Titel:
Erwerbsminderung, Relevanz psychischer Erkrankungen
Normenkette:
SGB VI § 43
Leitsatz:
Zur Relevanz psychischer Erkrankungen im Verfahren auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung; fehlende adäquate Behandlung (im Anschluss an BayLSG vom 08.05.2019 - L 19 R 376/17).
Schlagworte:
Erwerbsminderung, Relevanz psychischer Erkrankungen
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 02.03.2021 – L 13 R 299/20
BSG Kassel, Beschluss vom 28.06.2021 – B 13 R 64/21 B
Fundstelle:
BeckRS 2020, 49361
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 30.01.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2019 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
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Der am 1961 geborene Kläger stellte am 02.03.2018 einen weiteren Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Der Kläger ist am 01.01.1994 in die gesetzliche Rentenversicherung eingetreten und bezieht seit 25.05.2015 Arbeitslosengeld II. Der Kläger hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt als Hilfsmaler tätig. Die Beklagte ließ den Kläger am 21.12.2018 durch die Fachärztin für Neurologie D untersuchen. Die Sachverständige führte aus, aufgrund der neurologischen Begutachtung seien dem Kläger körperlich mittelschwere Tätigkeiten bei einer wechselnden Arbeitshaltung sechs Stunden und mehr zumutbar. Auch die letzte berufliche Tätigkeit als Malerhelfer sei sechsstündig ausübbar.
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Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 30.01.2019 den Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ab. Der Kläger legte hiergegen am 11.02.2019 Widerspruch ein und fügte verschiedene Arztbriefe bei. Die Beklagte holte einen Befundbericht des Orthopäden K1 ein, der eine Bewegungseinschränkung der rechten Schulter beschreibt. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.07.2019 zurück und führte aus, der Kläger könne sechsstündig leichte Arbeiten verrichten, ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und ohne Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an die Gang- und Standsicherheit, ohne Zwangshaltungen der rechten Schulter und der Lendenwirbelsäule sowie ohne Arbeiten unter besonderem Zeitdruck.
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Der Kläger hat hiergegen am 31.07.2019 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Das Gericht hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der Fachärztin für Neurologie G, die mitteilt, der Kläger sei am 12.11.2007 einmalig in der Praxis des bereits verstorbenen Praxisvorgängers gewesen. Des Weiteren wurde ein Befundbericht des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie M eingeholt, der mitteilt, der Kläger sei in seiner ambulanten allgemein-psychotherapeutischen Behandlung. Es bestünden seit mehreren Monaten eine depressive Symptomatik mittelgradig, Somatisierungstendenzen, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Der Befund habe sich seit Jahren nicht verändert. Im Anschluss daran hat das Gericht den Kläger durch den Orthopäden K2 am 19.11.2019 untersuchen lassen. Der Sachverständige führt aus, beim Kläger lägen ein HWS-Verschleiß, ein BWS-/LWS-Verschleiß, eine Funktionseinschränkung der rechten Schulter nach Oberarmkopfersatz, ein Schultereckgelenksverschleiß beidseits, ein Hüftgelenksverschleiß beidseits sowie beidseits Hohl-Spreiz-Füße vor. Wegen eines Arbeitsunfalls sei ein künstliches Schultergelenk rechts implantiert worden. Wegen des Arbeitsunfalls wird eine Unfallrente bezogen. Aufgrund der orthopädischen Einschränkungen könne der Kläger noch leichte Tätigkeiten aus überwiegend sitzender Ausgangslage heraus bei ergonomischer Arbeitsplatzgestaltung sechsstündig und mehr verrichten. Zusätzliche Pausen seien nicht notwendig. Aufgrund der Gesundheitsstörungen an beiden Schultergelenken seien Überkopfarbeiten nicht mehr möglich. Ebenso könnten keine Arbeiten, die mit Besteigen von Leitern oder Gerüsten verbunden seien, durchgeführt werden. Der Kläger könne übliche Wegstrecken zurücklegen. Wegen der depressiven Gemütsstörung sei eine neurologisch/psychiatrische Begutachtung ratsam.
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Das Gericht hat den Kläger anschließend durch den Neurologen und Psychiater B am 29.01.2020 untersuchen lassen. Der Sachverständige führt aus, beim Kläger bestünde eine dysthyme Störung wechselnder Ausprägung, eine Polyneuropathie, ein chronisches Schmerzsyndrom sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Der Kläger könne leichte Arbeiten noch vollschichtig verrichten. Die Therapie der Affektstörung des Klägers sei deutlich optimierbar; die Affektstörung würde fortbestehen, falls die Therapie nicht intensiviert würde. Die Leistungsmotivation des Klägers sei gering. Der Kläger habe nach dem Arbeitsunfall keine Anstrengungen unternommen, noch einmal ins Berufsleben zurück zu kehren. Weitere ärztliche Untersuchungen seien nicht erforderlich.
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Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom unter Fristsetzung von der Absicht in Kenntnis gesetzt, den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG zu entscheiden.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.01.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2019 zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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Beigezogen waren die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die erledigte Klageakte S 14 R 409/16.
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Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den wesentlichen Inhalt der beigezogenen Akten und der Klageakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Sozialgericht München ist sachlich und örtlich zuständig. Die form- (§ 90 SGG) und fristgerecht (§ 87 SGG) erhobene Klage ist zulässig.
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Der vorliegende Rechtsstreit kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt hinreichend geklärt ist (§ 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
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Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
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Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
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Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr verrichten kann. Der Gutachter K2, der den Kläger am 19.11.2019 orthopädisch untersucht hat, stellt einen HWS-/LWS-/BWS-Verschleiß, eine Funktionseinschränkung der rechten Schulter, einen Eckgelenksverschleiß beidseits, einen Hüftgelenksverschleiß beidseits sowie einen Hohl-Spreizfuß beidseits fest. Dies wird auch im Befundbericht des behandelnden Orthopäden K1 beschrieben. Aufgrund des Verschleißes der Wirbelsäule ist die Belastbarkeit des Achsorgans deutlich eingeschränkt. Aufgrund der Humeruskopfprothese ist die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes deutlich eingeschränkt, eine Restbelastbarkeit ist erhalten. Wegen des beidseitigen Hüftgelenkverschleißes ist die Geh- und Stehfähigkeit des Klägers eingeschränkt. Aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen kann der Kläger nur noch leichte Tätigkeiten durchführen. Eine ausschließlich gehende oder stehende Beschäftigung ist nicht mehr möglich. Arbeiten aus überwiegend sitzender Ausgangslage sind bei ergonomischer Arbeitsplatzgestaltung zumutbar. Wegen der Gesundheitsstörung an der Hüfte ist das Besteigen von Leitern und Gerüsten nicht mehr möglich, ebenso - wegen der Gesundheitsstörungen an der HWS sowie der Schultergelenke - Überkopfarbeiten. Die Wegefähigkeit ist nicht eingeschränkt. Bereits im vorherigen Klageverfahren S 14 R 409/16 war orthopädischerseits festgestellt worden, dass lediglich leichte Arbeiten ohne Überkopfarbeiten, ohne Arbeiten in Zwangshaltung und ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten möglich sind. Eine Befundänderung wird auch vom behandelnden Orthopäden K1 in seinem Befundbericht vom Juli 2019 nicht beschrieben.
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Auch unter Berücksichtigung der neurologisch/psychiatrischen Gesundheitseinschränkungen ist der Kläger noch in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes durchzuführen. Der Sachverständige B, der den Kläger am 29.01.2020 untersucht hat, stellt einen dysthyme Störung wechselnder Ausprägung, eine Polyneuropathie bei bekanntem Diabetes Mellitus, ein chronifiziertes Schmerzsyndrom mit körperlichen und psychischen Faktoren bei Zustand nach Humeruskopffraktur und Humeruskopfersatz-Operation 11/2012 rechts sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung fest. Weitere Gesundheitsstörungen werden auch vom behandelnden Psychiater M nicht beschrieben. Aufgrund der Gesundheitsstörungen sind dem Kläger unter Einbeziehung der orthopädischen Gesundheitsstörungen leichte Tätigkeiten in sitzender Position sechsstündig und mehr mit den im orthopädischen Fachgutachten genannten Einschränkungen möglich. Nach Angaben des Klägers stellt er sich in etwa zweimonatigen Abständen bei seinem Psychiater M vor. Eine medikamentöse Behandlung der depressiven Symptomatik oder der Schlafstörungen wurde nicht verordnet. Die gesundheitlichen Einschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet sind einer Besserung zugänglich.
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Nach der gefestigten Rechtsprechung des BayLSG können psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen ist, dass der Versicherte die psychischen Erkrankungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann (BayLSG vom 08.05.2019 - L 19 R 376/17, vom 27.07.2016 - L 19 R 395/14, vom 24.02.2016 - L 19 R 1220/13; vom 23.01.2013 - L 19 R 855/11).
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Wie der Sachverständige B ausführt, befand sich der Kläger noch nie in psychotherapeutischer oder einer stationären psychiatrischen oder psychosomatischen Behandlung. Die Leistungsmotivation des Klägers ist gering. Die Therapie bzgl. der Affektstörung des Klägers ist deutlich optimierbar. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, den Gesundheitszustand gerade auf psychiatrischem Fachgebiet, zu verbessern.
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Unter Berücksichtigung der auf orthopädischem und psychiatrischem Fachgebiet bestehenden Gesundheitsstörungen sowie unter Einbeziehung der vorgelegten Arztbriefe kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch sechsstündig verrichten kann. Dabei sind Überkopftätigkeiten sowie Tätigkeiten in Zwangshaltungen und Tätigkeiten, die mit Besteigen von Leitern und Gerüsten verbunden sind, nicht möglich. Die Wegefähigkeit ist erhalten. Der Kläger kann übliche Wegstrecken zurücklegen.
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Das Gericht schließt sich den in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Darlegungen der Sachverständigen K2 und B an. Das Gericht hat keine Bedenken, die dort getroffenen Feststellungen und Einschätzungen seiner Einschätzung zugrunde zu legen.
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Da der Kläger noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit den oben genannten Einschränkungen sechsstündig und mehr verrichten kann, besteht kein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.
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Da der Kläger nach dem 01.01.1961 geboren ist und zudem keinen Beruf erlernt hat, war die Gewährung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht zu prüfen.
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Die Klage war daher abzuweisen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.