Titel:
Verschuldete Versäumung der Klagefrist
Normenkette:
VwGO § 60, § 74
Leitsätze:
1. Eine schuldhafte Fristversäumung liegt vor, wenn der Betroffene hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war; dies gilt auch hinsichtlich der Kenntnis vom Wegfall des Hindernisses und der Erkenntnis, dass die Frist versäumt wurde sowie hinsichtlich möglicher, angesichts der kompletten Umstände des Falles zu erwartender zumutbarer Bemühungen, die bestehenden Hindernisse zu überwinden und zu beseitigen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch Fahrlässigkeit kann die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ausschließen, wenn dem Betroffenen nach dem gesamten Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat bzw. nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, damit das Hindernis baldmöglichst wegfällt; wesentlich sind immer die konkreten Umstände des Einzelfalls. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Krankheit ist nur dann ein entschuldbares Hindernis, wenn es sich um eine schwere und plötzliche Erkrankung handelt, infolgedessen der Erkrankte die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten damit beauftragen kann; nichts anderes kann bezüglich einer Überlastungssituation gelten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Widerruf der Gaststättenerlaubnis, Klagefrist versäumt, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand, Fristversäumnis, unverschuldet, Hindernis, Fahrlässigkeit, Erkrankung, Postphobie, Überlastungssituation
Fundstelle:
BeckRS 2020, 510
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn ich die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Gaststättenerlaubnis.
2
1. Der Kläger betreibt die Schankwirtschaft "S. Bar" (1. OG) mit dem Tanz- und Musiklokal "A. K. (...) in K., R.straße ... (gaststättenrechtlichen Erlaubnis der Beklagten vom 31.7.2013; Gewerbeanmeldung bei der Beklagten vom 27.3.2013).
3
Mit Schreiben vom 18. Februar 2019 regte das Finanzamt K. die Untersagung der Gewerbeausübung an, unter Hinweis darauf, dass der Kläger Betriebssteuerrückstände bzw. Personensteuern, die aus dem Betrieb resultierten, von insgesamt 66.083,90 EUR habe (Lohnsteuer, Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Umsatzsteuer einschließlich Säumnis- und Verspätungszuschlägen). Die Vollstreckung sei im Wesentlichen erfolglos verlaufen. Forderungspfändungen hätten nicht zum Erfolg geführt. Der Vollstreckungsschuldner habe die Vermögensauskunft am 17. März 2016 beim Amtsgericht Kitzingen abgegeben; danach sei er vermögenslos. Der Vollstreckungsschuldner habe aktuell 23 Einträge im Schuldnerverzeichnis. Der Grundbesitz des Vollstreckungsschuldners sei zwangsversteigert worden; der Versteigerungserlös habe jedoch nicht zur Minderung der Rückstände geführt. Der Vollstreckungsschuldner sei wirtschaftlich leistungsunfähig. Anzeichen für eine Besserung der wirtschaftlichen Situation seien nicht erkennbar. Auch seinen sonstigen steuerlichen Verpflichtungen sei der Vollstreckungsschuldner nicht nachgekommen. Umsatzsteuer-Voranmeldungen seien seit dem 2. Quartal 2018 im Schätzungswege ermittelt worden. Die Voranmeldungen lägen bis heute nicht vor. Eine Umsatzsteuererklärung sei nur für das Jahr Kalenderjahr 2015 eingereicht worden. Die Umsatzsteuererklärungen 2011 - 2014 und 2016 - 2017 stünden noch aus. Die Aufteilung der Umsätze auf die Gewerbe S.bar und Zimmerei seien aufgrund fehlender Unterlagen nicht möglich.
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Mit Schreiben vom 7. März 2019 hörte die Beklagte den Kläger zum beabsichtigten Widerruf der Gaststättenerlaubnis an und gab Gelegenheit zur Stellungnahme bis 25. März 2019. Hingewiesen wurde auf die o. g. Mitteilung des Finanzamts K. sowie darauf, dass bereits im Jahr 2017 von der AOK Bayern ein Widerruf der Gaststättenerlaubnis angeregt worden sei. Das Schreiben wurde am 8. März 2019 durch einen Amtsboten in den Briefkasten des Klägers eingelegt.
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Eine Reaktion des Klägers erfolgte nicht.
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Mit kostenpflichtigen Bescheid vom 4. April 2019 widerrief die Beklagte die am 31. Juli 2013 erteilte Gaststättenerlaubnis für die Gaststätten "S.bar" im OG und "A. K. im Keller (Nr. 1) und ordnete an, dass der Betrieb der bezeichneten Gaststätten innerhalb von einem Monat ab Zugang des Bescheides einzustellen ist (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 wurde angeordnet (Nr. 3) und für den Fall einer Zuwiderhandlung gegen Nr. 2 des Bescheides wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 3.000,00 EUR angedroht (Nr. 4). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Erlaubnis zum Betrieb des Gaststättengewerbes sei gemäß § 15 Abs. 2 GastG i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG zu widerrufen, da Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass der Kläger die für den Gewerbebetrieb erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitze. Verstoße ein Gastwirt gegen seine Verpflichtung Abgaben abzuführen, lasse dies auf die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden schließen. Ein Gewerbetreibender sei dann unzuverlässig, wenn er nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür biete, dass er ein Gewerbe künftig ordnungsgemäß betreiben werde. Gewerberechtliche Unzuverlässigkeit werde vor allem durch die Nichterfüllung abgabenrechtlicher Verpflichtungen und auch durch wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit begründet. Ein Gewerbetreibender sei dann als unzuverlässig anzusehen, wenn die angefallenen Steuerrückstände sowohl ihrer Höhe nach als auch im Verhältnis zur steuerlichen Gesamtbelastung des Gewerbetreibenden von Gewicht seien. Vorliegend hätten sich aufgrund nicht gezahlter Steuern und Gebühren beim Finanzamt K. Rückstände in Höhe von insgesamt 66.083,90 EUR angehäuft. Vollstreckungsmaßnahmen des Finanzamtes seien erfolglos geblieben, sodass letztendlich die wirtschaftliche Leistungsunfähigkeit festgestellt worden sei. Dass auch weitere Abgaben nicht rechtzeitig entrichtet wurden, zeige der Antrag der AOK Bayern auf Gewerbeuntersagung im Jahr 2017. Im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit sei es unerheblich, ob ein Verschulden des Betreibers vorliege bzw. welche Ursachen zu der wirtschaftlichen Leistungsunfähigkeit geführt hätten. Von einem zuverlässigen Gewerbetreibenden sei zu erwarten, dass er nicht nur die fälligen Steuern und Abgaben fristgerecht zahle, sondern auch aufgelaufene Steuerschulden nach Kräften alsbald verringere. Nach der Mitteilung des Finanzamtes K. seien vom Kläger keine besonderen Anstrengungen unternommen worden, um die bestehenden Forderungen abzubauen. Durch ein solches Verhalten, verschaffe sich der Kläger gegenüber dem pflichtgemäß handelnden Gewerbetreibenden einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil. Das Finanzamt K. habe ein berechtigtes Interesse daran, dass die fälligen Steuern und Gebühren rechtzeitig abgeführt würden, da diese zur Erfüllung der Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit dienten. Die Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtungen sowie die aufgelaufenen Zahlungsrückstände zeigten, dass die für den Betrieb einer Gaststätte notwendige Zuverlässigkeit nicht vorhanden sei. Aufgrund der aufgeführten Tatsachen sei davon auszugehen, dass auch zukünftig den Verpflichtungen nicht ordnungsgemäß nachgekommen werde. Die Fortsetzung des Betriebs eines erlaubnispflichten Gewerbes sei zu untersagen, wenn dies ohne Erlaubnis betrieben werde. Aufgrund des vorliegenden Widerrufs der Gaststättenerlaubnis vom 4. April 2019 sei der Gastwirt nicht mehr im Besitz der Erlaubnis zum Betrieb einer Gaststätte. Im Rahmen der Ermessensausübung unter Würdigung und Abwägung aller Tatsachen, ergebe sich, dass die Einstellung des Wirtschaftsbetriebs innerhalb eines Monats erforderlich, angemessen und verhältnismäßig sei. Die sofortige Vollziehung sei nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO im überwiegenden öffentlichen Interesse anzuordnen. Die Androhung des Zwangsgeldes stütze sich auf Art. 19 Abs. 1 Nr. 3, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Art. 31 und Art. 36 VwZVG. Der Bescheid, der mit einer Rechtsbehelfsbelehrung:versehen war, wurde dem Kläger am 9. April 2019 mittels Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Mit Schreiben vom 1. August 2019 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass das Zwangsgeld in Höhe von 3.000,00 EUR fällig geworden sei, da sowohl die "S.bar" als auch der "A. K. regelmäßig noch geöffnet seien und die Anordnung der Schließung missachtet werde.
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Mit Schreiben vom 21. August 2019 ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten bei der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragen unter Beifügung einer Eidesstattlichen Versicherung, wonach er das Anhörungsschreiben und dem Bescheid der Beklagten erst am Wochenende des 10./11. August 2019 geöffnet habe. Er habe gelegentlich Phasen, in denen er nicht in der Lage sei, amtliche Briefe zu öffnen. Auf die Schreiben wird verwiesen.
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2. Am 22. August 2019 ließ der Kläger Klage erheben mit dem Antrag,
den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2019 aufzuheben und ihm Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe - gerüchteweise - erfahren, dass in einer nicht-öffentlichen Sitzung des Stadtrates der Beklagten vom 1. August 2019? seine Gaststätte, neben zwei weiteren, geschlossen werden sollte. Ein Bescheid sei ihm nicht bekannt gewesen. Er habe deshalb seinen Rechtsanwalt gebeten, dagegen vorzugehen, dass Gegenstände einer nicht-öffentlichen Sitzung öffentlich diskutiert würden. Am 5. August 2018, am darauffolgenden Wochenende nach dem Telefonat mit dem Kläger, habe sich der Bevollmächtigte telefonisch an die Stadt K. gewandt. Dort sei mitgeteilt worden, dass ein rechtskräftiger Bescheid vorliege. Am 6. August 2019 habe der Bevollmächtigte Akteneinsicht genommen. Eine gefertigte Kopie des Bescheides sei beim Bevollmächtigten am 8. August eingegangen. Telefonisch sei bereits am 7. August 2019 mit dem Kläger Kontakt aufgenommen worden, der sich bis dahin mit seinem Sohn auf einem Kurzurlaub befunden habe und ihm sei mitgeteilt worden, dass ausweislich der Akte der Stadt K. tatsächlich ein Bescheid vom 4. April 2019 existiere und dieser auch per PZU zugestellt worden sei. Erst daraufhin habe der Kläger seine Unterlagen überprüft und habe tatsächlich diesen Bescheid gefunden. Der Kläger habe auf Nachfrage erklärt, dass er seit der Scheidung von seiner Ehefrau vor einigen Jahren unter der Angst leide, Briefe zu öffnen, insbesondere wenn diese unangenehmen Inhalt haben könnten. Dieses Verhalten sei dem Kläger nicht nur peinlich sondern auch unangenehm. Der Kläger leide unter einer "Postphobie". Es handele sich um ein Verhalten, in welchem Personen nicht in der Lage seien, den Briefkasten zu leeren oder Schriftstücke zu öffnen. Diese würden oftmals unter Stapeln von Werbung gesammelt, manchmal auch weggeworfen, ungeöffnet. Auch ein Gespräch des Bevollmächtigten mit dem Steuerberater des Klägers habe Anzeichen dieses Krankheitsbild ergeben. Der Steuerberater J., der für die steuerlichen Belange des Klägers zuständig sei, habe erklärt, dass er ein solches Verhalten bereits einmal bemerkt habe, allerdings sei dies in letzter Zeit nicht mehr der Fall gewesen. In steuerlicher Hinsicht verhalte sich der Kläger nicht nur kooperativ sondern gebe seine Unterlagen für die Anmeldung der Krankenversicherung und der Umsatzsteueranmeldungen rechtzeitig ab. Zwar sei früher einmal eine Verspätung eingetreten, dies sei jedoch dem Umstand geschuldet gewesen, dass der Steuerberater sich von seinem ehemaligen Partner getrennt habe und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die Unterlagen noch beim ehemaligen Steuerberater verblieben seien, bis die Anmeldungen/Erklärungen dann vom neuen (= alten) Steuerberater hätten durchgeführt werden können. Der Bevollmächtigte habe mit Schreiben vom 10. Mai 2019 auf diesen Umstand (Wechsel des Steuerberaters) das Finanzamt sogar hingewiesen und etwaige Verspätungen damit entschuldigt. Der Kläger sei somit aufgrund einer Erkrankung nicht in der Lage gewesen seine Post zu öffnen. Es sei deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, denn ohne diese wäre er in der Lage gewesen, rechtzeitig Rechtsmittel einzulegen, was er jetzt durch die Erhebung der Klage getan habe. Dem Kläger sei auch nicht etwa vorzuwerfen, dass ihm diese Erkrankung bekannt gewesen sei. Gerade sein Steuerberater habe gegenüber dem Bevollmächtigten erklärt, dass sein Mandant "normal" sei, die ursprüngliche (scheinbare) Nachlässigkeit im Hinblick auf Schriftstücke sei nicht mehr vorhanden. Auch er, der Steuerberater, sei überrascht über das Versäumen der Frist. Erschwerend komme im konkreten Fall hinzu, dass gegen den Kläger bereits ein Untersagungsverfahren anhängig gewesen sei, auf Antrag der AOK. Dieses Verfahren sei durch Einschaltung des Bevollmächtigten positiv zugunsten des Klägers beendet worden (was erst jetzt von der Beklagten mitgeteilt worden sei). Auch zum damaligen Zeitpunkt seien Steuerrückstände, die die Beklagte jetzt heranziehe, Gegenstand des Verfahrens gewesen. Allerdings habe die Beklagte bislang keine Mitteilung über die Einstellung des Verfahrens gemacht. Erst durch die Akteneinsicht habe der Kläger in Erfahrung bringen können, dass tatsächlich ein weiterer Antrag und zwar vom Finanzamt K. vorgelegen habe. Es handle sich um einen sogenannten "Druckantrag". Offensichtlich wegen der verzögerten Abgabe der Erklärungen im Frühjahr, verursacht durch einen Wechsel des Steuerberaters, habe das Finanzamt einen entsprechenden Antrag gestellt. Hierbei hätte es wissen müssen, dass eine Änderung bei der Steuerberatung eingetreten sei, spätestens dann, als der Bevollmächtigte in einem Schreiben ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht habe. Zwar habe der Kläger Steuerverbindlichkeiten. Diese rührten aber allesamt nicht aus der Tätigkeit als Gastwirt sondern aus seiner ursprünglichen Tätigkeit als Zimmermann. Er sei hier mit eigenem Betrieb tätig gewesen und habe durch seine Scheidung und durch mehrere Umzüge Verbindlichkeiten verursacht, die allesamt auf Schätzungen des Finanzamts beruhten. Mit der Gaststätte, die der Kläger betreibe, hätten diese Schulden aber nichts zu tun. Insoweit verschaffe sich der Kläger auch nicht einen Wettbewerbsvorteil, dass er Steuerverbindlichkeiten nicht bezahle, denn diese seien aus anderen Tätigkeiten und hätten ihre Ursache im ehemals ausgeübten Handwerk. Ebenso beruhe die Annahme, der Kläger sei wirtschaftlich nicht leistungsfähig, auf dem falschen Schluss, dass die Steuerverbindlichkeiten aus der Gaststätte herrührten. Der Kläger sei inzwischen 54 Jahre alt und seit durchaus in der Lage einem Betrieb zu führen. Er habe auch jahrelang sein Gewerbe als Zimmerermeister ausgeübt. Seine Erkrankung erscheine jedoch erheblich gravierender und sei nicht damit zu erklären, dass gelegentlich "Ausfälle" aufträten. Auf den Schriftsatz wird im Übrigen verwiesen.
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In einer beigefügten Eidesstattlichen Versicherung vom 21. August 2019 erklärte der Kläger, die Angaben seines Bevollmächtigten seien zutreffend. Er habe gelegentlich Phasen, in denen er nicht in der Lage sei, amtliche Briefe zu öffnen. Er führe dies auf seine Scheidung zurück, die strittig gewesen sei und die ihn nervlich sehr belastet habe. Die Anhörung der Stadt K. und den Bescheid habe er tatsächlich erst am Wochenende 10./11. August geöffnet. Zuvor habe er davon nur als Gerücht gehört. Sein Anwalt habe sich dann auf seine Bitte hin mit der Stadt K. in Verbindung gesetzt. Im Hinblick auf seine Angst vor dem Öffnen von Briefen werde er sich nun auf Anraten seines Anwalts in ärztliche Behandlung begeben. Allerdings sei ihm dies bislang nicht möglich gewesen, da er bereits mehrfach seinen Steuerberater beauftragt habe, ihn bei der Krankenkasse anzumelden, was aber aktuell immer noch nicht geschehen sei.
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Die Beklagte beantragte,
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Der Bescheid der Beklagten vom 4. April 2019 sei spätestens seit dem 10. Mai 2019 bestandskräftig. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand durch den Kläger könne nicht erfolgreich sein. Voraussetzung sei unter anderem, dass kein Verschulden des Klägers bei Versäumung der Frist vorliege. Verschuldet sei die Versäumung einer Frist dann, wenn der Beteiligte die Sorgfalt außer Acht gelassen habe, die für einen gewissenhaften und sachgemäß Prozessführenden geboten sei und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten sei. Auch ernsthafte Erkrankungen könnten eine Fristversäumung entschuldigen. Dies gelte allerdings nur dann, wenn diese so schwer sei, dass der von ihr betroffene Verfahrensbeteiligte nicht selbst habe handeln können und außerstande gewesen sei, einen Prozessbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen und im gebotenen Umfange zu informieren. Der Kläger trage vor, an einer "Postphobie" zu leiden und die eingehende Post zu sammeln, aber bewusst nicht zu öffnen, um nicht mit negativen Themen konfrontiert zu werden. Damit habe er es in Kauf genommen entsprechende Fristen und Nachrichten zu versäumen. Es sei seitens des Klägervertreters nicht vorgetragen und sei auch nicht ersichtlich, dass die dargestellte Erkrankung, wenn man diese als solche gelten lassen wolle, so schwer gewesen sei, dass der Kläger selbst nicht anders habe handeln können. Letzteres sei hier stark zu bezweifeln. In diesem Fall hätte der Kläger seinem Prozessbevollmächtigten oder eine andere Person mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragen können. Im Übrigen lasse bereits der Vortrag des Klägers zu der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an seiner Zuverlässigkeit als Gastwirt zweifeln, da ein Gastwirt in der Lage sein müsse, Schriftverkehr mit Behörden ordnungsgemäß zu führen oder sich mit diesen auseinanderzusetzen. Bezüglich der Frage der Zuverlässigkeit und der aufgelaufenen Rückstände an öffentlichen Abgaben und Steuern werde auf dem Bescheid und das Schreiben des Finanzamtes vom 18. Februar 2019 verwiesen. Hieraus lasse sich entnehmen, dass der Kläger über Jahre hinweg seinen Verpflichtungen zur Abgabe von Steuererklärungen nicht nachgekommen sei. Soweit vorgetragen werde, die Zahlungsrückstände stammten nicht aus dem Gaststättenbetrieb, sei dies weder entscheidungserheblich noch nachvollziehbar. Das Finanzamt weise im Schreiben selbst darauf hin, dass eine Aufteilung der Umsätze auf die Gewerbe "S.bar" und Zimmerei nicht möglich sei. Selbst wenn diese offenen Forderungen überwiegend aus dem Zimmereigewerbe stammen sollten, könnten diese berücksichtigt werden. Im Übrigen rechtfertige die Höhe der Rückstände die Annahme der Unzuverlässigkeit, da sie sowohl der Höhe nach als auch im Verhältnis zur Gesamtbelastung des Gewerbetreibenden von Gewicht seien. Auch sei in den Jahren 2017/2018 bereits ein Verwaltungsverfahren bezüglich des Widerrufs der Gaststättenerlaubnis geführt worden.
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Mit Beschluss vom 7. Oktober 2019 wurde der Rechtsstreit auf die Einzelrichterin über zur Entscheidung übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar 2019 war der Kläger mit seinem Bevollmächtigten erschienen. Die Beteiligten stellten die bereits schriftsätzlich formulierten Klageanträge. Auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Die erhobene Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2019 ist bereits unzulässig, da der Kläger die Klagefrist gemäß § 74 VwGO versäumt hat (hierzu unter Nr. 1). Gründe, die eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gemäß § 60 VwGO rechtfertigen könnten, lagen nicht vor und sind insbesondere nicht in der geltend gemachten "Postphobie" zu sehen. Auch wurden die Gründe nicht fristgemäß geltend gemacht (hierzu unter Nr. 2). Im Einzelnen:
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1. Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage - wenn ein Widerspruchsbescheid nicht erforderlich ist - innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe eines Verwaltungsakts erhoben werden. Die Frist beginnt nach § 58 Abs. 1 VwGO jedoch nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist, ansonsten die Einlegung des Rechtsbehelfs noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung möglich ist (§ 58 Abs. 2 VwGO).
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Im vorliegenden Fall war der Bescheid der Beklagten vom 4. April 2019, mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:versehen und wurde dem Kläger ausweislich der in der Behördenakte befindlichen Postzustellungsurkunde am 9. April 2019 durch Einlegung in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten zugestellt. Dies wird vom Kläger auch nicht bestritten. Die Frist für die Klageerhebung begann somit am 10. April 2019 und endete am 9. Mai 2019 (§ 57 VwGO i.V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1, Abs. 12 Alt. 1 BGB). Die Klageerhebung erfolgte jedoch erst am 22. August 2019. Die Klagefrist war somit versäumt.
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2. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 63 Abs. 2 VwGO). Über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat.
22
Eine schuldhafte Fristversäumung liegt vor, wenn der Betroffene hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dies gilt auch hinsichtlich der Kenntnis vom Wegfall des Hindernisses und der Erkenntnis, dass die Frist versäumt wurde sowie hinsichtlich möglicher, angesichts der kompletten Umstände des Falles zu erwartender zumutbarer Bemühungen, die bestehenden Hindernisse zu überwinden und zu beseitigen. Auch Fahrlässigkeit kann die Wiedereinsetzung ausschließen. Es kommt darauf an, ob dem Betroffenen nach dem gesamten Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat bzw. nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, damit das Hindernis baldmöglichst wegfällt. Wesentlich sind immer die konkreten Umstände des Einzelfalls (Kopp/Schenke, VwGO, 25. A. 2019, § 60, Rn. 9).
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2.2 Der Kläger hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 31. August 2019 ausgeführt, dass er gelegentlich Phasen habe, in denen er nicht in der Lage sei, amtliche Briefe zu öffnen. Er führe dies auf seine Scheidung zurück, die finanziell und nervlich sehr belastend gewesen sei. Entsprechendes wurde im Schriftsatz des Bevollmächtigten ausgeführt. In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar 2019 hat der Kläger auf Fragen des Gerichts ergänzend ausgeführt:
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Seine Scheidung sei im Jahr 2007 erfolgt. Seine drei Kinder hätten dann bei seiner Frau gelebt. Er habe jedoch regelmäßigen Kontakt mit ihnen gehabt. Die Kinder seien zwischenzeitlich erwachsen. Er habe dann eine Lebensgefährtin gehabt mit vier problematischen Kindern. Von dieser habe er sich 2011/2012 getrennt. Es sei ihm damals alles über den Kopf gewachsen und es sei ihm die Kraft ausgegangen. Den Zimmereibetrieb habe er von 1993 bis 2015 betrieben. 2015 habe er seinen Bevollmächtigten wegen seiner Schulden konsultiert. Anfang letzten Jahres habe er nunmehr jemanden kennen gelernt. Diese Person motiviere ihn, sich durch seine Angelegenheiten durchzukämpfen.
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Weiterhin erklärte der Kläger auf Fragen des Gerichts: Nachdem er auf dem Marktplatz in K. gerüchteweise erfahren habe, dass seine Gaststätte geschlossen werden solle, habe er sich an seinen Bevollmächtigten gewandt. Er sei dann mit seinem Sohn für vier Tage in den Bayerischen Wald in Urlaub gefahren. Nach Rückkehr habe er mit seinem Bevollmächtigten telefoniert und dieser habe ihm gesagt, dass der Bescheid existent sei. Daraufhin habe er dann begonnen mit Hilfe seiner Lebensgefährtin die Post zu öffnen und habe den streitgegenständlichen Bescheid gefunden. Er habe sich dann mit seinem Bevollmächtigten beraten, was zu tun sei.
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Auf Frage des Gerichts, was der Kläger damit meine, dass er gelegentlich Phasen habe, in der er Post nicht öffnen könne, erklärt der Kläger: Dies sei dann der Fall, wenn er in schlechter Erwartung sei. Er neige dann dazu das Ganze beiseite zu legen. Seit der Trennung, auch der zweiten Trennung von der Lebensgefährtin, habe er gewusst, dass er da Probleme habe. Richtig schlimm sei es dann in den Jahren 2018 und 2019 geworden. Er habe sich noch um das "Überlebensnotwendige", wie z.B. die Kfz-Versicherung, gekümmert; alles andere habe er schleifen lassen. Er sei seit 1993 selbständig gewesen. Er sehe es so, dass er eine Phase großer Überlastung gehabt habe, insbesondere die Zeit mit den "Stiefkindern". Im Jahr 2012 sei er mit der Zimmerei auf 20.000,00 EUR sitzengeblieben. Im Jahr 2015 sei der letzte Auszubildende fertig geworden. Er habe dann die Zimmerei aufgegeben, weil es neben dem Betrieb der Gaststätte zu viel geworden sei.
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Auf Frage, was der Kläger gegen die Postphobie unternommen habe, erklärt er: Bei einem Arzt sei er nicht gewesen, weil er davon ausgegangen sei, dass er dies alles selbst bezahlen müsse. Zum damaligen Zeitpunkt habe er keine Krankenversicherung gehabt. Mittlerweile habe er eine Krankenversicherung. Er befinde sich auch heute nicht in ärztlicher Behandlung. Es gehe ihm gut. Er habe eine neue Beziehung. Er könne seine Post öffnen.
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2.3 Bei Würdigung des klägerischen Vorbringens kann eine unverschuldete Fristversäumung nicht festgestellt werden. Eine Krankheit ist nur dann ein entschuldbares Hindernis, wenn es sich um eine schwere und plötzliche Erkrankung handelt, infolgedessen der Erkrankte die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten damit beauftragen kann (Kopp/Schenke, a.a.O., § 60 Rn. 13 unter Hinweis auf weitere Rechtsprechung; FG Rheinland-Pfalz, U.v. 23.4.2008 - 1 K 2525/07 - juris, betreffend eine Phobie gegen amtliche Schreiben). Nichts anderes kann bezüglich einer Überlastungssituation gelten.
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Aus dem oben dargestellten Vorbringen des Klägers wird deutlich, dass er bereits seit längerer Zeit - beginnend nach seiner Scheidung im Jahr 2007 und sich in den Folgejahren verstärkend - Probleme hatte, Post, bei der er in "schlechter Erwartung" gewesen ist, zu öffnen. Stattdessen legt er diese beiseite und beachtete sie nicht weiter ("Er neige dazu das Ganze beiseite zu legen."). Diese problematische Verhaltensweise war ihm auch bewusst ("Seit der Trennung, auch der zweiten Trennung von der Lebensgefährtin habe er gewusst, dass er da Probleme habe. Richtig schlimm sei es in den Jahren 2018 und 2019 geworden"). Ob dieser Verhaltensweise Krankheitswert zugesprochen werden kann, kann dahinstehen. Aktuell sieht der Kläger für sich keinen ärztlichen Behandlungsbedarf ("Er habe eine neue Beziehung. Er könne die Post öffnen."). Auch für die Vergangenheit, insbesondere für die Jahre 2018 und 2019, kann letztlich dahinstehen und bedarf keiner gutachterlichen Aufklärung, ob der Postphobie des Klägers Krankheitswert zugemessen werden kann, denn der Kläger war sich seiner problematischen Verhaltensweise bewusst und es kann auch nicht festgestellt werden, dass er handlungsunfähig gewesen wäre. Insofern handelte es sich weder um eine plötzliche und unvorhergesehene Erkrankung bzw. Überlastungssituation und der eigene Sachvortrag des Klägers zeigt, dass er - trotz der Postphobie - durchaus noch in der Lage war, angemessen auf für ihn schwierige Situationen zu reagieren. So hat er sich nach seinem Vortrag etwa anlässlich der früheren Anregung einer Gewerbeuntersagung im Jahr 2017 durch die AOK Bayern an seinen Bevollmächtigten gewandt, der diese Angelegenheit für ihn geregelt hat. Auch hat er sich, als er im August 2019 gerüchteweise von der Schließung seiner Gaststätte erfahren hat, sich umgehend an seinen Bevollmächtigten gewandt, der dieser Sache nachgehen sollte. Auch hat er, nachdem er von der Existenz des streitgegenständlichen Bescheides erfahren hat, mit Unterstützung seiner derzeitigen Lebensgefährtin am 10./11. 2019 seine Post geöffnet. Letztlich ursächlich für die Fristversäumnis war somit zur Überzeugung des Gerichts nicht eine eventuelle Erkrankung (Phobie), sondern der Umgang des Klägers mit dieser Problematik, nämlich "alles schleifen zu lassen" und sich nicht rechtzeitig Hilfe zu holen. Es wäre dem Kläger möglich gewesen, sich zumindest private Unterstützung zu holen. Dies wäre ihm auch zumutbar gewesen. Der Kläger hat drei erwachsene Kinder, zu denen er auch Kontakt hat, und es ist nicht ersichtlich, dass nicht auch sonstige Unterstützung (durch Freunde, Bekannte, Mitarbeiter, Bevollmächtigte, Betreuer) möglich gewesen wäre. Da sich der Kläger somit, obwohl er sich seiner Problematik bewusst und handlungsfähig war, weder in eine professionelle Behandlung begeben noch sonstige soziale Unterstützung organisiert hat, war er nicht ohne Verschulden gehindert gewesen, die Post der Beklagten zu öffnen und damit rechtzeitig Klage zu erheben. Der Wiedereinsetzungsantrag konnte deshalb keinen Erfolg haben.
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Hinzu kommt, dass auch der Wiedereinsetzungsantrag auch verspätet erhoben wurde. Spätestens am 7. August 2019 hatte der Kläger anlässlich des Telefonats mit seinem Bevollmächtigten, der zuvor Akteneinsicht bei der Beklagten genommen hatte, positive Kenntnis von der Existenz des Bescheides und dessen Zustellung mit Postzustellungsurkunde. Ab diesem Zeitpunkt ist vom Wegfall des Hindernisses gemäß § 60 Abs. 2 VwGO auszugehen, sodass die 2-wöchige Frist zur Erhebung der Klage am (Mittwoch) 8. August 2019 begann und am (Mittwoch) 21. August 2019 endete (§ 57 VwGO i.V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1, Abs. 12 Alt. 1 BGB). Die Klageerhebung erfolgte jedoch erst am 22. August 2019. Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist wurden nicht vorgetragen.
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Die Klage konnte daher insgesamt keinen Erfolg haben und war bereits mangels Zulässigkeit abzuweisen. Auf die Begründetheit der Klage war daher nicht mehr einzugehen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.