Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 17.11.2020 – AN 6 K 19.30320
Titel:

Rechtsmissbräuchlciher Asylantrag für Krankheitsbehandlung

Normenketten:
AufenthG § 11, Abs. 1, § 60 Abs. 7 S. 1, S. 6
AsylG § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Ist ein Asylantrag rechtsmissbräuchlich gestellt worden, nur um eine aufwändige Krankheitsbehandlung im Bundesgebiet zu erlangen, ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von einem atypischen Fall auszugehen, so dass dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich ein von diesem auszuübendes Ermessen zukommt, ob es das Abschiebungsverbot feststellt oder versagt. (Rn. 55)
2. Daran hält die Kammer auch in Ansehung der Beschlüsse des BayVGH vom 18. Mai 2020 (2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) fest.  (Rn. 58)
Schlagworte:
Aufhebung der Versagung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelfall (Armenien, aktuell verschlechterte Lage, Autoimmunthrombozytopenie);, bloße Verpflichtung zur Neuverbescheidung unter Beachtung dieser Rechtsauffassung des Gerichts, da hier Ermessenseröffnung im atypischen Fall;, zielgerichteter Missbrauch des Asylverfahrens zur Erlangung eines Aufenthalts zu aufwändiger Krankheitsbehandlung in den hiesigen Gesundheits-/Sozialsystemen;, Folge-Aufhebung der Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung und der Entscheidung zu § 11 Abs. 1 AufenthG, rechtsmissbräuchlicher Asylantrag, Krankheitsbehandlung, atypischer Fall, Ermessen, Abschiebungsverbot, medizinische Gründe
Fundstelle:
BeckRS 2020, 47814

Tenor

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 8. Februar 2017 verpflichtet, bei dem Kläger über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Bei dem Kläger handelt es sich nach seinen Angaben um einen 1987 geborenen armenischen Staats- und Volkszugehörigen. Er reiste nach seinen Angaben mit seiner Ehefrau und seiner 2016 geborenen Tochter am 7. Oktober 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 14. Oktober 2016 bei der Außenstelle Zirndorf des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zusammen mit Ehefrau und Tochter niederschriftlich Asylantrag.
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Bei seiner Anhörung am 10. Januar 2017 machte der Kläger laut Niederschrift im Wesentlichen folgende Angaben:
3
Er habe sich bis zu seiner Ausreise im Heimatland in der Stadt … aufgehalten, die Stadt sei ca. 40 km von … entfernt. Die Reise nach Deutschland habe für die Familie 4.000,00 EUR gekostet, sie hätten den Goldschmuck seiner Mutter und seiner Schwiegermutter dafür verkauft. Seine Eltern lebten in Armenien unter seiner dortigen Anschrift; außerdem habe er noch eine Schwester sowie eine Tante in … Er habe als angestellter Frisör gearbeitet und monatlich zwischen 40.000 und 50.000 Dram verdient.
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(Auf Befragen zu seinem Verfolgungsschicksal und den Gründen für seinen Asylantrag:) Das hänge mit seiner Krankheit zusammen, die Diagnose laute thrombotisch-thrombozytopenische Purpura; er leide seit 2000 darunter. Als er das erste Mal stationär behandelt worden sei, habe er blaue Flecken und einen rötlichen Ausschlag gehabt sowie auch innere Blutungen. Er habe keine besonderen Schmerzen gehabt, aber er habe diese Blutungen recht lange gehabt, das habe sich als Dickdarmblutungen geäußert. Er sei im wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Hämatologie und Bluttransfusion behandelt worden, er habe Tabletten bekommen, Prednisolon. Es sei nicht besser geworden. Das seien hormonelle Präparate gewesen, sein ganzer Körper sei angeschwollen. Eine andere Therapie hätte er nicht machen können; ihm sei eine Operation vorgeschlagen worden, aber das sei ihm zu gefährlich gewesen. Er hoffe, dass man ihm in Deutschland heilen könne. Er bekomme hier Infusionen mit Hormonen. Ihm sei gesagt worden, dass er hier mindestens ein Jahr so behandelt würde. Wenn es keinen Fortschritt gäbe, würde man ihn operieren. Eine Krankenversicherung in Armenien habe er nicht gehabt. Er habe Geld für die Medikamente bezahlen müssen; sie hätten auch einiges aus dem Haushalt verkaufen müssen, um die Behandlungen zu finanzieren. Die Frage, wieviel seine Behandlung in Armenien gekostet habe, könne er nicht beantworten; es sei nicht nur Geld für Medikamente gewesen, sondern auch für das Zimmer, den untersuchenden Arzt und die Krankenschwestern. Die Tabletten hätten seine Familienangehörigen für ihn besorgt. Er sei krank im Bett gelegen, daher wisse er nicht, was das gekostet habe. Er habe durch die Krankheit Einschränkungen im Alltag gehabt, er habe z.B. nichts Schweres heben dürfen oder sich lange in der Sonne aufhalten dürfen. Operiert worden sei er nicht. Wenn er jetzt in Armenien wäre, würde die Therapie genauso weitergehen wie vorher. Er müsste von Zeit zu Zeit verschiedene Befunde machen, die zeigten, dass sein Zustand unverändert sei. Es sei in Armenien überprüft worden, ob seine Krankheit schlimmer werde oder gleich bleibe. Die Anzahl der Thrombozyten sei nicht höher geworden, ihm sei aber auch keine richtige Therapie angeboten worden. In den Beratungen mit Ärzten hätten die gesagt, das sei sein Schicksal, er müsste so weiterleben. Er habe von vielen Menschen gehört, dass die Medizin in Deutschland sehr gut sei, daher habe er beschlossen, hierher zu kommen. Wenn er nach Armenien zurückkehren würde, würde es wahrscheinlich keinen Fortschritt geben, weil die ihm nichts anböten. Wenn er hier geheilt würde und nach Armenien zurückkehren würde, dann könnte im Übrigen auch die Wehrdienstfrage aktuell werden. Er sei aufgrund seiner Krankheit zurückgestellt worden. Wenn er geheilt wäre, müsste er wahrscheinlich zum Wehrdienst, was ein Problem wäre. Aufgrund seiner Krankheit dürfe er nicht geschlagen werden, selbst ein einziger Schlag könne dazu führen, dass sich sein Gesundheitszustand rapide verschlechtert. Wenn er zu hundert Prozent gesund wäre, wäre das auch kein Problem, den Wehrdienst zu leisten.
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(Auf Befragen zu schutzwürdigen Belangen bezüglich eines etwaigen Einreise- und Aufenthaltsverbots:) Er sei mit seiner Frau und seinem Kind hier, sonst habe er keine Familienangehörigen.
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Die Ehefrau des Klägers führte bei ihrer Anhörung am 10. Januar 2017 im Wesentlichen laut Niederschrift aus:
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Ihre Eltern lebten im Landkreis … Sie habe außerdem einen Bruder, der lebe aber in Russland. In Armenien habe sie keine Verwandte mehr. Sie sei Lehrerin mit Bachelorabschluss. Sie habe offiziell nicht gearbeitet, aber ein paar Monate lang eine Lehrerin vertreten; als die zurückgekommen sei, habe sie gehen müssen.
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(Auf Befragen zu ihrem Verfolgungsschicksal und den Gründen für ihren Asylantrag:) Die Gründe seien die gesundheitlichen Gründe ihres Ehemannes, sie habe keine eigenen Gründe. Ihr Mann habe eine thrombotisch-thrombozytopenische Purpura, das sei wie die Parkinson-Krankheit, glaube sie. Die Krankheit ihres Mannes habe sich im Alltag ausgewirkt in Form von Blutungen aus der Nase und aus dem After, außerdem blaue Flecken und rötlicher Ausschlag. Wenn man ihn leicht berühre, bleibe sofort eine blaue Spur. Das habe sich auch auf die Arbeit ausgewirkt, er habe keine schweren physischen Arbeiten verrichten können und sich nicht lange in der Sonne aufhalten dürfen. (Auf Frage, wovon sie ihren Lebensunterhalt finanziert habe:) Ihr Mann habe gearbeitet als Fahrer-Spediteur, aber das sei keine ständige Arbeit gewesen. Er habe auch als Frisör gearbeitet, nur vom Verdienst als Frisör habe er die Familie aber nicht unterhalten können. Staatliche Unterstützung hätten sie nicht bekommen. Ihre Eltern hätten sie unterstützt. Sie hätten die Medikamente für ihren Mann selbst zahlen müssen. Wieviel das im Monat ungefähr gekostet habe, wisse sie nicht mehr. Manchmal habe sie die Medikamente gekauft, manchmal seine Eltern, manchmal er. Er sei auch einige Male stationär behandelt worden wegen der Krankheit, das sei noch gewesen, bevor sie sich kennengelernt hätten. Die Ärzte hier in Deutschland hätten bewiesen, dass der Zustand ihres Mannes durch die hormonelle Behandlung schlechter geworden sei und der jetzige Zustand vor allem durch diese hormonelle Behandlung hervorgerufen worden sei. Hier bekomme er Infusionen, in Armenien habe er nur Tabletten bekommen. In Armenien habe man in 17 Jahren nicht einmal den Grund für die Krankheit finden können, dort habe er stark zugenommen gehabt von den Medikamenten.
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(Auf Befragen zu schutzwürdigen Belangen bezüglich eines etwaigen Einreise- und Aufenthaltsverbotes:) Sie sei mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Deutschland, sonst habe sie hier keine Familienmitglieder.
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Mit Bescheid vom 8. Februar 2017 lehnte das BAMF die Anträge des Klägers und seiner Ehefrau und seiner Tochter auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und den subsidiären Schutzstatus ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und forderte sie unter Fristsetzung (innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens) und Androhung der Abschiebung - zuvorderst nach Armenien - zur Ausreise auf; außerdem befristete das BAMF das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
11
In den Gründen des Bescheides war unter anderem ausgeführt: Eine allgemein schwierige soziale und wirtschaftliche Lage begründe kein Abschiebungsverbot, sie müsse und könne von den Antragstellern ebenso wie von vielen ihrer Landsleute gegebenenfalls unter Aufbietung entsprechender Aktivitäten bewältigt werden. Eine Rückkehr für die Antragsteller sei insofern zumutbar. Auch unter Berücksichtigung ihrer individuellen Umstände sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Der Kläger sei bis zum jetzigen Zeitpunkt trotz seiner Krankheit in der Lage gewesen, seinen Lebensunterhalt in Armenien zu bestreiten. Mit der überdurchschnittlichen Ausbildung seiner Ehefrau sei außerdem anzunehmen, dass sie in der Lage wäre, das Existenzminimum der Familie zu sichern auch für den Fall, dass der Kläger eine oder beide seiner Tätigkeiten aufgrund seiner Krankheit aufgeben müsste. Den Klägern drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Über die vom Kläger angegebene Krankheit sei trotz Aufforderung kein Attest aus Deutschland vorgelegt worden. Vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Armenien (wurden im Bescheid näher ausgeführt) sei nicht erkennbar, dass für die vorgetragene Krankheit in Armenien eine erforderliche medizinische Behandlung nicht gewährleistet wäre oder aus finanziellen Gründen scheitern könnte. Die Antragsteller hätten trotz mehrfacher Nachfragen keine Angaben zu den Kosten gemacht, die sie aufgrund der Erkrankung des Klägers hätten tragen müssen. Es sei daher davon auszugehen, dass die medikamentöse Versorgung des Klägers in Armenien weiterhin durch die Antragsteller finanziert werden könne.
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Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 22. Februar 2017 ließen der Kläger sowie seine Ehefrau und seine Tochter Klage erheben mit dem Antrag,
den Bescheid des BAMF vom 8. Februar 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
13
Zur Begründung war ausgeführt, dass der Kläger unter einer idiopathisch-thrombozytopenischen Purpura (ITP) leide. Dabei handele es sich um eine Autoimmunkrankheit, bei der Thrombozyten in der Milz zerstört und Antikörper gegen Oberflächenantigene der Thrombozyten gebildet würden. Eine Therapie sei nicht immer erforderlich, der Therapiebedarf bestehe aber bei lebensbedrohlichen Blutungen und bei erheblichen Funktionsstörungen der Milz. Bei Thrombozytenwerten von unter 30.000/µl träten oft klinische Erscheinungen auf, bei Werten unter 10.000/µl könnten lebensbedrohliche Blutungen auftreten. In Armenien habe der Kläger alles Mögliche unternommen, um behandelt und geheilt zu werden. Aufgrund seiner Krankheit sei er vom Wehrdienst befreit worden. Bei ihm trete immer wieder starkes Nasenbluten auf. Durch die medizinische Behandlung in Deutschland habe eine deutliche Besserung des Gesundheitszustandes erreicht werden können. Hier bekomme er Infusionen mit Hormonen. Die Behandlung mit Dexamethason (4 x 40 mg täglich) habe zum Anstieg der Thrombozyten auf Normalwerte geführt. Die letzte Blutbildkontrolle habe allerdings erneut niedrige Thrombozytenwerte gezeigt, so dass eine neue Therapie mit Dexamethason geplant worden sei. Falls sich die Thrombozytenwerte durch die Therapie nicht stabilisieren ließen, müsse die Milz operativ entfernt werden. Der Kläger habe bei seiner Rückkehr nach Armenien alsbald eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten, weil eine sofortige und korrekte Weiterbehandlung im Falle seiner Rückkehr dort nicht möglich sei. Die dortigen Ärzte seien nicht in der Lage, die Krankheit zu heilen.
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Vorgelegt wurden dazu ein vorläufiger Arztbrief des Klinikums … vom 31. Oktober 2016 über dortige stationäre Behandlung des Klägers (Diagnose: idiopathische-thrombozytopenische Purpura) sowie ein Bericht einer hämatologischen und onkologischen Gemeinschaftspraxis vom 6. Dezember 2016, wonach der Kläger stationär einen Dexamethason-Stoss mit 4 x 40 mg täglich erhalten habe. Darunter sei es zu einem prompten Anstieg der Thrombozyten auf Normalwerte gekommen. Bei der aktuellen Blutbildkontrolle hätten sich erneut deutlich erniedrigte Thrombozytenwerte gezeigt, so dass wieder ein Termin zu einer Dexamethason-Stosstherapie geplant worden sei. Sollten sich unter dieser Therapie die Thrombozytenwerte nicht stabilisieren lassen, müsste Anfang kommenden Jahres die Splenektomie geplant werden.
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Laut einem weiteren vorgelegten Attest des Facharztes für innere Medizin, Hämatologie und Onkologie Dr. … vom 11. Januar 2018 besteht beim Kläger eine ITP, die aktuell unter Behandlung mit Eltrombopag 25 mg ausreichend therapiert sei. Eine Fortsetzung der Therapie sei bis auf weiteres notwendig, ebenso Verlaufskontrollen der Blutbilder.
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Dazu führte der Prozessbevollmächtigte der Kläger aus, dass Eltrombopag (Revolade) nicht in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Republik Armenien aufgeführt sei, was bedeute, dass Eltrombopag weder vom Staat erworben noch kostenlos zur Verfügung gestellt werde. Revolade 50 mg Filmtabletten kosteten 2.813,00 Euro.
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Nachgereicht wurden weitere fachärztliche Atteste des Dr. … vom 16. April 2018, 23. November 2018 und 8. Januar 2019.
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Das letztgenannte Attest enthält folgende zusammenfassende Beurteilung über den Kläger (ähnlich auch bereits die vorhergehenden Atteste): Bei dem Patienten sei eine seit ca. dem Jahr 2000 chronische ITP bekannt. Ein Ausheilen der Erkrankung sei nicht wahrscheinlich. Thrombozytenwerte um 50.000/µl ohne Blutungszeichen seien tolerabel und beeinträchtigten den Patienten nicht weiter. Bei weiterem Abfall und/oder Blutungszeichen wie Petechien habe bislang eine Therapie mit oralen Steroiden jeweils gut angeschlagen, zuletzt sei allerdings seines Erachtens nach bei erneutem rezidivierendem Nasenbluten bei Thrombopenie eine Therapieeinleitung mit Eltrombopag (Revolade 25 mg täglich) sinnvoll gewesen. Diese Behandlung erfolge kontinuierlich, wobei nach gutem anfänglichem Anstieg der Thrombozyten sogar eine Tablette Revolade jeden zweiten Tag die Thrombozyten um 50.000/µl halte, was ausreichend erscheine. Gegebenenfalls könne jederzeit die Therapie wieder auf täglich erhöht werden. Ein komplettes Absetzen der Medikation würde ein erneutes Abfallen der Thrombozytenwerte und gegebenenfalls Blutungen zur Folge haben, die je nach Lokalisation der Blutung (z.B. Gehirn) auch tödlich verlaufen könnten. Einer Arbeitsfähigkeit stehe weder die Erkrankung an sich noch die Behandlung im Wege. Bei regelmäßiger Einnahme der Medikation und Verlaufskontrollen sei ein „normales“ Leben möglich.
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Am Ende des Attestes sind die Laborbefunde des Klägers vom 8. Oktober 2018 und 8. Januar 2019 abgedruckt mit dem Vermerk, dass aktuell bei Abfall der Thrombozyten unter der Medikation eher wieder eine Erhöhung der Revolade-Dosis sinnvoll sei dahingehend, jeden zweiten Tag 50 mg einnehmen.
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Für die Beklagte nahm das BAMF mit Schreiben vom 12. Dezember 2018 dahingehend Stellung, dass sich eine erhebliche und konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus dem vorgelegten Arztbericht nicht entnehmen lasse. Es werde lediglich ausgeführt, dass ein komplettes Absetzen der Medikation (Revolade 25 mg) ein erneutes Abfallen der Thrombozytenwerte und gegebenenfalls Blutungen zur Folge hätte, die je nach Lokalisation der Blutung (z.B. Gehirn) auch tödlich verlaufen könnten. Dies reiche nicht aus, um eine konkrete Gefahr zu begründen. Außerdem lasse diese Beurteilung völlig außer Acht, dass die Erkrankung des Klägers in Armenien behandelt werden könne, was in der Vergangenheit auch erfolgt sei. Die Behandlung mit Kortison sei eine wirkungsvolle konservative Behandlung, die auch in Deutschland angewandt worden sei und die die Erkrankung des Klägers zumindest soweit eindämmen könne, dass schwerwiegende oder gar tödliche Folgen vermieden werden können. Zwar möge diese Behandlung einer in Deutschland möglichen Behandlung mit dem neuen Medikament Revolade nicht gleichwertig sein. Auf die in Deutschland mögliche höherwertige Behandlung habe der Kläger jedoch keinen Anspruch, er müsse sich auf die in seinem Heimatland mögliche Behandlung verweisen lassen.
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Mit Schreiben vom 24. Januar 2019 verwies der Prozessbevollmächtigte des Klägers unter Bezugnahme auf eine Antwort des behandelnden Arztes vom 24. Januar 2019 darauf, dass eine weitergehende Auskunft von dort zur näheren Einschätzung der Folgen und insbesondere deren jeweiliger Wahrscheinlichkeit bei Absetzen der Medikation mit Eltrombopag und Umstellung auf eine Kortisonbehandlung nicht möglich sei. Es sei beabsichtigt, folgende Beweisanträge im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu stellen:
22
1. Zum Beweis der Tatsache, dass beim Kläger eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt, wird Vernehmung des behandelnden Arztes Dr. … beantragt, hilfsweise Einholung eines Sachverständigengutachtens.
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2. Zum Beweis der Tatsache, dass beim Kläger die Therapie mit Eltrombopag erforderlich ist und dass die Therapie nur mit Eltrombopag fortgesetzt werden muss/kann, wird Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.
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3. Zum Beweis der Tatsache, dass Eltrombopag in Armenien nicht erhältlich ist, wird Einholung eines Sachverständigengutachtens, hilfsweise die Einholung der Auskunft des Auswärtigen Amtes beantragt.
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4. Zum Beweis der Tatsache, dass Eltrombopag nicht in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Republik Armenien aufgeführt ist, wird die Einholung eines Sachverständigengutachtens, hilfsweise der Auskunft des Auswärtigen Amtes beantragt.
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Das BAMF verwies dazu darauf, dass gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG, der auch bei der Prüfung von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen zu berücksichtigten sei, eine Erkrankung, die eine Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden müsse. Gelinge dies nicht, so sei darüber hinaus eine weitere Beweiserhebung durch Einvernahme des behandelnden Arztes nicht vorgesehen. Soweit der Klägervertreter des Weiteren die Beweiserhebung zur Frage der Erforderlichkeit einer Therapie mit Eltrombopag, der Verfügbarkeit des Medikamentes in Armenien und der Tatsache, dass das Medikament nicht in der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Republik Armenien enthalten sei, beantrage, halte die Beklagte eine solche Beweiserhebung nicht für erforderlich, weil eine alternative Behandlung der Erkrankung des Klägers in Armenien zur Verfügung stehe.
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In der mündlichen Verhandlung am 7. März 2019 gab der Kläger an, dass er in Armenien Tabletten bekommen habe, wenn er Blutungen gehabt habe. Das sei sehr oft gewesen, vielleicht drei- bis viermal monatlich. Gelegentlich sei er dabei auch bewusstlos geworden. Weggegangen aus Armenien sei er, weil die Ärzte gesagt hätten, es wäre besser, wenn er ausreise in die USA oder nach Europa. Sein Vater habe wegen der Behandlung auch schon sein (des Vaters) Haus verkauft gehabt. Um kostenlose Behandlung bekommen zu können, hätte man bei der Stadt oder bei einem ähnlichen Arbeitgeber arbeiten müssen, um versichert zu sein. Er habe damals die Tabletten bekommen, wenn er im kritischen Zustand gewesen sei, er sei dazu auch immer ins Krankenhaus gekommen. Er habe dennoch immer wieder blaue Flecken gehabt, hier in Deutschland gebe es keine solche Wirkung. Er sei damals auch immer „angeschwollen“ gewesen. Die Ärzte hätten es damals geregelt, dass er die Tabletten nur bekommen habe, wenn er Blutungen gehabt habe. Die Ärzte in Armenien hätten gewusst, dass er niedrige Thrombozytenwerte habe, sie hätten die Krankheit gekannt, hätten aber nicht gewusst warum. Er habe nach einer Operation gefragt, doch sie hätten ihm keine Garantie geben können. In Deutschland sei er unter der jetzigen Behandlung in seinem Tagesablauf nicht beeinträchtigt, gelegentlich müde, aber wesentlich anders als in Armenien, wo er viel stärker müde und schläfrig gewesen sei. Hier in Deutschland besuche er zum Beispiel auch Sprachkurse.
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Die Ehefrau des Klägers bestätigte, dass ihr Mann Behandlung mit Tabletten nur im Krankenhaus gehabt habe. Dennoch seien damals die Werte niedrig geblieben, es hätten nur die Blutungen aufgehört auf die Tablettengabe. Es seien weitere Nebenwirkungen gewesen, es habe auf ihren Mann auch so Einfluss genommen, dass er manchmal sich habe äußern wollen, aber es nicht gekonnt habe.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung am 7. März 2019 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Mit Beschluss vom 7. März 2019 hat das erkennende Gericht vom Verfahren über die vom Kläger sowie seiner Ehefrau und seiner Tochter erhobene Klage (AN 6 K 17.30957) das Verfahren des Klägers unter dem neuen Aktenzeichen AN 6 K 19.30320 abgetrennt, weil es bezüglich seiner Person weiterer Sachaufklärung bedürfe.
31
Im unter dem Aktenzeichen AN 6 K 17.30957 verbliebenen Klageverfahren der Ehefrau des Klägers und seiner Tochter hat das erkennende Gericht mit Urteil vom 7. März 2019 die Klage abgewiesen; für die Einzelheiten dieses Urteils und dessen Entscheidungsgründe wird auf das den Beteiligten bekannte Urteil Bezug genommen.
32
Im Weiteren übersandte der Kläger mit Schreiben vom 22. März 2019 seine armenischen und seine deutschen Laborwerte und erklärte sich auch bereit, im Rahmen einer etwaigen amtsärztlichen Untersuchung die Therapie mit Eltrombopag für eine bestimmte Zeit zu reduzieren.
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Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 6. November 2020 übermittelte er einen weiteren Bericht (vom 29.10.2020) des ihn behandelnden Facharztes für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie Dr. … folgenden wesentlichen Inhalts: Bei dem Patienten sei seit ca. 2000 eine chronische Immunthrombozytopenie bekannt. Ein Ausheilen der Erkrankung sei nicht wahrscheinlich. Thrombozytenwerte von ungefähr 50.000 pro Mikroliter ohne Blutungszeichen seien tolerabel und beeinträchtigten den Patienten nicht weiter. Bei weiterem Abfall und/oder Blutungszeichen wie Petechien hätten bislang Therapie mit oralen Steroiden jeweils gut angeschlagen, zuletzt sei allerdings nach seinem Ermessen bei erneuten rezidivierenden Nasenbluten bei Thrombozytopenie eine Therapieeinleitung mit Eltrombopag (Revolade 25 mg täglich) sinnvoll gewesen. Diese Behandlung erfolge kontinuierlich. Ein komplettes Absetzen der Medikation würde ein erneutes Abfallen der Thrombozytenwerte und gegebenenfalls Blutungen, die auch lebensbedrohlich sein könnten, zur Folge haben. Einer Arbeitsfähigkeit stehe weder die Erkrankung an sich noch die Behandlung im Wege. Bei regelmäßiger Einnahme der Medikation und Verlaufskontrollen sei ein „normales“ Leben möglich.
34
Ergänzend ließ der Kläger noch Abdrucke seiner Laborbefunde vom 21. Oktober 2020 und seiner Bluttestergebnisse von Februar 2019 bis Oktober 2020 vorlegen.
35
In der mündlichen Verhandlung am 17. November 2020 verwies der Klägerbevollmächtigte darauf, dass nach seinen Recherchen im Internet die medizinische Versorgung in Armenien mittlerweile im katastrophalen Zustand sei; es fehle an elementaren Dingen, Armenier aus dem Ausland schickten zur Unterstützung schon Sachen wie etwa Verbandskästen dorthin. Er habe einem Bericht in russischer Sprache (Ursprungsnachricht vom 28.9.2020) auch entnommen, dass in Armenien die Krankenhäuser keine Patienten mehr aufnähmen und bereits vorhandene entließen. Der Grund dafür sei der Kriegszustand, von daher fielen so viele Patienten an.
36
Der Kläger erklärte, dass es ihm aktuell dank seines Arztes gut gehe. Er nehme das Medikament Revolade ein, eine Tablette einmal täglich. Die genaue Dosis in Milligramm wisse er jetzt nicht. Er gehe einmal im Monat zu seinem Arzt, ihm werde dort Blut abgenommen, der Blutbefund werde gemacht, er erhalte die Ergebnisse und bekomme Rezepte vom Arzt. Durch die Medikation habe er keine Blutungen mehr, vorher habe er sie gehabt. Vor der Ausreise in Armenien habe er drei- bis viermal im Monat Blutungen und auch blaue Flecken gehabt. Nicht einmal die blauen Flecken habe er jetzt mehr.
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Die Beweisanträge des Klägerbevollmächtigten aus dessen Schriftsatz vom 24. Januar 2019 hat das erkennende Gericht abgelehnt, weil, soweit es nicht um bloße vom Gericht vorzunehmende rechtliche Wertungen gehe bzw. soweit die Tatsachenumstände überhaupt entscheidungserheblich seien, die zum Verfahrensgegenstand gemachten Auskunftsquellen und die im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen beim Kläger dem Gericht die hinreichende Sachkunde zu der ihm zustehenden Bewertung vermittelten.
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Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 17. November 2020 im Übrigen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
39
Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Bundesamtsakte Gz. … Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Ausweislich des gestellten Klageantrags macht der Kläger mit seiner Klage gegen den Bundesamtsbescheid vom 8. Februar 2017 nur das Bestehen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geltend und begehrt nebst entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides die Verpflichtung des Bundesamtes, beim Kläger die genannten Abschiebungsverbote festzustellen.
A.
41
Diese Klage ist zulässig und teilweise begründet gemäß § 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO.
42
Diesem Klageantrag ist insoweit stattzugeben, als die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 8. Februar 2017 zu verpflichten ist, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen - soweit der Kläger eine darüber hinaus gehende Verpflichtung der Beklagten begehrt - ist die Klage jedoch mangels Begründetheit abzuweisen.
43
Das Gericht konnte hier, wie die nachfolgenden Gründe verdeutlichen, aufgrund der zum Verfahrensgegenstand gemachten Auskunftsquellen und der im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen des Klägers mit hinreichender Sachkunde ohne weitere Beweiserhebung entscheiden (wie auch zum Beweisantrag des Klägers vom 24.1.2019 in der mündlichen Verhandlung vom 17.11.2020 schon beschlussmäßig ausgesprochen).
44
Vorliegend sind die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Armeniens beim Kläger erfüllt. Aufgrund dessen ist seine Klage insoweit begründet, als er gegen die Beklagte einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung hat. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes besteht vorliegend jedoch nicht. Damit ist das Verpflichtungsbegehren des Klägers nur teilweise erfolgreich (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
45
1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.10.2018 - Au 5 K 17.32950). Eine entsprechende Gefahr kann sich auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung dort tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 - 1 C 1.02). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (OVG NW, B.v. 14.6.2005 - 11 A 4518/02.A). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Armenien) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
46
Gemessen an diesen Maßstäben ist im Fall des Klägers entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 27 Abs. 1 AsylG) bei Zugrundelegung seiner Erkrankung und der Verhältnisse in seinem Heimatland Armenien - unter Berücksichtigung der Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um Berg-Karabach und der Corona-Pandemie - vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückführung in das Heimatland auszugehen.
47
Die Kläger, der seine Erkrankung an einer idiopathischen thrombozytopenischen Purpura bzw. (Auto) Immunthrombozytopenie und deren fortbestehende Behandlungsbedürftigkeit mit den vorgelegten ärztlichen Unterlagen nachgewiesen hat, hat mit der ihm in der Bundesrepublik Deutschland angediehenen Behandlung letztlich eine normale Lebensqualität erreicht. Die in Deutschland bei ihm zuletzt angewandte Eltrombopag-Therapie kann der Kläger aber in Armenien - auch ohne die Turbulenzen, in die das armenische Gesundheitssystem durch die Entwicklungen dieses Jahres geraten ist - schon deshalb nicht erlangen, weil es sich um ein neu entwickeltes, relativ teueres Medikament handelt, das jedenfalls nicht in die Liste der essentiellen Medikamente der Republik Armenien aufgenommen ist (nach der vorliegenden Auskunftslage war darüber hinaus zumindest bis in die jüngere Vergangenheit sogar ein Produkt mit diesem Wirkstoff in Armenien überhaupt nicht verfügbar, wobei es für den vorliegenden Fall aber nicht darauf ankommt, ob dies aktuell weitergilt). Damit bleibt für den Kläger noch als potentiell zumutbare weitere Option, um eine wesentliche Verschlechterung seines gegenwärtigen Gesundheitszustandes bei seiner zweifellos schwerwiegenden Erkrankung nach Rückführung nach Armenien zu verhindern, die Behandlung mit in Armenien grundsätzlich vorhandenen und zumindest zum Teil auch in der Liste der essentiellen Medikamente aufgenommenen Cortisonpräparaten (wobei er vor Ausreise eine derartige Behandlung anscheinend bereits über längere Zeit erhalten hat, die allerdings zumindest aus seiner Sicht in ihren Auswirkungen erheblich hinter dem Behandlungserfolg in Deutschland zurückgeblieben ist).
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In Armenien würde der Kläger aber nunmehr folgende wesentliche Verhältnisse antreffen:
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Wie aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Berichten der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, eines WIKIPEDIA-Artikels über die Covid-19-Pandemie in Armenien und der Verlautbarung der WKO Österreich zu entnehmen ist, ist auch Armenien heftig von einer ersten Welle der COVID-19-Pandemie erfasst worden. Das bereits vorher finanziell unterversorgte Gesundheitssystem versagte, nur noch Infizierte mit erheblichen Symptomen konnten in die Krankenhäuser aufgenommen werden. Die Pandemie hatte außerdem auch massive Auswirkungen auf das dortige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und die Infrastruktur des schwachen Gesundheitssystems. Die Corona-Pandemie hat in Armenien zu Einkommenseinbußen, Entlassungen und Betriebsschließungen geführt. Nach der obligatorischen Schließung sahen sich Tausende von Menschen in Armenien, die entweder im Ausland - hauptsächlich in Russland - oder als Tagelöhner im Dienstleistungs- und Bausektor, arbeiten, ernsthaften finanziellen Einbußen ausgesetzt (Heinrich-Böll-Stiftung: „Das Coronavirus hat Armenien den Krieg erklärt“ vom 15.6.2020). Schon in Folge der ersten Infektionsquelle war die Erkrankungsrate erheblich (z. B. am 7.7.2020: 17.064 Infizierte und 285 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 3 Millionen Menschen). Nach einer Abschwächung der Zahl der täglichen Neu-Infektionen über die Sommermonate ist es aber wieder zu einem starken Anstieg der Infektionszahlen gekommen. Am 6. November 2020 war nunmehr eine Zahl von 110.548 Fällen seit Beginn der Pandemie in Armenien erfasst, davon allein 28.727 erst in den letzten 14 Tagen vom 23. Oktober bis 5. November 2020; die Zahl der erfassten Todesfälle in Zusammenhang mit der Virusinfektion wird zu diesem Zeitpunkt schon mit 1.636 angegeben (Wikipedia-Statistik zu Corona-Fällen in Armenien, abgerufen 11.11.2020).
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Zugleich ist nach den allgemeinkundigen Berichten in den Massenmedien die armenische Gesellschaft und Wirtschaft und insbesondere die öffentliche Infrastruktur Armeniens aktuell heftig von den Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach getroffen worden, die Armenien zu einer Mobilisierung seiner Bevölkerung und Ressourcen für die offen entflammten Kampfhandlungen in der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region gezwungen haben und die zuletzt einen für Armenien ungünstigen Verlauf genommen haben. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Kaukasus-Region war Ende September 2020 wieder voll entbrannt. Seit Beginn der Kämpfe wurden nach offiziellen Angaben beider Konfliktparteien mehr als 1.200 Menschen getötet. Tatsächlich dürfte allein die Zahl der Toten aber deutlich höher liegen, so hatte Russlands Präsident Putin schon von fast 5.000 Toten durch die Gefechte gesprochen. Nachdem sich Armenien und Aserbaidschan auch am 30. Oktober 2020 bei Gesprächen nicht auf eine Feuerpause einigen konnten, musste der armenische Regierungschef Paschinjan den russischen Präsidenten Putin offiziell um Hilfe im Konflikt bitten; Paschinjan habe Putin um den Beginn dringender Konsultation gebeten, es solle über Art und Umfang der Hilfe gesprochen werden, die die Russische Föderation Armenien zur Verfügung stellen kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten (vgl. dazu etwa faz.net „Armenien bittet Russland um Hilfe“ vom 31.10.2020). Am 9. November 2020 erklärte Paschinjan dann de facto die Kapitulation Armeniens, der Krieg sei zu Ende. Nach Einschätzung des Präsidenten von Berg-Karabach, Harutjunjan, waren die armenischen Streitkräfte nach 43 Tagen ununterbrochener Kämpfe nicht mehr in der Lage gewesen, Widerstand zu leisten. Der Status der Region Berg-Karabach ist dabei momentan noch nicht geklärt, eine Vertreibung der Armenier von dort noch nicht abgewendet, auch wenn russische Friedenssoldaten einen Korridor zu den Armeniern in Berg-Karabach und die Frontlinie sichern sollen. Bisher schon sind etwa 100.000 Menschen aus Berg-Karabach geflohen, sie fanden Unterkunft in Häusern der Regierung, in Hotels und privat bei Freunden und Verwandten. Dem relativ schnellen Handeln der Regierung und der enormen Solidarität unter den Armenien ist es zu verdanken, dass sich die sozialen Folgen derzeit noch in Grenzen halten. Die Leiterin des Frauenhilfszentrums in Jerewan, die als eine von vielen seit Wochen Hilfe für die Geflüchteten organisiert, und viele andere sorgen sich jedoch, dass die Versorgung der Flüchtlinge auf Dauer über ihre Kräfte gehen könnte, zumal die Corona-Pandemie fast ungehindert im Land wütet. Das Virus schwächt nicht nur die Soldaten in Berg-Karabach, es verbreitet sich unter den Flüchtlingen und bei den Beerdigungen für die gefallenen Soldaten und verstorbenen Zivilisten. Die Krankenhäuser können derzeit hunderte Schwerkranke nicht aufnehmen. Die Regierung appelliert mit Plakaten an die Bevölkerung, Masken zu tragen - sie will jedoch nicht die geschwächte Wirtschaft ein zweites Mal mit Einschränkungen drosseln. Die Friedensvereinbarung bringt Armenien auch nur an einer Front etwas Ruhe. Es bleiben enorme Herausforderungen, die das Land allein kaum stemmen kann (so gemäß tagesschau.de, 11.11.2020, „Armenien am Rande des Kollaps“).
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In Konsequenz dieser Entwicklungen muss im Fall des Klägers, der nicht zur armenischen Oberschicht gehört, von einer schweren chronischen Erkrankung betroffen ist und auch glaubhaft nicht über ganz besondere einsetzbare finanzielle Ressourcen verfügt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass er gegenwärtig und in nächster Zukunft bei Rückführung nach Armenien als neu aus dem Ausland zurückkehrende Person in den Turbulenzen, in die das ohnehin unterentwickelte armenische Gesundheitssystem durch die Pandemie und durch die Versorgung der Opfer des Berg-Karabach-Konflikts geraten ist, auch die zumindest notwendige fortlaufende medizinische Behandlung durch labordiagnostische Bestimmung seines Blutbildes und eine dem angepasste Cortison-Medikation nicht erhält. Schon vor der Zuspitzung der Lebensverhältnisse in Armenien hatte sich im Fall des Klägers die Frage gestellt, ob er bei Bewertung der Ressourcen des dortigen Gesundheitssystems und seiner finanziellen Möglichkeiten hinreichend sicheren Zugang zu einer regelmäßigen Blutbildbestimmung und einer entsprechenden Cortison-Therapie erlangen kann, die eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes vermeidet. Außer Frage steht gemäß den nachvollziehbaren ärztlichen Feststellungen in den vorgelegten Attesten/Befundberichten, dass die Erkrankung des Klägers wegen der bei verstärkter Blutungsneigung auftretenden gravierenden Risiken nicht unkontrolliert und unbehandelt bleiben darf, um eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes in absehbarer Zeit zu verhindern. Dabei hätte der Kläger schon zu „normalen“ Zeiten damit, dass im armenischen staatlichen Gesundheitssystem nicht alle zugelassenen Präparate immer vorhanden sind, und mit der Erforderlichkeit „inoffizieller“ Zuzahlungen im öffentlichen Gesundheitssektor oder von Zahlungen bei Ersatzbeschaffungen im privaten Sektor zur Erlangung adäquater Versorgung zu kämpfen gehabt. Angesichts der zuletzt eingetretenen krisenhaften Entwicklung steht aber anhand der zum Verfahrensgegenstand gemachten Auskunftsquellen und der im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse zu den persönlichen Verhältnissen des Klägers zur Überzeugung der Kammer fest, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Kläger nach seiner Rückkehr weder eine kontinuierliche Kontrolle seines Blutbildes noch stets die bei dem zu erwartenden Absinken seiner Thrombozytenwerte gebotene unverzügliche Therapie erhalten wird und damit den ärztlicherseits beschriebenen Folgen und Risiken ausgesetzt wird, die wiederum das Erfordernis einer wesentlichen Verschlechterung einer schweren Erkrankung i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllen, wobei außerdem noch bei ihm angesichts seiner Behandlungsnotwendigkeit eine im Verhältnis zu einer nicht von dieser Erkrankung betroffenen Person erhöhte Gefährdung im Rahmen der Covid-19-Pandemie bestehen dürfte.
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2. Allerdings bedeuten die beschriebenen Gefahren, nachdem kein umfassender Zusammenbruch der öffentlichen und privaten Versorgungsinfrastruktur in Armenien - auch nicht in medizinischer Hinsicht - zu konstatieren ist, angesichts der vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten aus seiner (Groß-)Familie mit Sicherheit zugleich keine unmittelbar lebensbedrohliche oder sonst schwerst beeinträchtigende Situation in Folge der Abschiebung für den Kläger oder sein bloßes „Dahinvegetieren“ nach einer Abschiebung oder den Eintritt humanitärer Ausnahmegründe, die zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprächen, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass auch die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
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Abschiebeschutz nach dieser Vorschrift hat das Bundesamt daher rechtsfehlerfrei verneint.
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3. Damit sind zwar - wie dargelegt - (allein) die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Annahme der Beklagten hier gegeben. Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich jedoch gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte Ermessen ist bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Jahr 2007 auch nicht mehr der Ausländerbehörde, sondern dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugewiesen (vgl. etwa Bodenbender in GK-AsylG § 24 Rn. 12 f., m.w.N.). Das Bundesamt darf bei seiner Entscheidung zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Regel dementsprechend in solchen Fällen abweichen, in denen die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht mehr gefordert wird (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, 18. Auflage 2017, § 40 Rn. 64 m.w.N.).
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Von einer solchen Fallgestaltung ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach der Auffassung des Gerichts (anders: BayVGH vom 18.5.2020 - 2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) aber nunmehr jedenfalls grundsätzlich dann auszugehen, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind. Der Gesetzgeber hat die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern unter Berücksichtigung des jeweiligen Aufenthaltszwecks einer differenzierten gesetzlichen Regelung unterzogen, wobei insbesondere auf den Schutz der Sozial- und Gesundheitssysteme vor etwaigen Belastungen ein besonderes Augenmerk gelegt wird (vgl. etwa § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009). Vor diesem Hintergrund ist gerade nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für solche Konstellationen einen Abschiebeschutz als gesetzlichen Regelfall vorsehen wollte, in denen Ausländer (rechtsmissbräuchlich) über das Asylverfahren eigentlich eine Krankenbehandlung im Bundesgebiet - unter Umgehung des insofern vorgesehenen aufenthaltsrechtlichen Verfahrens - erstreben.
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Für die Eröffnung des Verwaltungsermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei derartigen Fällen spricht im Übrigen zugleich die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Sie fallen demnach grundsätzlich nicht unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe im Zielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a AufenthG befunden wird (BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - Rn. 13 m.w.N.).
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Zwar sind die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen hier nicht erfüllt, die Regelung bestätigt jedoch die Annahme einer Aktivierung des Rest-Ermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der oben dargestellten Missbrauchskonstellation, denn der in Satz 6 als Ausnahme von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausformulierte Tatbestand ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass wegen der nicht durch den individuellen Einzelfall geprägten Umstände, wegen der erheblichen Zahl der in gleicher Weise „Betroffenen“ und wegen der daraus folgenden Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat gerade keine gebundenen Einzelfallentscheidungen erfolgen sollen* Eine vergleichbare Situation, die der Gesetzgeber so nicht bei der erstmaligen Einführung dieser Regelung in das Ausländerrecht und auch nicht bei deren Übernahme in das AufenthG im Jahr 2004 im Blick hatte, sondern sich vielmehr erst danach entwickelt hat, ergibt sich aus dem gehäuften, zielgerichteten, erfolgreichen Missbrauch des Asylverfahrens, allein um sich so wegen des (schwer) defizitären Sozial- und Gesundheitssystems im Herkunftsland Zugang zu den Gesundheits-/Sozialsystemen der Bundesrepublik Deutschland für eine aufwändige Betreuung und Behandlung bei Erkrankungen zu verschaffen. Dieses Phänomen, das bezogen auf das Herkunftsland Armenien nach den Erfahrungen der Kammer schon systematische Züge angenommen hat, ist auch keineswegs auf dieses Herkunftsland beschränkt, sondern hat gerade in den letzten Jahren - mit einem Schwerpunkt bei den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aber beileibe nicht nur dort - immer weiter um sich gegriffen, so dass sich die Vergleichbarkeit mit einer Bevölkerungsgruppe in diesem Sinn aufdrängt (vgl. zu einer direkten Anwendung des damaligen § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG wegen der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in einem Herkunftsland BayVGH, B.v. 21.9.2016 - 10 C 16.1164 - juris). Mithin führen diese Überlegungen ebenso dazu, dass es bei Tatbestandserfüllung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in derartigen (Rechtsmissbrauchs-)Fällen vor der Feststellung eines Abschiebehindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des dort in atypischen Fällen eröffneten Ermessens - gegebenenfalls aufgrund ermessenslenkender Vorgaben - von Seiten der Exekutive bedarf, die das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. § 114 VwGO).
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An dieser Rechtsauffassung hält die Kammer auch in Ansehung der Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichthofs vom 18. Mai 2020 (2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) fest. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG enthält ausdrücklich eine bloße Soll-Regelung, d.h. wenn die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind, tritt nur im Regelfall die dort genannte Rechtsfolge ein. Dementsprechend ist unter Heranziehung der Gesetzessystematik und des Gesetzeszwecks zu bestimmen, wann bzw. ob konkret für den zu entscheidenden Fall ein vom Regelfall abweichender atypischer Fall besteht, der die im Gesetz vorgegebene Rechtsfolge ausnahmsweise in das Ermessen der entscheidenden Behörde stellt. In diesem Rahmen ist zur Überzeugung der Kammer entgegen der in den oben genannten Beschlüssen des 2. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vertretenen Auffassung darauf abzustellen, ob der/die betreffende Ausländer/in sich den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland lediglich mittels eines rechtsmissbräuchlichen Asylantrags verschafft hat. Denn die Rechtsstellung, die der/die Betreffende hier geltend macht - ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und damit die weitere Aufenthaltnahme in der Bundesrepublik Deutschland - kann nur dann erlangt werden, wenn sich der/die Betreffende in der Bundesrepublik Deutschland aufhält; denn das Vorliegen oder Geltendmachen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verleiht - anders als bei den asylrechtlichen Tatbeständen - gerade kein direktes Recht auf Einreise und Aufenthaltnahme in der Bundesrepublik Deutschland. Diese behält sich außerhalb des Asylrechts ausländerrechtlich grundsätzlich vor, in einem gesonderten (Visum-)Verfahren über die Berechtigung zur Aufenthaltnahme anhand des tatsächlichen Aufenthaltszweckes zu entscheiden, bevor der/die Ausländer/in überhaupt in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Mithin darf jedenfalls dann, wenn - wie hier - mit diesem Aufenthalt ganz erhebliche Belastungen der Allgemeinheit einhergehen, bei der Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht außer Acht bleiben, auf welche Weise der/die Ausländer/in den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erlangt hat. Wenn dies mittels eines rechtsmissbräuchlich gestellten Asylantrages erfolgt ist, also eines Asylantrages, bei dem offensichtlich der Zweck der asylrechtlichen Schutzgewährung verfehlt wird, sei es durch eine völlig fehlende Berufung auf potentielle derartige Gründe, sei es durch eindeutig nur vorgeschobene Asylantragsgründe, die den wahren Einreisegrund (Krankheitsbehandlung) verschleiern sollen, verlangen Gesetzeszweck und Gesetzessystematik sowie der Gedanke der Gleichbehandlung mit denen, die bei Erkrankungen nicht den Weg der rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung einschlagen, die Berücksichtigung dessen bei der Entscheidung nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Es liegt so ein atypischer Fall vor, das Rest-Ermessen der Soll-Bestimmung ist eröffnet. Die Exekutive hat dann in Ausübung dieses Ermessens zu prüfen und zu entscheiden, ob die grundsätzlich vorgesehene Rechtsfolge der Bestimmung auch in diesem atypischen Fall eintreten soll. Es ist nicht Sache der Rechtsprechung, vorzugeben, wie bei derartigen Konstellationen das Ermessen - sinnvollerweise mittels allgemeiner ermessenslenkender Vorgaben der ministeriellen Ebene - auszuüben wäre; die Ausübung anhand des Gesetzeszweckes und der Gesetzessystematik wird sich jedenfalls wohl grundsätzlich an der Schwere der Folgen der Rückführung für den/die Betroffene/n, die sonstigen Gegebenheiten der Person und deren Verhalten und an den mit der Fortdauer des Aufenthalts des/der Betreffenden verknüpften Folgen für die Belange der Bundesrepublik Deutschland zu orientieren haben. Dies erhellt sich insbesondere auch daraus, worauf die Kammer ebenfalls bei ihrer Rechtsprechung zur Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG unterstützend abstellt (vgl. oben), dass Verhältnisse eingetreten sind, die bei dieser Konstellation der Aufenthaltnahme mittels rechtsmissbräuchlich gestellten Asylantrages die Heranziehung des hinter § 60 Abs. 7 Satz 6 i.V.m. § 60a Abs. 1 AufenthG stehenden Rechtsgedankens im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nahelegen.
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Der Kläger ist aber mit seiner Familie gemäß den Angaben im Asylverfahren offenkundig nur aus medizinischen Gründen wegen der als unzulänglich erlebten Versorgungssituation im Heimatland in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat gerade deshalb die Aufenthaltnahme bezweckt und dafür das Mittel des Asylantrages - rechtsmissbräuchlich - eingesetzt. Diese Aufenthaltnahme wäre so bei Einhaltung der Vorgaben des ausländerrechtlichen Visum-Verfahrens nicht möglich gewesen. Die Kammer ist davon überzeugt, dass es sich hierbei um einen atypischen Fall der Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt und es daher grundsätzlich der Ausübung des in diesen Fällen eingeräumten Ermessens durch die Exekutive bedarf.
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4. Ausnahmsweise ist allerdings - wie auch zu § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG - das Ermessen des Bundesamtes in der skizzierten Missbrauchskonstellation dann zu Gunsten des Asylbewerbers auf Null reduziert, wenn seine Gefährdung nach Abschiebung im Zielstaat das Ausmaß der sogenannten extremen Gefahr (die seit der grundlegenden Entscheidung des BVerwG v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - juris mit der Formel „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ umschrieben wird) erreicht. Denn dann ist von Verfassung wegen (Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten. Vorstellbar ist andererseits außerdem, dass im Einzelfall das Ermessen auf Null in Richtung auf die Versagung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reduziert ist.
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Im Fall des Klägers liegen hier aber die oben genannten Voraussetzungen für die Eröffnung des Ermessens auf Rechtsfolgenseite vor, ohne dass dieses in der einen oder anderen Richtung auf Null reduziert wäre. Denn zum einen sind hier keine zwingend für die Versagung des Abschiebungsschutzes sprechenden Gründe ersichtlich. Zum anderen erreicht der Gesundheitszustand des Klägers insbesondere nicht das Stadium der gerade benannten extremen Gefahr (siehe dazu bereits die Ausführungen oben zu § 60 Abs. 5 AufenthG, der sogar nur eine im Vergleich dazu noch etwas geminderte Gefahrenprognose voraussetzt).
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5. Mithin ist hier zwar die Verneinung eines Abschiebehindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 8. Februar 2017 bezüglich des Klägers aufzuheben. Sein Verpflichtungsbegehren führt jedoch nur zusätzlich dazu, das Bundesamt dazu zu verpflichten, bei ihm über das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (nämlich dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Auffassung des Bundesamtes erfüllt sind) erneut zu entscheiden. Mangels Erfolgs des weitergehenden Verpflichtungsbegehrens auf Feststellung eines Abschiebeverbots ist dabei insoweit aber die Klage im Übrigen abzuweisen.
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6. Von Rechts wegen allerdings nicht bestehen bleiben können gegenüber dem Kläger außerdem noch die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 8. Februar 2017. Diese sind für seine Person mit aufzuheben, weil - bezüglich Nr. 5 - dem Kläger damit bereits die Abschiebung angedroht ist, obwohl die gemäß § 31 Abs. 5, § 34 Abs. 1 AsylG zwingend vorrangige Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst noch zu treffen ist, und weil - bezüglich Nr. 6 - darin trotz des vordergründigen gesetzlichen Wortlauts in § 11 AufenthG a.F. überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 - juris, LS 1, Rn. 70 ff), die wiederum maßgeblich vom Bestehen einer Abschiebungsandrohung abhängt.
B.
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Da somit der hier zur Entscheidung stehenden Klage (nur) teilweise stattgegeben wird, erfolgt die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 1, § 155 Abs. 1 VwGO unter Berücksichtigung des Umfangs des Obsiegens hälftig zu Lasten der Beteiligten.
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Gerichtskosten fallen nicht an, da das Verfahren gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei ist.
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Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.