Inhalt

LG München II, Beschluss v. 27.03.2020 – 1 J KLs 28 Js 12509/19 jug
Titel:

Schutzmaßnahmen gegen das Corona-Virus im Rahmen der Sitzungspolizei gem. § 176 GVG

Normenkette:
StPO § 305 S. 1
Leitsätze:
1. Zur sog. Sitzungspolizei gem. § 176 GVG gehören auch Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter vor einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus CoV-2. Der Zugang der Öffentlichkeit muss hier gerade zum Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten entsprechend gesundheitspolizeilichen Erfordernissen ausgestaltet werden. (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Derartige Schutzmaßnahmen des Vorsitzenden (sog. Sicherungsverfügung) stellen Entscheidungen dar, die der Urteilsfällung vorausgehen. Sie können daher nur mit dem Urteil zusammen angefochten werden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sicherungsverfügung, Sitzungspolizei, CoV-2, Corona, Abstand
Vorinstanzen:
LG München II, Verfügung vom 25.03.2020 – 1 J KLs 28 Js 12509/19 jug
LG München II, Verfügung vom 26.03.2020 – 1 J KLs 28 Js 12509/19 jug
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 30.03.2020 – 2 Ws 387/20, 2 Ws 388/20
BVerfG Karlsruhe vom 01.04.2020 – 2 BvR 571/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 4900

Tenor

der Beschwerde des Angeklagten … vom 26.03.2020 gegen die Sicherungsverfügung der Vorsitzenden der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II vom 25.03.2020
und
der Beschwerde des Angeklagten … vom 26.03.2020 gegen die Verfügung der Vorsitzenden der 1. Jugendkammer des Landgerichts München II vom 26.03.2020
wird nicht abgeholfen.
Die Sache wird dem Oberlandesgericht München zur Entscheidung vorgelegt.

Gründe

1
Es handelt sich bei dem vorliegenden Verfahren um eine Haftsache, in der bereits 24 Hauptverhandlungstage stattgefunden haben. Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit 27.03.2019 in Untersuchungshaft.
I.
2
1. Am 25.03.2020 erließ die stellvertretende Vorsitzende der 1. Jugendkammer eine Sicherungsverfügung, um die Durchführung des am 30.03.2020 anberaumten Hauptverhandlungstermins mit den durch die Corona-Epidemie erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zum Gesundheitsschutz aller Beteiligten zu sichern (Bl. 1139).
3
Gegen diese Sicherungsverfügung wendet sich der Angeklagte mit Beschwerde seines Verteidigers, RA Dr. A., vom 26.03.2020 (Bl. 1155). In der Beschwerde zitiert Rechtsanwalt Dr. A. zunächst vollständig aus seinem Schriftsatz vom „25.03.2020“, (gemeint wohl vom 24.03.2020, zu dessen Inhalt s.unten 2).
4
Er führt darüber hinaus aus, dass die angeordneten Sicherungsmaßnahmen nicht ausreichend seinen, erforderlich sei zum Schutz der Gesundheit ein absolutes Kontaktverbot (s. S. 22 der Beschwerde, = Bl. 1176 d.A.). Es seien die folgenden grundgesetzlich geschützten Rechte verletzt:
1.
das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (der Mandant könne nicht frei entscheiden, ob er sich der Gefährdung einer Coronaansteckung aussetzen wolle und die Sicherungsmaßnahmen seien nicht ausreichend, da keine Atemschutzmasken vorgeschrieben würden),
2.
das Recht auf ein faires Verfahren (da der Verteidiger sich mit dem Mandanten wegen des Sicherheitsabstandes nicht ausreichend beraten könnte) und
3.
der Öffentlichkeitsgrundsatz (wegen der allgemeinen Ausgangsbeschränkungen; sodass Zuschauer nicht an der Verhandlung teilnehmen könnten).
5
Eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht sei nicht gegeben.
6
2. Bereits mit Schreiben vom 24.03.2020 (Bl. 1120) hatte Rechtsanwalt Dr. A. namens und im Auftrag seines Mandanten beantragt, wegen der mit der Corona-Epidemie verbundenen Gesundheitsgefahren das Verfahren auszusetzen oder zumindest den Termin vom 30.03.2020 aufzuheben. Ferner begehrte er Auskunft und detaillierte Zusicherungen hinsichtlich der Frage, ob bzw. wie viele Corona-Infizierungen/Verdachtsfälle es im Strafjustizzentrum gebe. Er wies darauf hin, dass die Öffentlichkeit der Verhandlung nicht gewährt sei.
7
Mit Verfügung vom 26.03.2020 verfügte die stellvertretende Vorsitzende ein Antwortschreiben an Rechtsanwalt Dr. A. mit dem Inhalt, dass der Termin am 30.03.2020 nach derzeitigem Stand stattfinden werde. In dem Schreiben wurde unter Verweis auf die am 25.03.2020 ergangene Sicherungsverfügung erläutert, welche Sicherungsmaßnahmen zur Gesundheitsvorsorge der Verfahrensbeteiligten ergriffen wurden sowie darauf hingewiesen, dass vor allem die lang andauernden Haftsachen aufgrund des Beschleunigungsgrundsatzes nach Möglichkeit weiter verhandelt werden sollen (Bl. 1148).
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Gegen diese Verfügung vom 26.03.2020 wendet sich Rechtsanwalt Dr. A. ebenfalls namens und im Auftrag seines Mandanten mit Schriftsatz vom 26.03.2020 (Bl. 1188) wobei er sich zur Begründung auf die Ausführungen in der Beschwerde vom selben Tage gegen die Sicherungsverfügung (s.o.1.) bezieht.
II.
9
Den Beschwerden war nicht abzuhelfen.
10
Die Beschwerden sind unzulässig, § 305 S. 1 StPO. Sowohl die Sicherungsverfügung vom 25.03.2020 als auch die Mitteilung der stellvertretenden Vorsitzenden mit Schreiben vom 26.03.2020, dass der Termin stattfinden wird (und dass das Verfahren nicht auszusetzen ist, was der stellvertretenden Vorsitzenden allein außerhalb der Hauptverhandlung im Übrigen nicht möglich gewesen wäre), stellen Entscheidungen dar, die der Urteilsfällung vorausgehen. Sie können daher nur mit dem Urteil zusammen angefochten werden (vgl. OLG München, Beschluss vom 20.03.2020, 2 Ws 364/20 H).
11
Ergänzend sei zum Hintergrund der Sicherungsverfügung und den darin angeordneten Maßnahmen folgendes ausgeführt:
12
§ 176 GVG legt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung (sog. Sitzungspolizei) in die Hände des/der Vorsitzenden. Die Norm dient dem Schutz einer geordneten Rechtspflege, der ungehinderten Rechts- und Wahrheitsfindung sowie der Wahrung der Rechte der Verfahrensbeteiligten oder betroffener Dritter. Die dem/der Vorsitzenden übertragene Aufgabe, die Ordnung im Sitzungssaal aufrechtzuerhalten, umfasst die Verpflichtung, einen Zustand zu wahren oder herzustellen, der dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten eine störungsfreie Ausübung ihrer Funktionen ermöglicht, die Aufmerksamkeit der übrigen Anwesenden in der öffentlichen Verhandlung nicht beeinträchtigt und allgemein deren ungestörten Ablauf sichert. Dazu gehört auch der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verhandlungsbeteiligten, insbesondere der Angeklagten, Geschädigten und sonstigen Zeugen (Wickern in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 176, Rn. 10).
13
Zur äußeren Ordnung gehört dabei auch der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter vor einer Infektion mit dem nunmehr im Umlauf befindlichen neuartigen Coronavirus CoV-2. Der Zugang der Öffentlichkeit muss hier gerade zum Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten entsprechend gesundheitspolizeilichen Erfordernissen ausgestaltet werden (vgl. BGH St 21, S. 72 ff, 73). Auf die Forderung des Robert-Koch-Instituts, einen Abstand von 1-2 Meter einzuhalten, sowie auf die Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege und des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 16. März 2020, die für Gastronomiebetriebe einen Abstand von 1,50 Meter fordert, wird ergänzend hingewiesen.
14
Vorliegend hat die stellvertretende Vorsitzende in der Sicherungsverfügung daher vorsorglich den höchsten empfohlenen Abstand von 2 Metern angeordnet. Bei Einhaltung dieses Abstandes ist das Tragen von Atemschutzmasken nicht erforderlich.
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Die getroffenen Anordnungen dienen damit zugleich auch der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung (§ 176 GVG) und sollen mithin zugleich einen störungsfreien Ablauf des Verfahrens gewährleisten.