Prüfstand erkenne und als Folge dort ein anderes Emissionsverhalten zeige. Dies sei im gegenständlichen Fahrzeug jedoch nicht der Fall. Auch eine Unterscheidung zwischen einem „sauberen“ und einem „schmutzigen“ Modus finde nicht statt.
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Letztlich sei die Beklagte einem vertretbaren Normverständnis gefolgt. Eine vorsätzlich sittenwidrige Schädigung könne darin nicht gesehen werden. Die technischen Ausgestaltungsentscheidungen seien auf Mitarbeiterebene getroffen worden. Weder ein Organ, Organmitglied oder ein „deliktsrechtlich Verantwortlicher“ habe entschieden, eine „unzulässige Abschalteinrichtung“ zu verbauen.
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Hinsichtlich des weiteren umfangreichen Sach- und Rechtsvortrages der Parteien wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 27.10.2020.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet, so dass sie vollumfänglich abzuweisen war.
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Die Klage ist zulässig. Das Landgericht Memmingen ist das örtlich gemäß § 32 ZPO und sachlich gem. § 1 ZPO i.V.m. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG zuständige Gericht.
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Die zulässige Klage ist jedoch unschlüssig und daher ohne Beweisaufnahme als unbegründet abzuweisen. Ein gerichtlicher Hinweis vor Klageabweisung war entbehrlich, da die Beklagte auf die Unschlüssigkeit wiederholt und ausdrücklich substantiiert unter Berücksichtigung der vom Kläger behaupteten, einzelnen Abschalteinrichtungen hingewiesen hatte.
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Das erkennende Gericht schließt sich im Wesentlichen der Rechtsprechung des OLG München (Hinweisbeschluss vom 10.02.2020 sowie nachfolgend Beschluss vom 16.03.2020 - 3 U 7524/19; betreffend „EA288“) sowie ergänzend des OLG Stuttgart (Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19; betreffend „OM651“ Motor der Daimler AG), des OLG Koblenz (Urteil vom 20.04.2020 - 12 U 1570/19; betreffend „EA288“), des OLG Brandenburg (Hinweisbeschluss vom 20.04.2020 - 1 U 103/19; betreffend „EA288“) sowie des OLG Köln (Beschluss vom 04.07.2019 - 3 U 148/18; betreffend OM651 der Daimler AG) an, soweit diesen Entscheidungen ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde liegt. Dabei steht im Einzelnen nicht entgegen, dass auch Motoren anderer Hersteller (Volkswagen AG) verfahrensgegenständlich waren, da jedenfalls die rechtlichen Probleme vergleichbar sind. Dies zeigt sich schon daran, dass der „EA288“-Motor der Volkswagen AG und dem Daimler Motor OM651 eine wesentliche Gemeinsamkeit aufweisen: für beide liegt kein - bestandskräftiger (betrifft OM651) - Rückrufbescheid des KBA vor.
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Die Klage ist unbegründet. Der geltend gemachte Schadensersatzanspruch besteht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt.
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1. Für das Eingreifen vertraglicher oder quasivertraglicher Ansprüche fehlt es an jeglichen Anhaltspunkten, da die Klagepartei das Fahrzeug nicht von der Beklagten direkt erworben hat.
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2. Der von der Klagepartei geltend gemachte Schadensersatzanspruch folgt insbesondere auch nicht aus §§ 826, 31 BGB.
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a) Es kann hierbei letztlich dahinstehen, ob in der Verwendung von Thermofenstern eine unzulässige Abschalteinrichtung zu sehen ist. Denn um einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 826 BGB zu begründen, muss das schädigende Verhalten des Schuldners sittenwidrig sein. Hieran fehlt es vorliegend aber in jedem Fall.
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aa) Objektiv sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach Inhalt oder Gesamtcharakter, der durch zusammenfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, das heißt mit den grundlegenden Wertungen der Rechts- und Sittenordnung nicht vereinbar ist (BGH, Urteil vom 19.11.2013 - VI ZR 336/12). Dass das Verhalten gegen vertragliche Pflichten oder das Gesetz verstößt, unbillig erscheint oder einen Schaden hervorruft, genügt nicht (OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19). Insbesondere die Verfolgung eigener Interessen bei der Ausübung von Rechten ist im Grundsatz auch dann legitim, wenn damit eine Schädigung Dritter verbunden ist (BGH, Urteil vom 19.10.1987 - II ZR 9/87). Hinzutreten muss eine besondere Verwerflichkeit des Verhaltens, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage tretenden Gesinnung oder den eintretenden Folgen ergeben kann (BGH, Urteil vom 13.12.2011 - XI ZR 51/10; Urteil vom 03.12.2013 - XI ZR 295/12; Urteil vom 15.10.2013 - VI ZR 124/12).
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Subjektiv ist ein Bewusstsein der Sittenwidrigkeit nicht erforderlich. Der Schädiger muss aber grundsätzlich die Tatumstände kennen, die sein Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen (BGH, Urteil vom 13.09.2004 - II ZR 276/02).
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Eine Sittenwidrigkeit kommt danach nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von dem Einbau einer Einrichtung mit den in Rede stehenden Funktionsweisen in den streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch konkrete Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19). Das ist jedoch nicht der Fall.
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bb) Bei Abschalteinrichtungen, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeiten wie auf dem Prüfstand, und bei denen Gesichtspunkte des Motor-, respektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, kann bei Fehlen ausreichender Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein gehandelt haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn man mit dem Kläger von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung ausginge, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden (OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 - 3 U 148/18; OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19; OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
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Umstände, die das in Frage stellen würden, sind von der Klagepartei weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dass andere Hersteller (wie die Volkswagen AG bei dem Motor vom Typ EA189) erwiesenermaßen eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer Umschaltlogik verwendeten, ist nicht geeignet, einen herstellerübergreifenden Generalverdacht für sämtliche jeweiligen Baureihen wie den OM651, zu begründen (OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 - 12 U 1570/19, Rn. 52, Rn. 58). Anders als bei einem Thermofenster, lag der einzige Zweck der ursprünglichen Umschaltlogik des VW-Konzerns in der rechtswidrigen Täuschung von Zulassungsbehörde und Kunden, weshalb das sittenwidrige Verhalten der Beklagten dort - was auch die umfangreiche Berichterstattung zum damaligen Zeitpunkt belegen dürfte - geradezu greifbar war.
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Anders liegt es bei Thermofenstern oder sonstigen parameterabhängigen Vorrichtungen: Die Gesetzeslage ist diesbezüglich gerade nicht eindeutig. Wenn die Beklagte davon ausgeht, es handele sich beim Einsatz von Thermofenstern nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung, so ist dies aus den nachfolgenden Erwägungen unter juristischen Gesichtspunkten zumindest gut vertretbar.
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Nach der Legaldefinition in Art. 3 Nr. 10 der einschlägigen VO (EG) 715/2007 für Typengenehmigungen von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen ist eine Abschalteinrichtung „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“. Der Begriff des Emissionskontrollsystems ist in der Verordnung nicht definiert.
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Die Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen regelt Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 2007/715. Dieser lautet:
„Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:
a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;
b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist;
c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.“
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Es ist festzuhalten: Nach Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 2007/715 ist die Verwendung einer Abschalteinrichtung also zulässig ist, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Auf diese Erlaubnisgründe beruft sich die Beklagte im vorliegenden Fall.
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Die Norm ist entgegen dem klägerischen Vortrag nicht zwingend dahingehend auszulegen, dass Abschalteinrichtungen zum Motorschutz nur dann „notwendig“ sein können, wenn keine andere konstruktive Lösung möglich ist, auch wenn diese erheblich teurer sein sollte. Gegen eine solche Auslegung spricht der Aufbau des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 2007/715 sowie dessen Zweck (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19). Denn gemäß Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 2007/715 sind Fahrzeuge vom Hersteller so auszurüsten, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Darüberhinausgehende Anforderungen werden von der Verordnung nicht vorgegeben. Abschalteinrichtungen sind generell unzulässig und nur im in der Verordnung in Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 2007/715 beschriebenen Ausnahmefall erlaubt. Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 2007/715 will danach nicht die Entwicklung aufwändigerer Konstruktionen eines Motors vorgeben, sondern für Motoren, die grundsätzlich den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 2007/715 genügen, zum Schutz vor Beschädigung oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs einen Handlungsspielraum in Form einer ansonsten verbotenen Abschalteinrichtung einräumen. Diesem Ziel der Norm, den Fahrzeugherstellern ausnahmsweise eine konstruktive Freiheit einzuräumen, würde es widersprechen, dem Wort „notwendig“ in Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 2007/715 einen eigenen, unter Umständen sogar über die Anforderung des Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 2007/715 hinausgehenden Konstruktionsauftrag der Verordnung zu entnehmen. Mit dem Wort „notwendig“ wird lediglich klargestellt, dass die Abschalteinrichtung dem Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und dem sicheren Betrieb dienen muss und eine reine Zweckmäßigkeit nicht genügt, sondern sie dafür erforderlich sein muss (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
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Sieht man Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 2007/715 aber nicht als Verpflichtung der Autohersteller an, Motoren zu entwickeln, die nur im äußersten Notfall eine Abschalteinrichtung benötigen, sondern von seinem Sinn und Zweck her eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Autohersteller zum Schutz der von ihnen im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 2007/715 tatsächlich entwickelten und verwendeten Motoren, so erscheint die Annahme, es liege keine unzulässige Abschalteinrichtung vor, sogar mehr als nur gut vertretbar (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
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Dass die Gesetzeslage an dieser Stelle gerade nicht eindeutig ist, zeigt neben der kontrovers geführten Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 2007/715 auch der Umstand, dass sich das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) wie auch das Bundesverkehrsministerium (BMVI) offenbar bislang nicht von der Unzulässigkeit des sogenannten „Thermofensters“ im streitgegenständlichen Fahrzeug haben überzeugen können. Insbesondere ist ein verbindlicher behördlicher Rückruf der streitgegenständlichen Fahrzeugbaureihen unstreitig bis heute nicht erfolgt.
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Sollte entgegen den vorstehenden Erwägungen aber tatsächlich eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen, so hätte die Beklagte die Rechtslage allenfalls fahrlässig verkannt. In diesem Fall fehlt es sowohl am erforderlichen Schädigungsvorsatz als auch an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 79. Aufl. 2020, § 826, Rn. 8 f.) wie der Kenntnis der die Sittenwidrigkeit begründenden Tatumstände. Dass auf Seiten der Beklagten das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes verbunden mit einer zumindest billigenden Inkaufnahme desselben vorhanden war, ist weder hinreichend dargetan noch ersichtlich.
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Eine Auslegung, wonach ein „Thermofenster“ keine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls gut vertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann jedoch nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
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b) Ferner fehlt es an einem entsprechenden Schädigungsvorsatz der Beklagten.
48
Der erforderliche Schädigungsvorsatz im Rahmen von § 826 BGB, der getrennt von der Sittenwidrigkeit - auch von deren subjektiver Seite - festzustellen ist (vgl. BGH, Urteil vom 12.07.1966 - VI ZR 1/65), bezieht sich darauf, dass durch die Handlung einem anderen Schaden zugefügt wird.
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Fahrlässigkeit, auch grobe, genügt nicht (BGH, Urteil vom 06.06.1962 - V ZR 125/60). Der Vorsatz muss sich auf den Schaden erstrecken, eine nur allgemeine Vorstellung über eine etwa mögliche Schädigung genügt nicht (BGH, Urteil vom 24.04.2001 - VI ZR 36/00). Andererseits ist Schädigungsabsicht nicht erforderlich. Es genügt, dass der Schädiger den Schadenseintritt vorausgesehen und die Schädigung im Sinne eines direkten Vorsatzes gewollt oder jedenfalls im Sinne eines bedingten Vorsatzes billigend in Kauf genommen hat (BGH, Urteil vom 20.11.2012 - VI ZR 268/11). Maßgeblich ist dabei allein der Zeitpunkt des Inverkehrbringens des konkreten Fahrzeugs (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
50
Vorliegend kann jedoch - wie bereits dargelegt - nicht davon ausgegangen werden, dass auf Seiten der Beklagten bewusst eine - unterstellt - objektiv unzulässige Abschalteinrichtung verwendet wurde. Mangels anderweitiger Anhaltspunkte ist allenfalls von einer fahrlässigen Verkennung der Rechtslage auszugehen. Dann fehlt es aber am notwendigen Schädigungsvorsatz, da dieser das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes verbunden mit einer zumindest billigenden Inkaufnahme desselben erfordert (OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 - 3 U 148/18; OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19; OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19).
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Selbst wenn man der Beklagten unterstellen wollte, sie habe bei der Konstruktion des streitgegenständlichen Fahrzeuges nicht die damals bereits verfügbaren bestmöglichen Technologien eingesetzt, um eine höhere Abgasrückführungsrate und damit durchgängig geringere Stickoxid-Emissionen zu ermöglichen, gilt doch, dass die Einstufung einer temperaturabhängigen Abgasrückführungssteuerung oder sonstiger parameterabhängiger Vorrichtungen als „unzulässige Abschalteinrichtung“ aufgrund der damals geltenden Bestimmungen keineswegs derart eindeutig war, dass eine andere Auffassung nicht vertretbar erschiene und daraus der Schluss gezogen werden müsste, die Beklagte habe die Unerlaubtheit ihres Vorgehens erkannt und folglich die Typgenehmigungsbehörde - und letztlich auch die Käufer - täuschen wollen (OLG Nürnberg, Endurteil vom 19.07.2019 - 5 U 1670/18).
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Es fehlt auch insoweit an den subjektiven Voraussetzungen für ein deliktisches Handeln. Wie bereits ausgeführt, war die Auslegung, dass es sich bei einem Thermofenster nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 handelt, jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs eine zulässige - und überdies gut vertretbare - Auslegung des Gesetzes. Dies bedeutet, dass weder die Mitarbeiter noch eventuelle Repräsentanten der Beklagten in dem Bewusstsein handelten, mit dem Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs, das unstreitig mit einem sogenannten Thermofenster ausgerüstet ist, möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen und diesen Gesetzesverstoß sowie eine Schädigung des Klägers als Käufer des Fahrzeugs zumindest billigend in Kauf genommen haben (OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19). Die Darlegung der Klägerseite ergeht sich hier, wie bereits ausgeführt, in der Verwendung von Textbausteinen unter Zitierung von Presseberichten, anderen Urteilen und parlamentarischen Unterlagen ohne jedes Eingehen auf die Probleme der Vorsatzfassung in den hier gegenständlichen Fallgestaltungen.
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3. Unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer unerlaubten Handlung in Gestalt eines Verstoßes gegen ein Schutzgesetz (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB) ergibt sich nichts anderes, denn hiernach wäre eine vorsätzliche Täuschung im Sinne eines Betruges erforderlich, die das Gericht nach den vorstehenden Ausführungen ebenfalls nicht festzustellen vermag.
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Wie bereits ausgeführt, stellte die Annahme der Beklagten, dass es sich bei dem in dem streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Thermofenster nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, in jedem Fall zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs eine zulässige Auslegung des Gesetzes dar, sodass die Verantwortlichen nicht mit dem Vorsatz handelten, den Kläger über eine Eigenschaft des Fahrzeugs zu täuschen und ihm dadurch einen Vermögensschaden zuzufügen (OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19; OLG Nürnberg, Endurteil vom 19.07.2019 - 5 U 1670/18).
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Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB besteht darüber hinaus auch nicht, da es an der erforderlichen Stoffgleichheit zwischen dem auf Klägerseite erlittenen Vermögensschaden und dem von der Beklagten vermeintlich erstrebten Vermögensvorteil fehlt (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20).
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4. Entsprechendes gilt für §§ 823 Abs. 2 i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 EG-FGV.
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a) Unabhängig davon, ob die Beklagte diese Vorschrift verletzt hat, fehlt ihr der von § 823 Abs. 2 BGB vorausgesetzte Schutzgesetzcharakter. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Norm als Schutzgesetz anzusehen, wenn sie nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Bei Vorschriften, die - wie hier die §§ 6, 27 EG-FGV - Richtlinien umsetzen, kommt es nach der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung insoweit maßgeblich auf den Inhalt und Zweck der Richtlinie - hier der Richtlinie 2007/46/EG - an (vgl. BGH, EuGH-Vorlage vom 09.04.2015, VII ZR 36/14). Den Erwägungsgründen (2), (4) und (23) zufolge bezweckt diese Richtlinie die Vollendung des Binnenmarkts und dessen ordnungsgemäßes Funktionieren. Darüber hinaus sollen die technischen Anforderungen in Rechtsakten harmonisiert und spezifiziert werden, wobei die Rechtsakte vor allem auf eine hohe Verkehrssicherheit, hohen Gesundheits- und Umweltschutz, rationelle Energienutzung und wirksamen Schutz gegen unbefugte Benutzung abzielen (Erwägungsgrund (2) der Richtlinie). Weder an diesen Stellen noch unter den anderen Erwägungsgründen der Richtlinie lässt sich demgegenüber ein Hinweis dafür finden, dass der Richtliniengeber darüber hinaus den Schutz des einzelnen Fahrzeugerwerbers bzw. -besitzers gegen Vermögensbeeinträchtigungen im Blick hatte. Auch der nationale Gesetzgeber hat in der Begründung zur EG-FGV (Seite 36 der BR-Drucks. 190/09) in Übereinstimmung damit ausführt, dass die Richtlinie dem Abbau von Handelshemmnissen und der Verwirklichung des Binnenmarktes der Gemeinschaft dienen und die EG-FGV darüber hinaus zur Rechtsvereinfachung und zum Bürokratieabbau beitragen soll (so jeweils LG Braunschweig, Urteil vom 27.10.2017 - Az. 3 O 136/17; Urteil vom 10.01.2018 - Az. 3 O 622/17; Urteil vom 17.01.2018 - Az. 3 O 3447/16; Urteil vom 14.02.2018 - Az. 3 O 1915/17).
58
Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsauffassung inzwischen zweimal aktuell bestätigt (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI 252/19, Rn. 72 ff.; Urteil vom 30.07.2020 - VI 5/20, Rn. 10 ff.).
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b) Ferner fehlt es ohnehin auch nicht an einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung.
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Gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 EG-FGV hat der Inhaber der EG-Typengenehmigung für jedes dem genehmigten Typ entsprechende Fahrzeug eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Art. 18 i.V.m. Anhang IX dar Richtlinie 2007/46/EG auszustellen und dem Fahrzeug beizufügen. Nach der Definition in Art. 3 Nr. 36 der Richtlinie 2007/46/EG ist eine Übereinstimmungsbescheinigung „das in Anhang IX wiedergegebene, vom Hersteller ausgestellte Dokument, mit dem bescheinigt wird, dass ein Fahrzeug aus der Baureihe eines nach dieser Richtlinie genehmigten Typs zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspricht“. Nach § 27 Abs. 1 S. 1 EG-FGV dürfen neue Fahrzeuge, für die eine Übereinstimmungsbescheinigung vorgeschrieben ist, im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind.
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Selbst wenn man mit der Klagepartei davon ausginge, dass die Beklagte eine unzulässige Abschalteinrichtung verwendet hätte, so fehlt es aber nicht an einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung. Denn die Bescheinigung ist bereits dann gültig, wenn der Hersteller sie unter Verwendung des vorgeschriebenen Formulars ausgestellt hat und wenn sie fälschungssicher sowie vollständig ist. Es gilt daher ein formeller Gültigkeitsbegriff (vgl. OLG Braunschweig, Urteil vom 19.02.2019 - 7 U 134/17). Danach fehlt es aber an einem tatbestandlichen Verstoß gegen die §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
62
5. Die geltend gemachten Schadensersatzansprüche ergeben sich weiterhin nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007.
63
Denn Art. 5 Abs. 2 i.V.m. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 stellt kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019 - 8 U 1449/19; OLG Braunschweig, Urteil vom 19.02.2019 - 7 U 134/17).
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Wie sich aus der VO (EG) 715/2007 nach deren einleitender Bemerkung (1) bis (4) sowie zusammengefasst nochmals in (27) ergibt, zielt die VO (EG) 715/2007 auf die Harmonisierung des Binnenmarktes bzw. dessen Vollendung durch Einführung gemeinsamer technischer Vorschriften zur Begrenzung der Fahrzeugemissionen. Zwar werden neben der Vereinheitlichung der Rechtsregelungen ein hohes Umweltschutzniveau (1) als Ziel und die Reinhaltung der Luft als Vorgabe für Regelungen zur Senkung der Emissionen von Fahrzeugen (4) beschrieben, doch folgt aus den Ausführungen unter (7), die die Verbesserung der Luftqualität in einem Zug mit der Senkung der Gesundheitskosten (und dem Gewinn an Lebensjahren) nennen, dass es auch insoweit nicht um individuelle Interessen, sondern letztlich um umwelt- und gesundheitspolitische Ziele geht. Dass der europäische Gesetzgeber im Sinne der Definition des Schutzgesetzes dem einzelnen Verbraucher die Rechtsmacht in die Hand geben wollte, mit Mitteln des Privatrechts gegen denjenigen vorzugehen, der in dieser Verordnung zur Umsetzung dieser Ziele geregelte Verbote übertritt und sein Rechtsinteresse beeinträchtigt, geht aus den Vorbemerkungen nicht hervor. Vielmehr spricht stattdessen der Umstand, dass die Ziele in (7) in Beziehung gesetzt werden zu den Auswirkungen der Emissionsgrenzwerte auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit von Herstellern, gegen einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers. Dies gilt umso mehr, als auch die Regelungen der VO (EG) 715/2007 selbst keinen Bezug zu Individualinteressen des einzelnen Bürgers aufweisen (vgl. OLG München, Beschluss vom 29.08.2019, 8 U 1449/19; OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19).
65
6. Die vorliegende Klage ist damit insgesamt unschlüssig, auch soweit die Klagepartei auf zahlreiche weitere behauptete unzulässige Abschalteinrichtungen abstellt. Der diesbezüglich umfangreiche und sich teilweise wiederholende Vortrag enthält „Behauptungen ins Blaue hinein“ und stützt sich großteils auf Presseberichterstattung, andere Urteile und parlamentarische Unterlagen. Soweit die Klägerseite hier die Entscheidung des BGH vom 28.01.2020, Az.: VIII ZR 57/19 anführt, ist zu beachten, dass es sich in dem Fall um einen Gewährleistungsfall handelte. Diesbezüglich reichen nach der bereits seit jeher vertretenen „Symptomtheorie“ Indizien und Mangelerscheinungen um einen Sachmangel zunächst einmal schlüssig zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Mängelrechte sind vorliegend jedoch in Ermangelung einer Vertragsbeziehung nicht gegeben. Ein deliktischer Anspruch indes weist völlig andere Anspruchsmerkmale auf und an die substantiierte Darlegung einer deliktischen Handlung sind ungleich höhere Maßstäbe anzusetzen, da im Ergebnis gar eine Straftat behauptet wird.
66
Dies insbesondere auch, da sich die Klagepartei im Fall des OM651 nicht ohne Weiteres auf eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten hinsichtlich etwaiger Kenntnis von den behaupteten Manipulationen berufen kann, ohne zunächst ihrer primären Darlegungslast nachgekommen zu sein.
67
An eine sekundäre Darlegungslast in Bezug auf die Frage, wer bei der Beklagten welche Kenntnisse hatte, kann gedacht werden, wenn ausreichend konkrete Anhaltspunkte für eine Kenntnis vorliegen. Fehlt es dagegen wie hier an jeglichem konkreten Vortrag dazu, welche Kenntnisse bzw. welches Verhalten welchem Organ oder Repräsentanten vorgeworfen wird, dann kommt eine sekundäre Darlegungslast nicht in Betracht. Schon begrifflich ist aber eine sekundäre Behauptungslast ohne primäre Behauptung seitens des Gegners ausgeschlossen (Laumen, MDR 2019, 193, 197). Dass aber die Klägerseite nur ins Blaue hinein ohne Substanz vorträgt, stellt sie auf Seite 25 der Klage selbst klar, indem sie ausführt, dass jedes andere als das von ihr zuvor pauschal behauptete Szenario „allen üblichen Gepflogenheiten widerspräche und daher abwegig sei“.
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Selbst wenn eine - hier nicht gegebene - hinreichend konkrete Behauptung einer Kenntnis des Vorstands oder eines anderen Repräsentanten des in Anspruch genommenen Unternehmens vorliegt, löst dies nicht stets eine sekundäre Darlegungslast aus. Vom Standpunkt des Unternehmens, das eine Kenntnis bestreitet, müsste der ihm sonst aufgegebene Vortrag auf eine sogenannte negative Tatsache zielen, nämlich die Unkenntnis des fraglichen Vorstands oder sonstiger Repräsentanten. Wenn eine Partei eine solche negative Tatsache behauptet und gegebenenfalls beweisen muss, führt dies regelmäßig allerdings gerade umgekehrt zu einer sekundären Darlegungslast der anderen Partei, damit die darlegungsbelastete Partei überhaupt in der Lage ist, einen sachgerechten Vortrag zu halten (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19, Rn. 90).
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Würde man der Beklagten eine sekundäre Darlegungslast für die Unkenntnis auferlegen, obwohl die Darlegungs- und Beweislast für die Kenntnis eines Vorstandsmitglieds oder eines sonstigen Repräsentanten von den haftungsbegründenden Merkmalen einer Norm an sich bei der Klagepartei liegt müsste die Beklagte faktisch die gesamte Kommunikation innerhalb des Unternehmens über einen jahrelangen Zeitraum offenlegen. Dies ist praktisch nicht möglich und grundsätzlich unzumutbar (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19, Rn. 91).
70
Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn eine bestimmte Verhaltensweise eines Unternehmens zum Geschäftsmodell geworden ist und deshalb davon auszugehen ist, dass der Vorstand dieses Geschäftsmodell gebilligt hat. Dann kann eine deutlich erhöhte Substantiierungslast des Unternehmens eintreten (OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19, Rn. 92). Ein solcher Fall kann indes nach dem Vortrag der Klägerseite nicht angenommen werden.
71
Die Klage unterliegt daher insgesamt der Abweisung.
72
Die geltend gemachten Nebenforderungen teilen das Schicksal der Hauptforderung.
73
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
74
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO.
75
Der Streitwert wurde nach §§ 63, 39 ff. GKG, 3 ff. ZPO festgesetzt.