Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 19.11.2020 – W 5 K 20.326
Titel:

baurechtliche Nachbarklage, Yoga-/Sportstudio im reinen Wohngebiet, Unbestimmtheit der Baugenehmigung, Rücksichtnahmegebot

Normenketten:
BayBO Art. 68 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34
BauNVO § 3 Abs. 3 Nr. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
Schlagworte:
baurechtliche Nachbarklage, Yoga-/Sportstudio im reinen Wohngebiet, Unbestimmtheit der Baugenehmigung, Rücksichtnahmegebot
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 16.09.2021 – 9 ZB 21.120
Fundstelle:
BeckRS 2020, 51647

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

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Die Klägerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung betreffend die Nutzungsänderung von Wohnräumen in ein Yoga/Sportstudio.
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1. Die Klägerin ist Erbbauberechtigte des Grundstücks Fl.Nr. …1 der Gemarkung Würzburg A* …H* … Straße … …*). Das Grundstück ist mit einem Wohngebäude bebaut und grenzt südwestlich an das Grundstück der Beigeladenen mit der Fl.Nr. …4 der Gemarkung Würzburg A** … … … Baugrundstück) an. In diesem Bereich setzt ein einfacher Bebauungsplan (B-Plan … F* … vom 27.10.1966) die Geschossflächenzahl auf 0,35 fest.
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Mit Bauantrag vom 2. August 2018, eingegangen bei der Stadt Würzburg am 9. August 2018, beantragte die Beigeladene die Umnutzung von Wohnräumen im Erdgeschoss in Räume für ein Yoga-/Sportstudio auf dem Grundstück Fl.Nr. …4 der Gemarkung Würzburg. Laut Betriebsbeschreibung vom 13. September 2018 soll der gewerbliche Bereich des Anwesens mit einer Fläche von 134 m² im Erdgeschoss von dem Mieter F* … … zum Zwecke des „Konditions- und Personaltrainings“ genutzt werden. Der Mieter arbeite demnach alleine und habe keine Angestellten. Die Öffnungszeiten seien Montag bis Donnerstag von 18 Uhr bis 21 Uhr. Vormittags finde nur Einzelcoaching nach persönlicher Terminvergabe statt. Pro Tag kämen durchschnittlich vier bis sieben Kunden zum Training. Am Wochenende bestehe keine gewerbliche Nutzung.
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Die Klägerin hat dem Vorhaben nicht zugestimmt. Bereits im Verwaltungsverfahren brachte sie gegenüber der Beklagten vor, dass auf dem Baugrundstück ein Kampfsportstudio „… … … … … …“ betrieben werde. Dies führe zu erheblichen Beeinträchtigungen auf ihrem Grundstück vor allem durch Lichtverschmutzung und Geräuschemissionen. Der Kampfsport werde bis spät in die Abendstunden betrieben. Die Gebäudevoraussetzungen erschienen für diese Nutzung nicht adäquat zu sein.
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Mit Bescheid vom 20. Januar 2020 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die Baugenehmigung für die „Nutzungsänderung von Wohnräumen im EG in ein Yoga-/Sportstudio“. Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung des Baugrundstücks als reines Wohngebiet wurde ausnahmsweise gemäß § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO die Nutzung „freiberufliche Tätigkeit als Anlage für gesundheitliche und sportliche Zwecke“ zugelassen (Ziffer 1201). Unter Ziffer 2071 wurden aus immissionsschutzrechtlicher Sicht u.a. folgende Auflagen formuliert:
1. Die Beurteilungspegel aller vom Yoga-/Sportstudio einschließlich des An- und Abfahrverkehrs ausgehenden Geräusche dürfen am nächstgelegenen Immissionsort den Immissionsrichtwert der TA Lärm von tagsüber 50 dB(A) im umliegenden reinen Wohngebiet nicht überschreiten. Als Tageszeit gilt die Zeit zwischen 6:00 und 22:00 Uhr. Der Immissionsrichtwert gilt auch dann als überschritten, wenn kurzzeitige Geräuschspitzen den Richtwert am Tag um mehr als 30 dB(A) überschreiten. […]
3. Ein Betrieb des Yoga-/Sportstudios sowie die gewerbliche Nutzung der zugehörigen Stellplätze sind antragsgemäß nur werktags von Montag bis Donnerstag vormittags und in der Tageszeit zwischen 18:00 und 21:00 Uhr zulässig. […]
6. Musikdarbietungen und Live-Musik innerhalb und außerhalb des Yoga-/Sportstudios sind nicht zulässig. […]
7. Innerhalb der Räume des Yoga-/Sportstudios darf lediglich reine Hintergrundmusik über eine Musikanlage abgespielt werden.
8. Bei lärmintensiven Tätigkeiten in den Räumen des Yoga-/Sportstudios sind sämtliche, ins Freie führende Türen, Tore und Fenster etc. geschlossen zu halten. […] Unter Ziffer 2108 des streitgegenständlichen Bescheids ist geregelt, dass die Betriebsbeschreibung vom 13. September 2018 Grundlage des Bescheids und zu beachten ist.
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Zur Begründung wird unter Ziffer 7200 des Bescheids ausgeführt, dass von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Nutzungsart im reinen Wohngebiet gemäß § 31 Abs. 1 BauGB eine Ausnahme gewährt werden könne, da diese in dem Bebauungsplan nach Art und Umfang (§ 13 i.V.m. § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) ausdrücklich vorgesehen sei. Das Vorhaben befinde sich im Bereich eines einfachen Bebauungsplanes (§ 30 Abs. 3 BauGB). Die Zulässigkeit des Vorhabens richte sich nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. §§ 3 und 13 BauNVO. Die geplante Nutzungsänderung könne zugelassen werden, da es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge und die Erschließung gesichert sei. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem reinen Wohngebiet (§ 3 BauNVO). Somit beurteile sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der BauNVO in einem reinen Wohngebiet zulässig wäre. Die freiberufliche Tätigkeit als Anlage für gesundheitliche und sportliche Zwecke könne ausnahmsweise zugelassen werden, da die geplante Nutzung keine Störereigenschaft aufweise, die eine Gebietsunverträglichkeit in einem dem Wohnen dienenden Gebiet hervorrufe. Auch der dieser Nutzung zuzuordnende An- und Abfahrtslärm führe aufgrund der Anordnung der nachzuweisenden Stellplätze zum G* … hin nicht zu einer Störung des gebietstypischen Schutzbedürfnisses der Anwohner. In der immissionsschutzfachlichen Stellungnahme seien gegen die ausnahmsweise Zulassung des beantragten Vorhabens keine Bedenken geäußert worden. Es seien deshalb keine Gründe ersichtlich, die in der Abwägung mit dem im vorliegenden Fall vorhandenen besonderen Schutzbedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner des reinen Wohngebiets kollidieren. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot aus § 15 Abs. 1 BauNVO sei unter anderem durch die dem Antrag zu Grunde liegende Betriebsbeschreibung und durch die Festlegung immissionsschutzrechtlicher Auflagen nicht ersichtlich. Bei Beachtung der immissionsschutzfachlichen Auflagen sei keine Beeinträchtigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarschaftlichen Rechte zu befürchten. Durch die Zulassung der Ausnahme würden die Grundzüge der Planung nicht beeinträchtigt und die Abweichung sei städtebaulich vertretbar.
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2. Gegen diesen Bescheid ließ die Klägerin mit Schriftsatz vom 20. Februar 2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, Klage erheben und beantragen,
Der Bescheid der Stadt Würzburg vom 20. Januar 2020 (Aktenzeichen: …*) wird aufgehoben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin einen Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung habe. Der Bescheid der Stadt Würzburg verletze die Klägerin in ihren Rechten. Die Nutzungsänderung sei bauplanungsrechtlich unzulässig. In einem faktisch reinen Wohngebiet (WR) im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 BauNVO sei ein Yoga-/Sportstudio - insbesondere wenn es als Kampfsportstudio genutzt werde - unzulässig. Der konkrete Betrieb sei seiner Art nach erfahrungsgemäß generell geeignet, das Wohnen in einem reinen Wohngebiet zu stören. Das konkrete Vorhaben sei nicht über den Ausnahmetatbestand des § 3 Abs. 3 BauNVO zulässig, da die Tatbestandsvoraussetzungen nicht gegeben seien. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erhaltung des Gebietes als reines Wohngebiet. Die Nutzung als Yoga-/Sportstudio - insbesondere nach der der Genehmigung zugrunde gelegten Betriebsbeschreibung - sei nicht „wohnartig“. Die sich aus der Betriebsbeschreibung ergebende Unterrichtssituation entspreche nicht häuslichen Abläufen und überschreite von ihrem Umfang her die Grenzen einer wohnartigen Betätigung. Die Unterrichtsstunden selbst erfolgten naturgemäß nicht in ruhiger und entspannter Atmosphäre und hätten ein über eine Wohnnutzung hinausgehendes Störpotenzial. Eine Störung der Nachbarschaft durch lautstarke Unterhaltungen oder ähnliches Verhalten der Kursteilnehmer vor oder nach den Unterrichtseinheiten sei erfahrungsgemäß zu erwarten. Ebenso stehe eine Beeinträchtigung durch den erhöhten An- und Abfahrtsverkehr im Raum. Demnach sei die streitgegenständliche Nutzung grundsätzlich im reinen Wohngebiet unverträglich, da sie die Grenzen einer wohnartigen Betätigung überschreite. Die Anwendung des § 13 BauNVO in einem reinen Wohngebiet nach § 3 BauNVO setze weiter voraus, dass eine freiberufliche oder eine ähnliche gewerbliche Nutzung nur in einzelnen Räumen ausgeübt werde. Diese Voraussetzung sei vorliegend ebenfalls nicht gegeben. Die Größe der für die berufliche Tätigkeit vorgesehenen Räumlichkeiten überschreite deutlich den Umfang dessen, was noch als „einzelne Räume“ im Sinne des § 13 BauNVO qualifiziert werden könne. Die streitgegenständliche Nutzung sei auch wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO im Einzelfall unzulässig. Mit der geplanten Nutzung des Hauses als Sportstudio, in dem vornehmlich Kampfsport unterrichtet werde, gingen Belästigungen und Störungen einher, die den Nachbarn - gerade unter Berücksichtigung der besonderen Schutzwürdigkeit der Wohnnutzung in einem faktischen reinen Wohngebiet - nicht mehr zugemutet werden könnten. Es sei zu erwarten, dass die Nachbarschaft durch lautstarke Unterhaltungen oder ähnliches Verhalten der Kursteilnehmer vor oder nach den Kursen unzumutbar gestört werde.
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3. Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
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Die Klage sei zulässig, aber nicht begründet. Die Baugenehmigung begegne mit der unter Ziffer 1201 erteilten Ausnahme planungsrechtlich keinen Bedenken. Das Baugrundstück liege im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans F* … … vom 27. Oktober 1966, der für das Bauquartier eine Geschossflächenzahl festsetze. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem reinen Wohngebiet gemäß § 3 BauNVO. Hinsichtlich der Zulässigkeit der genehmigten Nutzung werde zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung unter Ziffer 7200 in der Baugenehmigung Bezug genommen. Ausdrücklich werde lediglich nochmals darauf hingewiesen, dass die freiberufliche Nutzung in einem sehr eingeschränkten Umfang zu festgelegten Zeiten entsprechend der vorgelegten Betriebsbeschreibung vom 13. September 2018 genehmigt und im Baubescheid unter Ziffern 2071.3 und 2108 festgeschrieben sei, sodass die streitgegenständliche Nutzung der allgemeinen Zweckbestimmung des Bauquartiers nicht zuwiderlaufe.
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4. Die Beigeladene stellte keinen Antrag.
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Sie ließ ausführen, dass die Baugenehmigung in vollem Umfang zu Recht ergangen sei. Es seien keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften verletzt, die dem Schutz des Nachbarn dienten. Die Klägerin könne entgegen ihren Ausführungen keinen Gebietsbewahrungsanspruch geltend machen. Die Baugenehmigung gehe im Hinblick auf die Umgebungsbebauung davon aus, dass sich das verfahrensgegenständliche Anwesen in einem reinen Wohngebiet befinde. Dort seien ausnahmsweise Anlagen für gesundheitliche und sportliche Zwecke, die den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienten, gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zulässig. Bei dem Sportstudio, das im Erdgeschoss des Anwesens eingerichtet sei, handele es sich allerdings nicht um eine Sportanlage i.S.d. § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Das Sportstudio sei keine selbstständige Anlage, vielmehr handele es sich um die Nutzung einzelner Räume in einem Wohnhaus. Die Nutzung einzelner Räume eines Gebäudes in einem reinen Wohngebiet sei für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Art ausübten, in Räumen, als Teilen von Gebäuden aller Art, jedoch allgemein planungsrechtlich zulässig, § 13 BauNVO. Das von dem Mieter der Beigeladenen angebotene Training sei jedenfalls eine berufliche Betätigung, die in ähnlicher Art wie die eines freiberuflich Tätigen ausgeübt werde. Der Mieter sei selbstständig tätig und habe keine Angestellten. Es dominiere im verfahrensgegenständlichen Anwesen das Wohnen, das vom Mieter der Beigeladenen ohne Einschränkung ausgeübt werde. Sowohl in der Art als auch im Umfang sei die berufliche Betätigung im Erdgeschoss des Anwesens so geringfügig, dass sie dem Wohnen untergeordnet sei. Durch das untergeordnete Sportangebot werde die Wohnnutzung nicht beeinträchtigt. Die in der Baugenehmigung enthaltenen Auflagen stellten sicher, dass die freiberufliche Tätigkeit die Wohnnutzung nicht überwiege. Die Umgebung werde jedenfalls durch das Sportstudio nicht geprägt. Der Gebietscharakter des reinen Wohngebiets werde durch die Nutzung der Erdgeschosswohnung als Sportstudio nicht beeinträchtigt. Das Yogastudio diene insbesondere den Bedürfnissen der Anwohner. Die Nutzung des Yoga-/Sportstudios sei auf vier Tage in der Woche und an diesen Tagen auf wenige Stunden beschränkt, sodass sie für das Wohnhaus der Beigeladenen nicht prägend sei. Insgesamt würden von Montag bis Donnerstag insgesamt zwölf Trainingsstunden angeboten, die durchschnittlich von vier bis sieben Kunden täglich besucht würden. Hinzu käme noch Einzelcoaching an einigen Terminen am Vormittag. Der Charakter eines reinen Wohngebiets gehe durch die genehmigte Nutzung in keiner Weise verloren. Auch ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme gemäß § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zulasten der Klägerin sei durch das Sportstudio nicht zu erkennen. Das Yogastudio befinde sich im Erdgeschoss und werde in geringem Umfang an vier Tagen pro Woche genutzt. An den Wochenenden finde kein Training statt. Beschwerden seitens der Nachbarschaft über Lärmbeeinträchtigungen oder andere Störungen lägen nicht vor. Die immissionsschutzfachliche Beurteilung habe keine Bedenken ergeben. Die unter Ziffer 2071 im Genehmigungsbescheid enthaltenen Auflagen stellten sicher, dass die Anforderungen an den Immissionsschutz eingehalten würden. Auch die Klägerin bringe keine konkreten Beeinträchtigungen vor. Sie unterstelle lediglich, dass die Kursteilnehmer vor oder nach einem Kurs durch lautstarke Unterhaltungen Lärm verursachen könnten, der zu Beeinträchtigungen führen könnte. Aber auch eine gewöhnliche Wohnnutzung verursache Personenverkehr und damit verbundenen „Lärm“. Von in der Umgebung unzumutbarem Lärm könne keine Rede sein. Die Baugenehmigung sei damit zu Recht ergangen und müsse Bestand haben. Die Klage sei abzuweisen.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des sonstigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid der Stadt Würzburg vom 20. Januar 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Insoweit ist die Stadt Würzburg hier zutreffender Weise vom vereinfachten Genehmigungsverfahren des Art. 59 BayBO ausgegangen.
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Die Baugenehmigung ist nur dann aufzuheben, wenn sie rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Nachbar eines Vorhabens kann eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn es das Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. OVG Münster, B.v. 5.11.2013 - 2 B 1010/13 - DVBl. 2014, 532; BVerwG, B.v. 28.7.1994 - 4 B 94/94; U.v. 19.9.1986 - 4 C 8.84; U.v. 13.6.1980 - IV C 31.77; alle juris).
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2. Vorliegend führt ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz zum Erfolg der Klage. Die streitgegenständliche Baugenehmigung ist materiell rechtswidrig, da sie nicht hinreichend bestimmt ist im Sinne des Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG.
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Hinreichend bestimmt im Sinne des Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG ist eine Baugenehmigung, wenn die getroffene Regelung für jeden Beteiligten - gegebenenfalls nach objektivierender Auslegung - eindeutig zu erkennen ist und deshalb keiner unterschiedlichen Bewertung zugänglich ist. Was Gegenstand der Baugenehmigung sein soll, bestimmt der Bauherr durch seinen Bauantrag. Der Inhalt der Baugenehmigung ergibt sich aus der Bezeichnung, den Regelungen und der Begründung im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen und sonstigen Unterlagen. Wird deshalb in der Baugenehmigung auf den Antrag oder Antragsunterlagen verwiesen, ist die Baugenehmigung hinreichend bestimmt, wenn es der Antrag oder die Antragsunterlagen sind. In nachbarrechtlichen Streitigkeiten - wie hier - ist die Bestimmtheit der Baugenehmigung daraufhin zu prüfen, ob es dem Nachbarn möglich ist, festzustellen, ob und in welchem Umfang er durch das Vorhaben in seinen drittschützenden Rechten betroffen wird (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2019 - 9 CS 18.2200 - juris Rn. 23). Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 31.10.2016 - 15 B 16.1001 - juris; B.v. 5.7.2017 - 9 CS 17.603 - juris; jeweils m.w.N.).
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Ein Nachbar kann demnach die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit einer Genehmigung geltend machen, soweit dadurch nicht sichergestellt ist, dass das genehmigte Vorhaben allen dem Nachbarschutz dienenden Vorschriften entspricht (vgl. BayVGH, U.v. 14.10.1985 - 14 B 85 A.1224 - BayVBl. 1986, 143 ff.).
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Die Baugenehmigungsbehörde ist verpflichtet, sicherzustellen, dass betroffene Nachbarn vor unzumutbaren Immissionen ausreichend geschützt werden. Erforderlichenfalls ist dies durch Auflagen sicherzustellen, auf die der Nachbar einen Anspruch besitzt (BayVGH, U.v. 16.11.2006 - 26 B 03.2486 - juris). Diesem Anspruch kann eine Baugenehmigung nur gerecht werden, wenn sie Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lässt, damit einerseits der Bauherr die Bandbreite der für ihn legalen Nutzungen zweifelsfrei feststellen kann und andererseits für Drittbetroffene das Maß der für sie aus der Baugenehmigung erwachsenden Betroffenheit deutlich wird.
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Dies zugrunde gelegt weist der Bescheid vom 20. Januar 2020 die erforderliche hinreichende Bestimmtheit im Hinblick auf die Art und den Umfang der genehmigten Nutzung nicht auf.
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2.1. Vorliegend ist bereits unklar, was Gegenstand des streitgegenständlichen Bescheids vom 20. Januar 2020 ist. Genehmigt wurde die „Nutzungsänderung von Wohnräumen in ein Yoga-/Sportstudio“. Der Begriff des „Yoga-/Sportstudios“ wird im Bescheid unmittelbar nicht näher erläutert, so dass es entscheidend darauf ankommt, ob sich eine Konkretisierung aus den Antragsunterlagen entnehmen lässt. Der Bescheid verweist insofern unter Ziffer 2108 auf die Betriebsbeschreibung vom 13. September 2018, welche Grundlage des Bescheids sei.
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Die Betriebsbeschreibung (vgl. Bl. 10 der Bauakte Az. …*) erläutert die genehmigte Nutzung jedoch nur unzureichend. In ihr ist die Rede von einem „Konditions- und Personaltraining“, welches der Mieter der Beigeladenen im gewerblich genutzten Bereich auf dem Baugrundstück durchführen möchte. Dieses Training werde alleine vom Mieter betrieben, der keine Angestellten habe. Ferner finden sich Angaben zu den Öffnungszeiten und zu der Anzahl der erwarteten Kunden. Die Betriebsbeschreibung enthält mithin keine Konkretisierung insbesondere des weiten Begriffs des „Sportstudios“, sondern fügt diesem vielmehr durch die Bezugnahme auf das Personaltraining eine weitere Interpretationsmöglichkeit hinzu. Besonders für die Nutzungszeiten am Abend zwischen 18:00 Uhr und 21:00 Uhr ist nicht ersichtlich, welche Yoga- bzw. Sportveranstaltungen und Kurse im Einzelnen stattfinden und welcher Nutzerkreis angesprochen ist. Die Interpretationsbreite hinsichtlich der verschiedenen möglichen Nutzungen ist in diesem Fall so groß, dass der Bauantrag keiner Auslegung zugänglich ist, insbesondere nicht durch die Berücksichtigung des tatsächlich stattfindenden Betriebs in Form eines Kampfsportstudios (vgl. für den Fall der Auslegung des Bauantrags - Bauvorhaben „Lotto-, TotoWettannahmestelle“ - als Wettbüro BayVGH, B.v. 19.7.2016 - 9 ZB 14.1147 - BeckRS 2016, 50145). Folglich lässt sich im vorliegenden Fall das Störpotential der genehmigten Nutzung der Baugenehmigung einschließlich der dieser zugrundeliegenden Antragsunterlagen nicht entnehmen.
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2.2. Es kann aufgrund der Unbestimmtheit der Baugenehmigung vom 20. Januar 2020 nicht eindeutig festgestellt werden, ob das genehmigte Vorhaben gegen nachbarschützende Rechte verstößt. Dies ist unter mehreren Gesichtspunkten relevant:
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2.2.1. Aufgrund der Unbestimmtheit der Baugenehmigung kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich eine Rechtsverletzung der Klägerin durch die streitgegenständliche Baugenehmigung aus dem sog. Gebietsbewahrungs- oder Gebietserhaltungsanspruch ergibt.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Nachbar im Plangebiet sich gegen die Zulässigkeit einer gebietswidrigen Nutzung im Plangebiet wenden, auch wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Der Nachbar hat also bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst. Begründet wird dies damit, dass im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können soll (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 - 4 B 87/99 - NVwZ 2000, 679; U.v. 16.9.1993 - 4 C 28/91 - BVerwGE 94, 151). Derselbe Nachbarschutz besteht auch im unbeplanten Innenbereich, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht, § 34 Abs. 2 BauGB (BVerwG, U.v. 16. 9.1993 - 4 C 28/91 - BVerwGE 94, 151; Simon/Busse, BayBO, Stand: 138. EL Sept. 2020, Art. 66 Rn. 347 und 395). § 34 Abs. 2 BauGB besitzt grundsätzlich nachbarschützenden Charakter (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 - 4 C 28/91 - BVerwGE 94, 151). Danach hat der Nachbar in einem Gebiet, auf das § 34 Abs. 2 BauGB entsprechend Anwendung findet, einen Schutzanspruch auf Bewahrung der Gebietsart.
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Vorliegend ist davon auszugehen, dass mit dem Bebauungsplan „…“ für das Gebiet F* … vom 16. Dezember 1966 ein einfacher Bebauungsplan existiert, da dieser lediglich eine Festsetzung der Geschossflächenzahl enthält. Die ursprüngliche Festlegung eines reinen Wohnbaugebiets durch die „Ortsvorschrift über die Bebauung des Stadtgebiets F* …“ vom 29. Februar 1956 i.d.F. der Gemeindeverordnung vom 7. April 1960 (Amtsbl. Nr. 6/60) als „ortspolizeiliche“ Vorschrift entfaltet aufgrund des Außerkrafttretens der Vorschrift spätestens zwanzig Jahre nach ihrem Inkrafttreten (vgl. Art. 77 Abs. 1 Satz 1 LStVG 1957 = Art. 60 Abs. 1 Satz 1 LStVG) keine Wirksamkeit mehr (BayVGH, U.v. 29.5.2009 - 1 N 06.2824 - juris Rn. 41 ff.). Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit bestimmt sich daher insoweit nach § 30 Abs. 3 i.V.m. § 34 BauGB.
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Die Kammer folgt bezüglich der Beurteilung der Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung der Einschätzung der Beteiligten, dass es sich bei der Eigenart der näheren Umgebung um ein reines Wohngebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 BauNVO handelt. Unabhängig davon, wie weit man in südwestlicher Richtung den Umgriff zur Bestimmung der „näheren Umgebung“ fasst, ist jedenfalls der Bereich, der nördlich des Baugrundstücks durch die Straße „A* …“, südlich durch die „T* … Straße“ und östlich durch den Abschluss der Bebauung abgegrenzt wird, ganz überwiegend von Wohnbebauung geprägt. Vereinzelte gewerbliche oder sonstige vorhandene Nutzungen stellen sich als freiberufliche Tätigkeiten (z.B. Kinesiologin) oder um ausnahmsweise im reinen Wohngebiet gemäß § 3 Abs. 3 BauNVO zulässige Vorhaben dar (vgl. kirchliches Zentrum … …*).
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Die Stadt Würzburg hat das streitgegenständliche Vorhaben ausnahmsweise als Anlage für gesundheitliche und sportliche Zwecke nach § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO i.V.m. § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen. Voraussetzung und vorliegend problematisch ist hierbei jedoch, dass diese Anlagen „den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets dienen“ müssen. Die Bedürfnisklausel soll eine fußläufig erreichbare Infrastrukturausstattung bei gleichzeitiger Gewährleistung der gebietstypischen Wohnruhe ermöglichen. Hierzu werden die vier in § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO genannten Nutzungsarten im Wesentlichen auf die Befriedigung der innergebietlichen Nachfrage beschränkt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 138. EL Mai 2020, § 3 BauNVO Rn. 82). Eine Anlage für kirchliche, kulturelle, gesundheitliche oder sportliche Zwecke kann somit zugelassen werden, wenn sie nach Zweckbestimmung, Umfang und Ausstattung geeignet ist, wenigstens den Bedürfnissen der Bewohner des Gebiets zu dienen (BeckOK BauNVO, Spannowsky/Hornmann/Kämper, 23. Edition, Stand: 15.9.2020, § 3 Rn. 190); gemeint sind die objektivierten Bedürfnisse, die von den Bewohnern eines reinen Wohngebiets typischerweise erwartet werden können und dort nach dessen Eigenart üblicherweise auch auftreten. Erfasst sind z.B. kleine Sportanlagen, bei denen die Ausübung des Sports in einem Gebäude stattfindet und die Nutzung keinen nennenswerten An- und Abfahrverkehr erzeugt, wie bei kleinen Turn- und Gymnastikhallen, kleinen Mehrzweckturnhallen für die Bewohner des Gebiets, kleinen Tennishallen oder einem kleinen Hallenbad (BeckOK BauNVO, Spannowsky/Hornmann/Kämper, 23. Edition, Stand: 15.9.2020, § 3 Rn. 195).
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Entscheidend ist demnach die Art der angebotenen Leistung und deren Umfang, die bestimmbar sein müssen, um eine Aussage zu der Befriedigung einer innergebietlichen Nachfrage treffen zu können. Eben dies ist aufgrund der Baugenehmigung und des Bauantrags nicht möglich, da weder Art noch Umfang des Leistungsangebots klar umrissen sind. So kann das Angebot eines Fitness- bzw. Konditionstrainings oder Yogaunterrichts unter Umständen im reinen Wohngebiet gebietsverträglich als den Bedürfnissen der Bewohner noch entsprechend angesehen werden, das Angebot eines speziellen Personaltrainings oder eines Kampfsporttrainings, welches auf einen besonderen Kundenkreis ausgerichtet ist, dagegen wohl nicht.
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Um hierüber eine endgültige Entscheidung treffen zu können, ist die vorliegende Betriebsbeschreibung aber zu knapp. Es kann daher auch keine Aussage darüber getroffen werden, ob sich die Klägerin mit Erfolg auf einen Anspruch auf Gebietserhaltung berufen kann.
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2.2.2. Zur Begründung der Zulässigkeit hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung stellt der streitgegenständliche Bescheid daneben auch auf § 13 BauNVO ab, indem eine „freiberufliche Tätigkeit als Anlage für gesundheitliche und sportliche Zwecke“ zugelassen wird. Ein „freier Beruf“ hat in Anlehnung an die Definition in § 1 Abs. 2 Satz 1 PartGG im Allgemeinen auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt (BeckOK BauNVO, Spannowsky/Hornmann/Kämper, 23. Edition, Stand: 15.9.2020, § 13 Rn. 16). Demnach ist die Berufsausübung freiberuflich Tätiger gekennzeichnet durch die Erbringung persönlicher Dienstleistungen, die vorwiegend auf individuellen geistigen Leistungen oder sonstigen persönlichen Fertigkeiten beruhen und in der Regel, aber nicht zwingend in unabhängiger Stellung einem unbegrenzten Personenkreis angeboten werden (Beck OKBauNVO, a.a.O., § 13 Rn. 17). Letzteres gilt auch für Gewerbetreibende, sofern sie ihren Beruf in ähnlicher Art wie freiberuflich Tätige ausüben.
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Der Baugenehmigung und den Antragsunterlagen hierzu ist nicht zu entnehmen, ob der Mieter der Beigeladenen als Betreiber des „Yoga-/Sportstudios“ eine solche dem freien Beruf ähnliche Tätigkeit ausübt. Als nicht freiberufsähnlich ist nach h.M. der Betrieb eines Fitnessstudios zu werten, da insofern keine besonderen individuellen geistigen bzw. schöpferischen Fertigkeiten Voraussetzung sind (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 138. EL Mai 2020, § 13 BauNVO Rn. 26). Andererseits kann die Leitung eines Yogastudios oder die Durchführung von Personaltraining bei entsprechender Qualifikation des Gewerbetreibenden und Individualität des Trainingsangebots durchaus freiberufsähnlich erfolgen (vgl. etwa für die Tätigkeit als Yogalehrerin VG München, U.v. 9.5.2016 - M 8 K 15.733 - juris Rn. 54 ff.). Aufgrund der vagen und offenen Beschreibung des Trainingsangebots des Mieters der Beigeladenen ist eine inhaltliche Bewertung der auf dem Baugrundstück angestrebten gewerblichen Nutzung jedoch nicht möglich. Dementsprechend kann nicht abschließend beurteilt werden, inwieweit eine Zulässigkeit der Betätigung nach § 13 BauNVO - ungeachtet der Frage, inwieweit die Nutzung der „Räume“ das Erscheinungsbild des gesamten Gebäudes prägt und dadurch nicht mehr von § 13 BauNVO gedeckt ist (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 138. EL Mai 2020, § 13 BauNVO Rn. 37) - in Betracht kommt.
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2.2.3. Schließlich kann keine abschließende Aussage darüber getroffen werden, ob ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot, auf welches sich die Klägerin als Nachbarin im baurechtlichen Sinne berufen kann, vorliegt.
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Die Anwendbarkeit des Rücksichtnahmegebots ist auch in Baugebieten gegeben, die - wie im vorliegenden Fall - nicht in einem Bebauungsplan festgesetzt sind, sondern nur faktische Baugebiete darstellen. Seine Anforderungen sind Bestandteil des erforderlichen „Einfügens“ im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB oder - wie hier - der Vorgaben aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, falls ein bestimmter Baugebietstyp faktisch vorliegt. Das Gebot der Rücksichtnahme ist nämlich inhaltlich identisch, unabhängig davon, ob es sich aus dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Merkmal des „Einfügens“ oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO herleitet.
37
Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich gewähren. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme (objektiv-rechtlich) begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (BVerwG, U.v. 25.2.1977 - IV C 22/75 - BVerwGE 52, 122). Die hierbei vorzunehmende Interessenabwägung hat sich an dem Kriterium der Unzumutbarkeit auszurichten in dem Sinne, dass dem Betroffenen die nachteilige Einwirkung des streitigen Bauwerks oder dessen Nutzung billigerweise nicht mehr zugemutet werden soll (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1/78 - BauR 1981, 354).
38
Angesichts der Unbestimmtheit der Baugenehmigung lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob von dem Vorhaben des Mieters der Beigeladenen Belästigungen oder Störungen ausgehen, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, vgl. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO. Zwar hat die Stadt Würzburg im Rahmen der Auflagen im streitgegenständlichen Bescheid (vgl. Ziffer 2071) zum Schutz der Nachbarschaft vor schädlichen Immissionen weit gehende Vorkehrungen und Anordnungen getroffen. Allerdings scheidet eine Einzelfallbeurteilung der konkret genehmigten Nutzung aus. Insbesondere die aktuelle Nutzung des Anwesens der Beigeladenen durch ein Kampfsportstudio zeigt, dass durch die spezielle Geräuschkulisse, die im Rahmen der Ausübung des Kampfsports entsteht und die durch unregelmäßige Geräuschspitzen und Impulshaltigkeit geprägt ist, besondere Anforderungen an den Nachbarschutz entstehen. So ist anerkannt, dass es atypische Lärmquellen gibt, deren Besonderheiten das Beurteilungsverfahren und die Immissionsrichtwerte der TA Lärm (Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz; Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm - TA Lärm vom 26. August 1998; GMBl Nr. 26/1998 S. 503) nicht gerecht werden. Die TA Lärm sieht in diesem Sinne in Nr. 3.2.2 selbst vor, dass - abweichend von der Regelfallprüfung nach Nr. 3.2.1 - eine Sonderfallprüfung durchzuführen ist, wenn besondere Umstände vorliegen, die nach Art und Gewicht wesentlichen Einfluss auf die Beurteilung haben können, ob die Anlage zum Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen relevant beiträgt. Angesichts der Unbestimmtheit der Bauantragsunterlagen lässt sich über das Erfordernis einer solchen Sonderfallprüfung keine Klarheit gewinnen. Diese Überlegungen haben in die Untersuchungen zum Immissionsschutz auch keinen Eingang gefunden, auch nicht in die immissionsschutzrechtliche Betrachtung durch die Fachbehörde (vgl. Bl. 39 f. der Bauakte).
39
3. Der Bescheid vom 20. Januar 2020 verletzt die Klägerin aufgrund seiner Unbestimmtheit nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG in ihren Rechten und ist daher aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Nachdem die Beigeladene keinen Antrag gestellt und kein Kostenrisiko übernommen hat, kommt es nicht in Betracht, sie gemäß § 154 Abs. 3 VwGO an der Kostentragung zu beteiligen; sie hat ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst zu tragen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.