Inhalt

ArbG Augsburg, Endurteil v. 21.01.2020 – 8 Ca 501/19
Titel:

Begründeter Anspruch einer Krankenschwester für Dialyse auf höheres Weihnachtsgeld - Zahlung einer Nephrologie-Zulage 

Normenkette:
BGB § 133, § 157
Leitsätze:
1. Bei einem nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dies Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.   (Rn. 16) (red. LS Andy Schmidt)
2. Lässt auch diese Auslegung keine zweifelsfreien Ergebnisse zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ebenso BAG BeckRS 2010, 70578).  (Rn. 16) (red. LS Andy Schmidt)
Schlagworte:
Weihnachtsgeld, Krankenschwester, Dialyse, Nephrologie-Zulage, persönliche Zulage, regelmäßig wiederkehrende Zulage
Rechtsmittelinstanz:
LArbG München, Urteil vom 01.10.2020 – 3 Sa 405/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 45360

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, 30,- Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.12.2018 an die Klägerin zu bezahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Streitwert wird auf 30,- Euro festgesetzt.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Höhe des der Klägerin zu gewährenden Weihnachtsgeldes 2018, insbesondere über die Berücksichtigung der sogenannten Nephrologie-Zulage.
2
Die Klägerin ist beim Beklagten seit dem 1.4.1989 als Krankenschwester für Dialyse im Dialysezentrum in G. beschäftigt.
3
Auf das Arbeitsverhältnis finden die jeweiligen für den Beklagten geltenden tariflichen Regelungen entsprechend dem Verweis im Arbeitsvertrag vom 16.05.1989 (Bl. 12 d. A.) und kraft beiderseitiger Tarifbindung Anwendung. Bei dem Beklagten gilt unter anderem der Hausmanteltarifvertrag vom 17.12.2009 (Bl. 19 ff. d. A.), der in § 13 unter der Überschrift „Überstundenvergütung, Zuschläge, Ausgleichverdienste zu ungünstigen Zeiten und Springerzulage“ verschiedene Vergütungsbestandteile und in § 14 unter der Überschrift „Rufbereitschaft“ auch die Vergütung der Rufbereitschaft regelt.
4
In § 17 ist unter der Überschrift „Sonderzahlungen“ in Ziffer 1 geregelt:
„Die Arbeitnehmer erhalten ein Weihnachtsgeld in Höhe von 100% des für den Monat November maßgeblichen Tarifgehaltes zuzüglich regelmäßig wiederkehrender Zulagen. Sonstige Vergütungen (z. B. §§ 13, 14 MTV) bleiben unberücksichtigt…“ (Bl. 24 d. A.).
5
Die Klägerin erhielt mit der Abrechnung für November 2018 ein Weihnachtsgeld in Höhe ihres Grundgehalts zuzüglich der tariflichen Besitzstandszulage, insgesamt 2079,06 €; das Monatsgehalt November 2018 umfasste darüber hinaus die regelmäßig gezahlte Nephrologie-Zulage in Höhe von 30,00 €, entsprechend der Teilzeitbeschäftigung der Klägerin mit 60% der regelmäßigen Arbeitszeit (Gehaltsabrechnung Bl. 36 d. A.).
6
Nach Geltendmachung seitens der Klägerin lehnte die Beklagte die Forderung mit Schreiben vom 4.12.2018 und 28.2.2019 (Bl. 35 u. 36 d. A.) ab.
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Die Klägerin ist der Auffassung, dass die regelmäßig wiederkehrende Nephrologie-Zulage entsprechend dem Wortlaut des § 17 Ziffer 1 S. 1 MTV bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes mit einzubeziehen sei.
8
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
Die Beklagte wird verurteilt, weitere 30,00 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1.12.2018 an die Klägerin zu zahlen.
9
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10
Der Beklagte ist der Auffassung, dass § 17 Ziffer 1 S. 2 des MTV lex specialis zu § 17 Ziffer 1 S. 1 MTV sei. Hierfür spreche der Wortlaut der Regelung, wonach sonstige Vergütungen, wie diejenigen in § 13 MTV, unberücksichtigt bleiben. Die systematische Auslegung trage das Wortlautergebnis. Danach seien nämlich nur diejenigen regelmäßig wiederkehrenden Zulagen zu berücksichtigen, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tarifgehalt gemäß § 12 Ziffer 1 und Ziffer 2 MTV stünden. Die übrigen Zulagen, die zum Beispiel an besondere Arbeitsbedingungen anknüpfen würden, blieben ausgeschlossen. Die Tarifgeschichte zeige, dass diese systematische Unterscheidung bereits bei Einführung der Nephrologie-Zulage bestanden habe und diese in die bestehende Systematik kohärent eingepasst worden sei. Dieses Auslegungsergebnis spiegele sich auch in der gelebten Tarifpraxis wider.
11
Systematisch hätten die Tarifvertragsparteien mit der Regelung in Satz 2 in § 17 Ziffer 1 MTV nämlich erreichen wollen, dass nur bestimmte regelmäßig wiederkehrende Zulagen bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes berücksichtigt werden, nämlich außer- und übertarifliche Zulagen der Mitarbeiter, die persönliche Zulage nach § 12 Ziffer 3 MTV sowie die Besitzstandszulage gemäß § 31 MTV. Demgegenüber würden die mit Satz 2 des § 17 Ziffer 1 MTV ausgeschlossenen Zulagen aus §§ 13, 14 MTV andere Zwecke verfolgen, in dem sie an besondere persönliche Merkmale oder Arbeitsbedingungen anknüpfen würden. Auch die Nephrologie-Zulage knüpfe nicht an die tarifliche Eingruppierung, sondern an ein persönliches Merkmal an und reihe sich somit konsistent in diese Systematik ein. Selbst wenn man davon ausginge, dass Satz 2 des § 17 Ziffer 1 MTV die allgemeinere Vorschrift sei und die Tarifvertragsparteien eine redundante Norm schaffen hätten wollen, sei die Anordnung eindeutig, dass Vergütungsbestandteile aus §§ 13, 14 MTV nicht bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes zu berücksichtigen seien. Diese Regelung besage klarstellend, dass Zahlungen nach diesem Paragraphen nicht in die Berechnung des Weihnachtsgeldes einzubeziehen seien. Diesem Auslegungsergebnis entspreche auch die gelebte Tarifpraxis, wonach zum Beispiel die Springerzulage und die Wechselschichtzulage nicht berücksichtigt würden.
12
Auch beim „unbefangenen Durchlesen der Regelung“ sei es offensichtlich näherliegend, die Nephrologie-Zulage nicht bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes zu berücksichtigen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.1.2020 verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.
14
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zahlung von weiteren 30,00 € brutto als Weihnachtsgeld 2018 aus § 17 Ziffer 1 Satz 1 MTV zu.
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1. Gemäß § 17 Ziffer 1 Satz 1 MTV sind die regelmäßig wiederkehrenden Zulagen bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes zu berücksichtigen. Nach Satz 2 bleiben die sonstigen Vergütungen „z. B. §§ 13, 14 MTV“, unberücksichtigt. Der Klägerin wird wegen ihrer Qualifikation regelmäßig die Nephrologie-Zulage gezahlt, deren Rechtsgrundlage in § 13 Ziffer 9 MTV geregelt ist. Angesichts dieses Widerspruchs in § 17 Ziffer 1 Satz 1 und 2 MTV ist der wirkliche Wille der normativen Regelung durch Auslegung zu ermitteln.
16
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages dem für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dies Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfrei Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, Urteil vom 22.04.2010, 6 AZR 962/08, NZA 2011, 1293 Rn. 17).
17
2. Die 8. Kammer des Arbeitsgerichtes Augsburg schließt sich der Entscheidung der 54. Kammer des Arbeitsgerichtes D-Stadt vom 26.08.2019, AZ 54 Ca 4990/19 (derzeit Berufungsverfahren beim LAG D-Stadt-Brandenburg) an. Auf die dortige Begründung, die den Parteien bekannt ist, wird verwiesen.
18
Ergänzend: Nach § 17 MTV ist entscheidend, dass „regelmäßig wiederkehrende Zulagen“ hinzugerechnet werden; „sonstige Vergütungen bleiben unberücksichtigt“. Beide Sätze regeln im „Zusammenspiel“, welche tariflichen Zahlungen beim Weihnachtsgeld erfasst sein sollen und welche nicht. Ohne Klammerzusatz ist das Ergebnis eindeutig, da die Nephrologie-Zulage eine regelmäßig wiederkehrende Zulage ist (so auch Arbeitsgereicht D-Stadt, Urteil vom 31.07.2019, AZ 55 Ca 4991/19). Der Klammerzusatz wiederum alleine („z. B. §§ 13,14 MTV“) ergebe gar keinen Sinn. Es handelt sich damit lediglich um eine Beispielaufzählung, um deutlich zu machen - vgl. auch die Überschriften der §§ 13, 14 MTV - was unter sonstigen Vergütungen verstanden werden kann.
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Das vom Beklagten gewünschte Ergebnis hätte dagegen auch eindeutig geregelt werden können; nämlich „Die in §§ 13, 14 MTV aufgeführten sonstigen Vergütungen bleiben unberücksichtigt“. Nur in diesem Fall würde es sich um eine speziellere Norm handeln.
20
Im Übrigen bleibt es den Tarifvertragsparteien unbenommen, entsprechend § 31 Ziffer 6 MTV in § 13 Ziffer 9 MTV zu regeln, ob die Zulage hinzugerechnet wird oder nicht. Ohne eindeutige Regelung wird es Auslegungsstreitigkeiten und unterschiedliche Instanzentscheidungen geben; jedenfalls bis der „Ober“ sticht (frei nach der bayerischen Schafkopfregel „Ober sticht Unter“).
B.
21
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 91 ZPO.
C.
22
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 61 I ArbGG.
D.
23
Die Berufung war gemäß § 64 III Ziffer 2 b ArbGG zuzulassen.
24
Deshalb ist gegen diese Entscheidung für den Beklagten das Rechtsmittel der Berufung an das Landesarbeitsgericht München statthaft. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die nachfolgende Rechtsmittelbelehrungverwiesen.