Titel:
Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen
Normenketten:
GG Art. 6
EMRK Art. 8
AufenthG § 11, § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 9
ARB 1/80 Art. 7 S. 1, Art. 13
Leitsätze:
1. Eine Gefahr iSd § 53 Abs. 3 AufenthG liegt vor, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an den geschützten Rechtsgütern eintreten wird, namentlich mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen ist. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es spricht viel dafür, § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen analog anzuwenden. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Stellung als „faktischer Inländer“ verhindert die Ausweisung jedoch nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall. (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, Faktischer Inländer, Deutsches Kind (kein nachgewiesener Kontakt), assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, faktischer Inländer, deutsches Kind (kein nachgewiesener Kontakt)
Fundstelle:
BeckRS 2020, 43889
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland durch den Beklagten.
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Er wurde am ... in … geboren und ist türkischer Staatsangehöriger. Der Vater, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, arbeitet seit dem ... März 1991 als Angestellter bei der F-GmbH. Die Mutter des Klägers verstarb im Jahr 2010. Der Kläger hat zwei jüngere Brüder, die wie der Kläger beim Vater wohnen.
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Der Kläger schloss die Hauptschule im Jahr 2010 mit dem Hauptschulabschluss ab. Zuvor besuchte er von 2008 bis 2010 auch das Internat des Islamischen Zentrums in …, von dem er wegen Problemen abgehen musste. Im Anschluss besuchte er die Berufsschule, ab dem 3. September 2012 war er im Rahmen einer Einstiegsqualifizierung im Ausbildungsberuf Fahrzeuglackierer in einer Kfz-Werkstatt beschäftigt. Eine Übernahme erfolgte nicht, der Kläger kündigte selbst. Ab dem 26. August 2013 war er für ca. zwei Monate als Produktionshelfer bei einem Personaldienstleister angestellt. Vom 1. Juni 2016 bis zur Inhaftierung am 6. August 2018 war der Kläger bei der F-GmbH als Mitarbeiter in der Produktion in Vollzeit beschäftigt.
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Aus einer beendeten Beziehung ging der am … … 2017 geborene Sohn des Klägers hervor, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Der Kläger hatte nach eigenen Angaben im Schreiben vom … November 2019 seit seiner Inhaftierung keinen Kontakt mehr zur Kindsmutter und zum Sohn. Die Stadt … teilte dem Beklagten mit Schreiben vom 31. März 2020 mit, dass der Kläger als Vater eingetragen sei, eine Sorgeerklärung sei nicht abgegeben worden. Die Kindsmutter erhalte für den Sohn Unterhaltsvorschussleistungen, der Kläger habe noch nie Unterhalt an die entsprechende Stelle bezahlt. Nach den Angaben der Kindsmutter habe der Kläger in den ersten drei Monaten nach der Geburt Kontakt zum Sohn gehabt. Danach sei er ihr gegenüber gewalttätig geworden; seitdem habe es keinen Kontakt mehr gegeben. Die Kindsmutter und der Sohn hätten weder Kontakt zum Kläger noch zu dessen Familie. Der Kläger habe in den ersten Monaten teilweise Unterhalt bezahlt, später nicht mehr. Nach Einschätzung der Stadt … sei es zwar grundsätzlich möglich, eine Sorgeerklärung aus der Haft heraus abzugeben, diese sei aber nur mit Zustimmung der Mutter wirksam. Unter den gegebenen Umständen erscheine auch eine Klage wegen des Sorgerechts wenig aussichtsreich.
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Der Kläger war zuletzt bis zum 23. November 2018 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2 AufenthG. Eine Verlängerung darüber hinaus wurde nicht beantragt.
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Der Kläger ist wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
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1. Amtsgericht … - Jugendgericht - vom … Mai 2011, rechtskräftig seit 31. Mai 2011: Freizeitarrest und 40 Std. Sozialdienst wegen gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Führens einer verbotenen Waffe. Hintergrund war, dass der Kläger am … Februar 2011 mit einem anderen den Geschädigten an einer Bushaltestelle von hinten ansprang und mit Fäusten schlug. Am ... März 2011 war der Kläger im Besitz eines Schlagringes, den er außerhalb der eigenen Wohnung mit sich führte.
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2. Ein Verfahren wegen zweifachen Diebstahls und Unterschlagung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts … … … vom … Januar 2012 nach § 47 JGG eingestellt.
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3. Amtsgericht ... vom … Oktober 2013, rechtskräftig seit dem gleichen Tag: 40 Std. Sozialdienst wegen versuchter vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger am ... März 2013 versuchte, einem anderen mit der Faust zu schlagen. Die Geschädigte trat dazwischen, wodurch der Kläger diese statt den Anvisierten mit der Faust am Kopf traf. Das Gericht stellte fest, dass der Vater des Klägers nach dem Tod der Mutter mit den drei Söhnen komplett überfordert war, weswegen seit Juli 2010 ein ambulantes Clearing durch die Jugendhilfe stattfand.
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4. Ein Verfahren wegen Körperverletzung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts ... vom … Oktober 2015 nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.
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5. Amtsgericht … vom … Dezember 2016, rechtskräftig seit 30. Dezember 2016: Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen Hausfriedensbruch in Tateinheit mit Sachbeschädigung. Hintergrund war, dass der Kläger am … Oktober 2016 die Tür zur Wohnung der Kindsmutter eintrat, sodass diese nicht mehr verschlossen werden konnte. Im Anschluss betrat er gegen den Willen der Kindsmutter die Wohnung.
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6. Amtsgericht ... vom … Februar 2017, rechtskräftig seit 11. März 2017: Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen wegen Sachbeschädigung. Hintergrund war, dass der Kläger am ... Januar 2017 absichtlich eine Silvesterrakete auf den Balkon des Geschädigten schoss, sodass dort Gegenstände anbrannten.
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7. Amtsgerichts … vom … Juli 2017, rechtskräftig seit 9. August 2017: Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen wegen Diebstahls.
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8. Ein Verfahren wegen Hausfriedensbruch zulasten der Kindsmutter wurde durch Beschluss des Amtsgerichts … vom … November 2017 nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.
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9. Mit Verfügung vom … Juli 2018 stellte die Staatsanwaltschaft … ein Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung nach § 154 Abs. 1 StPO ein.
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10. Ein Strafverfahren wegen versuchter Nötigung und Beleidigung, Bedrohung und Sachbeschädigung wurde mit Beschluss des Amtsgerichts … vom ... Juli 2019 nach § 154 StPO eingestellt. Hintergrund war, dass der Kläger in die Wohnung der Kindsmutter zu gelangen versuchte. Vom Geschädigten A. verlangte er zunächst, ihm die Schlüssel zur Wohnung auszuhändigen und führte dabei einen ca. 50 cm langen Baseballschläger mit sich. Zudem beleidigte er die Kindsmutter und schrie, dass er sie umbringen werde. Beim Versuch, über die Balkontüre in die Wohnung zu gelangen, beschädigte der Kläger die Balkontüre und die Jalousie, beleidigte die Kindsmutter erneut und drohte, dass er sie umbringen werde.
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11. Landgericht … vom … Juni 2019, rechtskräftig seit 26. Juni 2019: Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung.
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Der Verurteilung lag zugrunde, dass eine Zeugin dem Kläger am Abend des … August 2018 erzählte, dass der deutlich ältere Geschädigte ihr Avancen mache. Gegenstand des Gespräches war möglicherweise auch, dass der Geschädigte Drogen an den jüngsten Bruder des Klägers abgab. Der Kläger, der eine Blutalkoholkonzentration von 1,3-2,0 Promille aufwies, forderte den Geschädigten zunächst in aggressiven Ton auf, zu gehen. Als der Geschädigte dem nicht nachkam, ging der Kläger mit diesem um die Ecke. Dort versetzte er dem Geschädigten zunächst vier Ohrfeigen oder Faustschläge, wodurch dieser zu Boden ging. Sodann zog der Kläger ein mit sich geführtes Messer mit einer Klingenlänge von ca. 8 cm und hielt es dem Geschädigten an den Hals. Durch eine willkürliche Bewegung des Geschädigten erlitt dieser eine Schnittverletzung mit einer Länge von ca. 7 cm und einer Tiefe von ca. 1,5-2 cm im linken Halsbereich. Weiter trat der Kläger gegen den Oberkörper des am Boden liegenden Geschädigten. Während der Tatausführung schrie der Kläger mehrmals „Ich stech‘ Dich ab, ich bring Dich um, bleib weg vom …“ und fuchtelte weiterhin mit dem Messer vor dem Geschädigten herum. Nachdem der Kläger vom Geschädigten abließ und dieser aufstehen konnte, schubste der Kläger den Geschädigten noch mehrmals. Der Kläger und der Geschädigte gingen dann zur Straße, wo drei Zeugen auf Bitten des Geschädigten einen Notruf absetzen. Der Kläger übernahm die Gesprächsführung, um der Einsatzzentrale die genaue Örtlichkeit zu nennen. Nach den Feststellungen des Strafgerichts bestand für den Geschädigten keine konkrete Lebensgefahr, bis auf eine Narbe im Halsbereich ist die Verletzung ausgeheilt.
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Zur Beweiswürdigung wurde u.a. ausgeführt, der Kläger sei überwiegend geständig gewesen. Er habe entgegen der ursprünglichen Einlassung indes ein Ansetzen des Messes an den Hals bestritten und nur von einem Herumfuchteln vor dem Geschädigten berichtet, um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen; es sei unbeabsichtigt zu der Schnittverletzung gekommen. Bei dem Messer habe es sich um ein Tapeziermesser gehandelt, das er auch in der Arbeit verwende. Die Einlassung, er habe lediglich mit dem Messer herumgefuchtelt und es nicht am Hals angesetzt, sei durch das Sachverständigengutachten widerlegt worden. Die Einlassung, er habe den Geschädigten nicht mit den Füßen getreten, sei durch Zeugenaussagen widerlegt worden. Das verwendete Messer habe er zuvor den Zeugen gezeigt, diese hätten ausgeschlossen, dass es sich um ein Tapeziermesser gehandelt habe. Auch der Sachverständige habe ausgeführt, dass ein Tapeziermesser nicht geeignet sei, die entsprechenden Verletzungen hervorzurufen.
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Zur inneren Tatseite wurde ausgeführt, der Kläger habe es beim Ansetzen der Klinge zumindest für möglich gehalten, lebensgefährliche Verletzungen herbeizuführen und sich auch billigend damit abgefunden, dass der Geschädigte hierdurch hätte versterben können, habe den Geschädigten aber nicht tatsächlich töten wollen. Das Strafgericht ging, weil der Kläger keine weiteren tödlichen Verletzungshandlungen ausführte und keine konkrete Lebensgefahr bestand, davon aus, dass der Kläger vom Versuch des Totschlags zurückgetreten ist.
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Bei der Strafzumessung wurde zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass er überwiegend geständig und das Geständnis von Schuldeinsicht und Reue geprägt war, dass er sich vor der mündlichen Verhandlung schriftlich und in der mündlichen Verhandlung persönlich beim Geschädigten entschuldigt hat sowie die geringfügige alkoholbedingte Enthemmung (laut dem Sachverständigen lag ein problematischer Alkoholkonsum an der Schwelle zum Alkoholmissbrauch vor, allerdings ohne zeitüberdauernden Kontrollverlust) bei Begehung der Tat. Zudem ist nach Ansicht der Strafkammer eine gewisse Empörung über das Verhalten des Geschädigten berechtigt und nachvollziehbar gewesen. Auch waren vier Vorahndungen nicht einschlägig und die einschlägigen Vorahndungen als Jugendlicher lagen längere Zeit zurück. Ferner wurde der nur spontane Einsatz des Messers zu Gunsten des Klägers berücksichtigt. Zu Lasten des Klägers wurde berücksichtigt, dass er dem Geschädigten erhebliche Verletzungen beigebracht hatte, insgesamt sechs Mal vorbestraft war und insgesamt eine hohe Rückfallgeschwindigkeit zu sehen war. Zudem war zwar nicht der Einsatz des Messers, aber die Körperverletzung des Geschädigten geplant. Aufgrund des geleisteten Täter-Opfer-Ausgleichs nahm das Strafgericht eine Strafrahmenverschiebung vor. Ein Hang, der zur Unterbringung nach § 64 StGB führen würde, wurde verneint.
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Der Kläger befand sich aufgrund des letzten Strafverfahrens seit dem 24. August 2018 in Untersuchungshaft.
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Das Oberlandesgericht München ordnete mit Beschluss vom ... April 2019 die Fortdauer der Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr an. Dabei führte es aus, dass der Kläger zwar einen festen Wohnsitz bei seinem Vater und den beiden Brüdern (damals 14 und 20 Jahre alt) habe und über einen festen Arbeitsplatz verfüge. Zum Sohn bestehe aber kaum mehr Kontakt. Der Kläger habe persönliche Beziehungen in die Türkei, er habe nach seinem Schulabschluss, als die Mutter erheblich krank war und sich in der Türkei aufhielt, sich dort ebenfalls längere Zeit aufgehalten.
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Die Justizvollzugsanstalt (JVA) … teilte mit Schreiben vom 2. Oktober 2019 mit, der Kläger befinde sich dort seit dem 4. Juli 2019. Zur Aufarbeitung der Delinquenz sei die Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training indiziert, der Kläger habe sich bisher nicht für die Teilnahme beworben. Hauptbezugspersonen seien nach eigenen Angaben der Vater und die Brüder. Besuchskontakte hätten noch nicht stattgefunden, eine Aussage über eine stabilisierende Beziehung könne nicht getroffen werden. Zum Sohn habe der Kläger keinen Kontakt. Er sei disziplinarisch nicht aufgefallen, im persönlichen Kontakt sei er offen und freundlich und halte die Hausordnung ein.
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Mit Schreiben vom 20. November 2019 wurde der Kläger zur beabsichtigten Ausweisung aus dem Bundesgebiet angehört.
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Der Kläger führte mit Schreiben vom … November 2019 aus, dass nach seiner Haftentlassung bei der Familie, die noch in der alten Wohnung lebe, bleiben wolle. Ihm sei bewusst, dass es sich einige Male nicht angemessen verhalten habe, er habe seine Fehler eingesehen und zeige Reue. Er könne die Taten nicht rückgängig machen, stehe dafür aber gerade und verbüße seine Strafe. Die Mutter sei im Jahr 2010 an einer schweren Krankheit verstorben, die Familie habe es nicht leicht gehabt. Die Familie hätte mentale Stärke beweisen müssen, um diese schwierigen Zeiten zu überwinden. Sie hätten niemanden gehabt und seien auch nicht auf Hilfe angewiesen gewesen. Für den Anfang 2017 geborenen Sohn habe er die Vaterschaft anerkannt und sich um ihn gekümmert. Das Sorgerecht sei bis heute ungeklärt. Zwar sei ein Termin vereinbart gewesen, allerdings sei er dann inhaftiert worden. Aus der Haft heraus habe er keinen Kontakt zur Kindsmutter aufnehmen können, wolle allerdings alles dafür tun, um die Beziehung zu seinem Kind aufrechtzuerhalten. Durch die Schwangerschaft der Kindsmutter sei er zu dem Entschluss gekommen, sein Leben zu ändern. Er habe sich bei der F-GmbH beworben und habe eine Festanstellung gehabt. Auch im Privatleben habe er Fortschritte gemacht. Zur Anlasstat führte er aus, dass er von den Nachbarskindern zu Hilfe gerufen worden sei, da sie von zwei unbekannten, unter Drogen stehenden, erwachsenen Männern stark belästigt worden seien. Er habe nur die Minderjährigen schützen wollen und sei deswegen dazwischen gegangen. Noch bevor er ein aufklärendes Gespräch habe suchen können, sei er von dem Fremden angegriffen worden, dadurch habe er sich erst recht gezwungen gefühlt, handeln zu müssen. Er respektiere die deutsche Kultur und das Gesetz, trotz seiner negativen Voreinträge sei er kein falscher Typ und fühle sich als Teil der Gesellschaft. Er erreiche bald das Alter von 25 Jahren und sei bis dato kaum außerhalb der Bundesrepublik gewesen. Sein Herkunftsland und seine Muttersprache seien ihm nur durch Urlaubsbesuche von früher bekannt. Seit dem Verlust seiner Mutter sei er auch nicht mehr im Ausland gewesen. Er habe keinen Bezug in die Türkei und auch dort keine Anknüpfungspunkte. Im Falle einer Ausweisung habe er keine Perspektiven und wisse nicht, wie er seine Zukunft gestalten könne. Er wolle sein Leben vernünftig führen, er beherrsche die deutsche Sprache und habe einen Schulabschluss. Er sei Vater eines Kindes und habe seine Familie im Bundesgebiet, für die er auch gerne sorgen wolle. Für die Zeit nach seiner Entlassung könne er einen Wohnsitz und einen Arbeitsplatz vorweisen.
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Mit Schreiben vom 16. April 2020 führte die Stadt … nochmals aus, dass der Kläger als Vater des am … … 2017 geborenen Sohnes eingetragen sei. Ob die Abgabe einer gemeinsamen Sorgeerklärung bevorgestanden habe oder geplant gewesen sei, sei nicht bekannt. Über den tatsächlichen Umgang lägen keine Informationen vor. Die Kindsmutter erhalte derzeit Unterhaltsvorschussleistungen. Im Rahmen der Beistandschaft habe bisher kein Unterhalt geltend gemacht werden können, dies sei sowohl an der mangelnden Kooperation des Klägers als auch an der mangelnden Mitwirkungsbereitschaft der Kindsmutter gescheitert. Die Beurkundung der gemeinsamen Sorge sei grundsätzlich nicht ortsgebunden. Da der Kläger derzeit in der JVA untergebracht sei und die Einrichtung nicht verlassen dürfe, müsse mit der JVA und dem ansässigen Jugendamt oder Notar abgeklärt werden, ob die Beurkundung der Sorgeerklärung auch in den Räumlichkeiten der JVA durchgeführt werden dürfe.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 20. April 2020 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheides). Die Abschiebung aus der Haft nach erfolgtem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht in die Türkei oder einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf und der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, wurde angekündigt (Nr. 2 des Bescheides). Für den Fall der Haftentlassung vor Durchführung der Abschiebung wurde dem Kläger eine Ausreisefrist von 14 Tagen nach Haftentlassung gesetzt; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 3 des Bescheides). Die Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland wurde für vier Jahre, beginnend mit der Ausreise aus dem Bundesgebiet, untersagt (Nr. 4 des Bescheides).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe mit seinem gesamten bisherigen Verhalten wiederholt erheblich gegen die geltende Rechtsordnung verstoßen. Seine Straffälligkeit gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Der Kläger sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG privilegiert, da er jedenfalls nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht habe. Nach § 53 Abs. 3 AufenthG dürfe er daher nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich sei. Ein besonders schwerwiegender, die Ausweisung rechtfertigender Grund liege regelmäßig dann vor, wenn der Aufenthalt trotz des besonderen Status nicht länger hingenommen werden könne. Beim Kläger liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, da er mit Urteil vom … Juni 2019 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden sei. Ausweislich des Bundeszentralregisters habe der Kläger seit 2011 fortgesetzt Straftaten verübt. Nach den Ausführungen des letzten Strafurteils habe beim Kläger ein gelegentlicher Konsum von Speed und Kokain festgestellt werden können. Die Kriterien eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG lägen aber wohl nicht vor. Im Rahmen des Bleibeinteresses sei zu berücksichtigen, dass der Kläger in … geboren sei und seit seiner Geburt durchgehend im Bundesgebiet gelebt habe. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG könne indes nicht zugestanden werden, da der Kläger sich seit dem 23. November 2018 nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befinde. Gleichzeitig könne sich der Kläger allerdings auf den erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG berufen. Im Rahmen der Abwägung sei der Beklagte zu dem Ergebnis gekommen, dass der erhöhte Ausweisungsschutz einer Ausweisung nicht entgegenstehe. Das Ausweisungsinteresse wiege aufgrund der strafrechtlichen Verurteilungen besonders schwer, der Kläger sei bereits als Jugendlicher bzw. Heranwachsender mehrfach strafrechtlich erheblich in Erscheinung getreten. Der Kläger zeige eine hohe Rückfallgeschwindigkeit und sei in kurzen Abständen erneut straffällig geworden. Bei den Bleibeinteressen sei zu berücksichtigen, dass der Kläger zwar Vater des am … … 2017 geborenen Kindes sei, nach den vorliegenden Informationen seitens der Kindsmutter habe sich der Kläger jedoch nur in den ersten drei Lebensmonaten um das Kind gekümmert. Der Kontakt sei etwa im Mai 2017 abgebrochen, das Sorgerecht habe der Kläger für das Kind zu keinem Zeitpunkt ausgeübt. Auch lasse sich festhalten, dass es im Juni 2017 einen Vorfall in der Wohnung der Kindsmutter gegeben habe, auch am … September 2017 habe es einen weiteren Polizeieinsatz gegeben, da der Kläger in die Wohnung der Kindsmutter eingedrungen sei. Am ... Juli 2018 sei der Kläger, bewaffnet mit einem ca. 50 cm langen, hölzernen Baseballschläger, mit dem neuen Lebensgefährten der Kindsmutter in Streit gekommen und habe auch die Kindsmutter beleidigt und bedroht sowie die Balkontüre und Jalousie beschädigt. Nach Einschätzung des Jugendamtes sei es nicht wahrscheinlich, dass die Kindsmutter einer gemeinsamen Sorgeerklärung zustimmen würde. Aus Sicht des Beklagten sei es auch nicht zu erwarten, dass dem Kläger angesichts der genannten Vorfälle das gemeinsame Sorgerecht gerichtlich zugesprochen würde. Auch nach Haftentlassung werde der Kläger daher aller Voraussicht nach nicht das Sorgerecht und keinen bzw. nur eingeschränkten Umgang mit dem Sohn erhalten. Auch sei festzuhalten, dass der Kläger länger als ein Jahr vor der Inhaftierung am 23. August 2018 keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn gehabt habe. Die Vater-Kind-Beziehung sei bereits vor der längerfristigen Inhaftierung nicht mehr intakt gewesen. Auch habe der Kläger wohl seit langem keinen Unterhalt mehr gezahlt, obwohl er in Vollzeit gearbeitet habe und demnach ausreichend finanzielle Möglichkeiten zur Leistung des Unterhalts zur Verfügung gestanden hätten. Insgesamt liege keine Verantwortung- bzw. Beistandsgemeinschaft vor. Eine in der Gesetzesbegründung genannte tatsächlich gelebte Nähebeziehung, d. h. ein tatsächliches Kümmern um den deutschen Minderjährigen, sei nicht ersichtlich. Die persönlichen Interessen des Klägers würden von Art. 8 EMRK, Art. 6 GG und Art. 7 GrCh geschützt. Der Eingriff in Art. 8 EMRK sei aufgrund der Art und Schwere der begangenen Straftaten gerechtfertigt. Die verwandtschaftlichen bzw. familiären Beziehungen zum Vater und den Geschwistern seien nur nachrangig zu berücksichtigen, da der Kläger bereits volljährig sei. Den Bindungen zu sonstigen Familienangehörigen komme schon deshalb nicht mehr das gleiche Gewicht zu. Anhaltspunkte dafür, dass einer seiner Angehörigen in gesteigertem Maße auf die Anwesenheit des Klägers angewiesen sei, seien nicht ersichtlich. Da keine zu schützende Vater-Kind-Beziehung zum deutschen Minderjährigen betroffen sei, stehe auch dies der Aufenthaltsbeendigung nicht entgegen. Eine solche stelle für das Kind auch bei einer längerfristigen räumlichen Trennung zunächst keinen Unterschied dar, die räumliche Trennung und der fehlende persönliche Kontakt seien schon seit langer Zeit gegeben. Der Kläger sei im Zeitraum zwischen 2011 und 2018 insgesamt sechs Mal verurteilt worden, weitere 15 strafrechtliche Ermittlungsverfahren seien ebenfalls in diesen Zeitraum gefallen. Der Kläger habe sich bei der letzten Tatbegehung in geregelten Arbeits-, Wohn- und Familienverhältnissen befunden, was ihn nicht davon abgehalten habe, die schwere Straftat zu begehen. Dass der Kläger nach Haftentlassung wieder in das gewohnte Umfeld zurückkehren könne, mindere die Wiederholungsgefahr nicht, da dieses Umfeld ihn auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung der genannten Straftaten habe abhalten können. Es sei auch zu befürchten, dass alte Konflikte und problematische Strukturen wieder aufleben würden. Der Kläger habe bereits mehrfach Körperverletzungsdelikte begangen. Insgesamt sei es zu drei einschlägigen Verurteilung gekommen, die sich in der Intensität und Schwere gesteigert hätten. An einem Anti-Gewalt-Training habe der Kläger, trotz Indizierung, zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht teilgenommen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass sich der Kläger jemals intensiv mit der fortgesetzten Straffälligkeit und der gesteigerten Aggressivität auseinandergesetzt habe. Auch wenn der Kläger im Strafprozess geständig gewesen sei und dieses Geständnis nach den Feststellungen des Strafgerichts von Schuldeinsicht und Reue geprägt gewesen sei, sei festzuhalten, dass der Kläger sowohl das Ansetzen des Messers am Hals des Geschädigten als auch die Tritte gegen den am Boden liegenden Geschädigten bestritten habe. Dies alles zeuge gerade nicht von einer gebotenen Einsicht und Umkehr des delinquenten Verhaltens. In der Gesamtbetrachtung sei nicht davon auszugehen, dass beim Kläger ein umfassender Sinneswandel stattgefunden habe. Die vorhergehenden Verurteilungen zu Geldstrafen habe sich der Kläger nicht zur Warnung dienen lassen. Insgesamt bestehe beim Kläger auch nach einer Haftentlassung weiterhin die Gefahr der erneuten Begehung schwerer Straftaten. Ohne eine intensivere Auseinandersetzung mit der Delinquenz sei nicht davon auszugehen, dass nach Haftentlassung eine grundlegende Persönlichkeitswandlung vollzogen werde. Die Ausweisung sei auch im Ergebnis verhältnismäßig. Auch wenn der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen sei und hier seine soziale und gesellschaftliche Prägung erfahren habe, sei ihm eine Verweisung auf ein Leben in der Türkei nicht unzumutbar. Er habe sich in den Jahren 2008-2010 im Internat des Islamischen Zentrums in … befunden. Es sei daher anzunehmen, dass ihm sowohl die türkische Sprache als auch die türkisch-islamische Mentalität hinreichend bekannt seien. Er entstamme einem türkisch-islamischen Elternhaus und habe zudem eine dreijährige Sozialisierung und Erziehung in einem islamisch geprägten Umfeld erhalten. Nach den Feststellungen der Strafgerichte habe sich der Kläger nach dem Schulabschluss, damals noch als Minderjähriger, für längere Zeit in der Türkei aufgehalten. Es sei davon auszugehen, dass er persönliche Beziehungen und Kontakte in die Türkei habe. Die Aufbesserung und Vervollständigung etwaiger rudimentärer Kenntnisse der türkischen Sprache sei zumutbar. Eine soziale und wirtschaftliche Integration in der Türkei sei für den Kläger als jungen Mann ohne weiteres möglich und zumutbar. Hierbei könne er sich auch der in Deutschland erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten bedienen. Auf eine Unterstützung durch die Familienangehörigen sei der Kläger als volljähriger und gesunder Mann nicht angewiesen, eine finanzielle Unterstützung sei beispielsweise auch durch Überweisung von Geldmitteln möglich. Das Kontakthalten mit Bekannten und Verwandten in Deutschland sei über moderne Kommunikationsmittel aus der Türkei jederzeit problemlos möglich. Insgesamt bestehe eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und dem nur durch die Ausweisung des Klägers und der sich daran anschließenden Abschiebung aus dem Bundesgebiet wirkungsvoll begegnet werden könne. Bei der Anlasstat habe der Kläger das Opfer erheblich verletzt und den Todeseintritt zumindest billigend in Kauf genommen. Die körperliche Unversehrtheit nehme in der Hierarchie der Grundrechte einen sehr hohen Rang ein und löse staatliche Schutzpflichten aus. Der Schutz der Bevölkerung vor Körperverletzungsdelikten stelle ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, insbesondere die mehrfache Begehung derartiger Körperverletzungsdelikte begründe daher eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für das Grundinteresse der Gesellschaft an der körperlichen Integrität. Der Kläger habe sich in der Vergangenheit nicht einsichtig gezeigt, das bei ihm bestehende Aggressionsproblem sei aus Sicht des Beklagten nicht ausreichend therapeutisch bearbeitet, geschweige denn, dass sich der Kläger in Freiheit bewährt habe. Hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots erscheine eine Befristung auf vier Jahre angemessen. Angesichts der beschriebenen Gefahr der Begehung erneuter Straftaten und der persönlichen Bindungen nach Deutschland erscheine ein vierjähriges Betretensverbot als geeignet, den mit der Ausweisung verfolgten Zweck zu erreichen. Eine zeitnähere Befristung würde den Ausweisungszweck vollkommen verfehlen.
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Der Kläger hat durch seinen Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom … Mai 2020, am 20. Mai 2020 bei Gericht eingegangen, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben mit dem Antrag,
den Bescheid des Beklagten vom 20. April 2020 aufzuheben.
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Der Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger zumindest seinen Rechten aus Art. 8 EMRK und Art. 6 GG.
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Die JVA … führte gegenüber der Staatsanwaltschaft … mit Schreiben vom 6. Februar 2020 aus, der Kläger komme in der Schlosserei seinen täglichen Arbeitspflichten nach. Disziplinarisch sei er bisher nicht aufgefallen, im persönlichen Kontakt trete er offen und freundlich auf und sei in der Einheit gut integriert. Er könne mit negativen Entscheidungen angemessen umgehen und halte sich an Absprachen. Zur Bearbeitung der Delinquenz sei die Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training indiziert, für eine Teilnahme habe er sich beworben. Vor dem Hintergrund der unbehandelten Gewaltproblematik spreche sich die JVA derzeit gegen eine Bewährungsentlassung aus. Gegenüber der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … beim Amtsgericht … wurde mit Schreiben vom 9. Juli 2020 ausgeführt, dass dem Kläger eine disziplinarisch unauffällige Führung sowie eine gute Mitarbeit bescheinigt werden könne. Seit dem 12. März 2020 nehme er zur Aufarbeitung seiner Delinquenz am Anti-Gewalt-Training teil, die letzte Sitzung werde voraussichtlich am 23. Juli 2020 stattfinden. Nach Abschluss der Behandlungsmaßnahmen werde eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung seitens der Vollzugsbehörde befürwortet, nach der Entlassung solle dem Kläger ein hauptamtlicher Bewährungshelfer zur Verfügung gestellt werden.
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Mit Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … am Amtsgericht … vom … Juli 2020 wurde die Vollstreckung des letzten Drittels der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und eine Bewährungszeit von vier Jahren festgesetzt. Zudem wurde er für die Dauer von drei Jahren der Bewährungshilfe unterstellt. Der Kläger habe bei seiner Anhörung einen geläuterten Eindruck gemacht, habe in der JVA durchgehend gearbeitet und das Behandlungsprogramm genutzt.
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Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 31. August 2020,
die Klage kostenpflichtig zurückzuweisen.
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Er führte mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2020 aus, dass nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs eine strafrechtliche Aussetzungsentscheidung die ausländerrechtliche Prognoseentscheidung weder zwangsläufig noch regelmäßig entfallen lasse. Maßgeblich sei vielmehr, ob der Ausländer im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen könne. Die Ausländerbehörde betrachte dabei einen längeren Zeitraum als die Strafvollstreckungskammer. Hierzu werde die gesamte persönliche Situation des Ausländers mit allen stabilisierenden und destabilisierenden Faktoren nach einer Haftentlassung beachtet. Aus Sicht des Beklagten habe sich der Kläger wohl erst in Befürchtung einer negativen ausländerrechtlichen Entscheidung zur Teilnahme am Anti-Gewalt-Training entschieden. Es bestehe daher Anlass zur Annahme, dass beim Kläger keine glaubhaften intrinsischen Motive zur Teilnahme an einem solchen Training bestanden haben. Es könne daher nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass die dort vermittelten Fertigkeiten und Verhaltenstipps außerhalb der Hafteinrichtung eine tiefergehende Stabilisierung des Klägers herbeigeführt hätten und ihn dauerhaft bzw. längerfristig von der Begehung weiterer Straftaten abhalten können.
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In der mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 2020 erklärte der Kläger, er habe am Tag zuvor seinen Sohn besucht. Dies sei nicht früher möglich gewesen, da er zunächst den Kontakt zur Kindsmutter wieder habe herstellen müssen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg.
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I. Der Bescheid des Beklagten vom 20. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO.
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1. Die Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland ist rechtmäßig.
41
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch den Beklagten getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 12).
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a) Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Klägers ist § 53 Abs. 1 bis 3 Aufenthaltsgesetz - AufenthG.
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aa) Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
44
Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
45
Dem Kläger kommt jedenfalls ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, da sein Vater seit dem Jahr 1991 durchgehend als Arbeitnehmer bei der F-GmbH beschäftigt ist und der Kläger mehr als drei Jahre mit seinem Vater in häuslicher Gemeinschaft lebte. Das einmal erworbene assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht ist auch weder durch die erreichte Volljährigkeit des Klägers noch durch die Inhaftierung entfallen (vgl. EuGH, U.v. 7.7.2005 - C-373/03 - NVwZ 2005, 1292).
46
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige auch mit Blick auf Art. 13 ARB 1/80 (sog. Stillhalteklausel) keine Bedenken bestehen, weil sich die materiellen Anforderungen, unter denen diese Personen ausgewiesen werden dürfen, nicht zu ihren Lasten geändert haben und jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 28; B.v. 13.5.2016 - 10 ZB 15.492 - juris Rn. 14; B.v. 11.7.2016 - 10 ZB 15.837 - Rn. 11 jeweils m.w.N.).
47
bb) Es liegt eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vor.
48
Eine Gefahr liegt vor, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an den geschützten Rechtsgütern eintreten wird, namentlich mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen ist (Bauer/Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 53 AufenthG Rn. 26). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit ist nicht gleichbedeutend mit einer „gegenwärtigen Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts. Der Eintritt eines Schadens muss nicht sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten sein. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit oder Ordnung beeinträchtigen wird (Fleuß in: BeckOK AuslR, Stand: 1.1.2021, § 53 AufenthG, Rn. 116). Das Bestehen einer derartigen Wiederholungsgefahr kann nicht gleichsam automatisch bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung geschlossen werden. Die Beurteilung, ob Art und Schwere des persönlichen Verhaltens des Drittstaatsangehörigen die Annahme einer Gefahr neuerlicher erheblicher Verfehlungen begründen, bedingt vielmehr stets eine unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und eine daran anknüpfende aktuelle Gefährdungsprognose. Dabei sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begangen werden, und was ggf. aus einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt (BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris Rn. 26).
49
Aufgrund der Formulierung in § 53 Abs. 3 AufenthG, dass das persönliche Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr darstellen muss, ist nur eine spezialpräventiv begründete Ausweisung zulässig. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 - 1 C 21/00 - juris Rn. 22). Bei der insoweit anzustellenden Gefahrenprognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 33 m.w.N.). Dabei gilt für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - juris Rn. 16 m.w.N.). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O. Rn. 18).
50
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus.
51
Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers wegen gefährlicher Körperverletzung am … Juni 2019. Der abgeurteilten Tat ging zwar voraus, dass der Geschädigte sich einer Jugendlichen der Wohnsiedlung des Klägers aufdrängte und im Verdacht stand, an den jüngeren Bruder des Klägers Drogen abgegeben zu haben. Dies vermag jedoch die vom Kläger verübte Selbstjustiz nicht ansatzweise zu rechtfertigen. Anstatt die Polizei zu informieren, schlug der Kläger den Geschädigten mehrmals und hielt ihm ein mitgeführtes Messer an den Hals, wodurch der Geschädigte infolge einer Eigenbewegung eine erhebliche Schnittverletzung am Hals erlitt. Der Kläger nahm dabei auch einen tödlichen Ausgang billigend in Kauf. Anstatt vom Geschädigten sofort abzulassen, trat und schubste der Kläger diesen noch mehrmals und fuchtelte weiter mit dem Messer herum. Zwar nahm der Kläger davon Abstand, dem Geschädigten weitere tödliche Verletzungen zuzufügen. Auch wenn man die alkoholbedingte Enthemmung des Klägers berücksichtigt, ist die Brutalität der Tatausführung jedoch mehr als beachtlich. Auch ist zu sehen, dass der Kläger bereits mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten sowie Nötigung in Erscheinung getreten ist. Auch bei diesen Taten zeigte er jeweils ein erhebliches Aggressionspotential und ließ diesem auch gegenüber der Mutter seines Sohnes freien Lauf. Der Kläger wies in der Vergangenheit eine erhebliche Rückfallgeschwindigkeit auf, seit dem Jahr 2011 verging nahezu kein Jahr, ohne dass strafrechtliche Verfahren - wenn auch teilweise aus Opportunitätsgründen eingestellt - gegen den Kläger anhängig waren. Insgesamt wurde der Kläger sechsmal verurteilt. Weder die Strafverfahren noch die vorangegangenen Verurteilungen haben den Kläger nachhaltig beeindruckt und von der Begehung der Anlasstat abgehalten. Hinzu kommt, dass der Kläger nach Haftentlassung in das gleiche Umfeld zurückgekehrt ist, in dem er zuvor erheblich straffällig geworden ist. Die Anbindung an seine Familie konnte ihn auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abhalten. Auch die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung durch Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … beim Amtsgericht … vom … Juli 2020 stellt die Annahme einer sicherheitsrechtlichen Gefahr nicht durchgreifend in Frage. Diese stellte insbesondere auf den geläuterten Eindruck ab, den der Kläger machte. Dieser Einschätzung vermag sich die Kammer aufgrund der im Anhörungsverfahren erfolgten Relativierung der Tat, dass er angegriffen worden sei, und nach dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck nicht anzuschließen. Das abgeschlossene Anti-Gewalt-Training geht zur Überzeugung der Kammer nicht auf eine intrinsische Motivation zurück. Denn der Kläger hat sich erst nach der erfolgten Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung angemeldet. Darüber hinaus hat er bisher nicht bewiesen, dass er auch außerhalb des geschützten Haftraums Konflikte ohne Gewalt lösen kann. Angesichts der bedrohten hochrangigen Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit sind auch geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Schadenseintritts zu stellen. In der Gesamtschau ist weiterhin von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen.
52
Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist jedenfalls berührt bei der Gefahr von erheblichen oder schweren Straftaten, wie etwa von Gewalt- oder Sexualdelikten oder Eigentums- oder Vermögensdelikten von nicht nur unerheblichem Ausmaß (Katzer in: BeckOK MigR, 5. Ed. 1.7.2020, § 53 AufenthG Rn. 72). Dies ist beim Kläger, der wegen einer erheblichen Gewaltstraftat verurteilt wurde, der Fall. Hinzu kommt, dass der Kläger nicht einmal davor zurückschreckt, den tödlichen Ausgang seiner Körperverletzungshandlungen billigend in Kauf zu nehmen, so dass auch schwerwiegendere Folgen nicht auszuschließen sind.
53
b) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
54
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner, Nr. 46410/99 - juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 - Boultif, Nr. 54273/00 - InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 - 11 A 892/15 - juris Rn. 24).
55
aa) Es besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a Buchst. b) AufenthG, da der Kläger wegen einer gegen die körperliche Unversehrtheit gerichteten Straftat zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde. Zudem liegt angesichts der Vielzahl strafrechtlicher Verurteilungen auch ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor.
56
bb) Demgegenüber besteht zwar nach dem Wortlaut kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, weil sich der Kläger seit November 2018 nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befunden hat. Allerdings ist der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nach Art. 7 ARB 1/80 kraft Unionsrecht zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt; der nach § 4 Abs. 2 AufenthG auf Antrag auszustellende Aufenthaltstitel hat daher nur deklaratorische Wirkung. Es spricht daher viel dafür, § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auf diese Fälle analog anzuwenden (vgl. VG Sigmaringen, U.v. 12.12.2017 - 4 K 877/17 - BeckRS 2017, 145796 Rn. 37). Jedenfalls ist die Tatsache, dass es sich beim Kläger um einen sog. „faktischen Inländer“ handelt, mit dem entsprechenden Gewicht in die Abwägung einzustellen (s.u.). Daneben besteht ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG, weil die Belange eines Kindes zu berücksichtigen sind. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kommt dagegen nicht in Betracht. Der einmalige Kontakt mit dem Sohn am Tag vor der mündlichen Verhandlung nach mehrjähriger Abwesenheit ist nicht ausreichend, um die Ausübung des Personensorge- oder Umgangsrechts anzunehmen.
57
cc) Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2
58
AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegen die Ausweisungsinteressen die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
59
(1) Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 - juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 - juris - Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 - 2 BvR 1064/08 - juris Rn. 14).
60
(2) Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff wie durch die §§ 53 ff. AufenthG gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, Vor §§ 53-56 Rn. 98 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
61
(3) Der Kläger ist dabei als „faktischer Inländer“ zu behandeln. Als solcher wird ein Ausländer bezeichnet, der sich lange im Bundesgebiet aufgehalten und seine wesentliche Prägung und Entwicklung hier erfahren hat (BayVGH, B.v. 1.2.2017 - 10 ZB 16.1991 - BeckRS 2017, 102469 Rn. 7). Dies ist beim Kläger, der im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist, der Fall. Die Stellung als „faktischer Inländer“ verhindert die Ausweisung jedoch nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi - juris Rn. 53; BayVGH, a.a.O.).
62
(4) Selbst unter den insoweit strengeren Maßstäben stellt sich die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig dar.
63
Der Kläger lebt zwar seit seiner Geburt im Bundesgebiet, hat hier die Schule besucht und abgeschlossen und befand sich vor seiner Inhaftierung - wenn auch noch nicht lange - in einer festen Anstellung. Er hat jedoch keine Berufsausbildung und war als Produktionsmitarbeiter im geringqualifizierten Bereich beschäftigt. Zwar leben der Vater und die Brüder des Klägers im Bundesgebiet. Der Kläger ist als erwachsener Mann jedoch nicht mehr auf den Beistand und die Unterstützung durch seinen Vater und die Brüder angewiesen, umgekehrt ist auch nicht ersichtlich, dass diese zwingend auf den Kläger angewiesen wären. Diesen Bindungen kommt daher kein durchgreifendes Gewicht zu (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 - 10 ZB 19.2235 - BeckRS 2020, 1236 Rn. 7 m.w.N.). Zudem kann der Kläger zu diesen auch mittels moderner Kommunikationsmittel von der Türkei aus Kontakt halten. Zum deutschen Sohn hat der Kläger seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr, für das Kind stellt sich die Abwesenheit des Klägers vielmehr als der Normalfall dar. Dass der Kläger seinen Sohn einen Tag vor der mündlichen Verhandlung besucht haben will, genügt für die Annahme einer schützenswerten Vater-Kind-Beziehung nicht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Vergangenheit nicht einmal seinen Unterhaltspflichten nachgekommen ist und nach Auskunft der Stadt … insoweit auch nicht kooperationsbereit war. Zudem ist zu sehen, dass der Kläger, trotz der Geburt des Kindes, erheblich straffällig geworden ist und auch die Kindsmutter massiv bedrängt hat. Dass sich durch die Schwangerschaft eine grundlegende Änderung seines Lebenswandels eingestellt hatte, ist vor diesem Hintergrund wenig überzeugend. Auch ist es nicht glaubhaft, dass der Kläger die türkische Sprache nicht beherrscht und keinerlei Beziehungen zur Türkei hat. Zum einen ist der Kläger bei seinen in der Türkei geboren Eltern aufgewachsen, die ihm sicherlich auch die türkische Sprache und die türkischen Sitten und Gebräuche vermittelt haben. Nach den Feststellungen des Oberlandesgericht München im Beschluss vom ... April 2019 hat sich der Kläger während der Krankheit der Mutter zudem mehrere Monate in der Türkei aufgehalten. Auch ist er mehrere Jahre auf ein Internat des Islamischen Zentrums in … gegangen. Daher stehen dem Aufbau einer Existenz in der Türkei keine unüberbrückbaren sprachlichen Barrieren entgegen. Auch kulturelle Hürden kann der Kläger mit einiger zumutbarer Anstrengung überwinden und sich in der Türkei integrieren, zumal sich die Lebensumstände in den größeren Städten der Türkei nicht derart erheblich von denen in Europa unterscheiden. Es ist dem Kläger auch zuzumuten, dass er seine Kenntnisse des Türkischen aufbessert. Der Kläger ist jung, gesund und arbeitsfähig, so dass es ihm auch gelingen wird, sich in den türkischen Arbeitsmarkt zu integrieren, insbesondere angesichts seiner guten Deutschkenntnisse in den Tourismusgebieten. Die Ausweisung ist das Ergebnis einer sich stetig steigernden Delinquenz des Klägers, der sich die strafrechtlichen Verurteilungen in der Vergangenheit nicht zur Warnung hat dienen lassen. An der Verhinderung von Gewaltstraftaten besteht ein erhebliches öffentliches Interesse.
64
Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Vielzahl und Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden, zumal der Kläger in der Vergangenheit durch zahlreiche Geldstrafen und weitere Strafverfahren bereits mehrfach die Chance hatte, zu einem rechtstreuen Verhalten zurückzukehren. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
65
2. Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von vier Jahren ist nicht zu beanstanden.
66
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, das mit der Ausweisungsverfügung angeordnet werden soll, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll in diesem Fall zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 - 10 B 13.715 - juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 - 1 C 14/12 - InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 - 1 C 13/12 - NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 - 10 ZB 15.492 - juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 15.1854 - Rn. 50).
67
Nach diesen Grundsätzen ist die Befristung auf vier Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers berücksichtigt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Wiederholungsgefahr wäre - ohne Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet - auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Da sich die Frist aber an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK messen lassen muss, ist unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers eine Frist von vier Jahren nicht zu beanstanden. Die Frist hält sich im unteren Bereich des eröffneten Rahmens. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
68
3. Die Abschiebungsandrohung unter Gewährung einer zweiwöchigen Ausreisefrist ab Bestandskraft der Ausweisungsverfügung entspricht §§ 58, 59 AufenthG und ist daher nicht zu beanstanden. Die Androhung der Abschiebung aus der Haft hat sich mit Haftentlassung ohnehin erledigt.
69
II. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.