Titel:
Keine relvante Vorverfolung bei der Rückkehr
Normenketten:
AsylG § 3, § 3d, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsatz:
Die Wiederholung einer früheren Verfolgung oder eines Schadens sind bei der Rückkehr nicht zu vermuten, wenn kein erforderlicher zeitlich-kausaler Zusammenhang zwischen den vergangenen Vorfällen und der zeitlich deutlich späteren Ausreise gegeben sind. (Rn. 12 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht Türkei, Familienfehde, fehlender Verfolgungsgrund, fehlender zeitlichkausaler Zusammenhang, interner Schutz, unzulässiger (hilfsweiser) Beweisantrag
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 18.02.2021 – 24 ZB 21.30225
Fundstelle:
BeckRS 2020, 43399
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Der nach den von ihm vorlegten Ausweispapieren am ... geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Er hat eigenen Angaben zufolge am 5. Mai 2019 seine Heimat auf dem Luftweg verlassen und ist anschließend auf dem Landweg Ende Mai 2019 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er am 12. Juni 2019 Asyl beantragte.
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Bei seiner Anhörung durch das ... am 15. Oktober 2019 trug der Kläger im Wesentlichen vor, niemals einen Reisepass besessen zu haben und mit seinem Personalausweis nach Nord-Mazedonien geflogen zu sein. Er habe die Türkei verlassen, weil er Anfang Mai 2017 festgenommen und gefoltert worden sei. Er sei eine Woche lang misshandelt worden. Es sei gefragt worden, weshalb er die „HDP“ gewählt habe, obwohl er dies bei der Wahl im Jahr 2017 gar nicht getan habe. Auch sei er nicht Mitglied der „HDP“, er vertrete nur die Meinung der Partei. Bei der Folter sei Strom eingesetzt und eine Rasierklinge benutzt worden, auch sei er geschlagen worden und man habe geschmolzenes Plastik auf seine Füße tropfen lassen. Wenn er etwas habe trinken wollen, habe er Urin bekommen. Auf Nachfrage trug der Kläger vor, bei einer Polizeikontrolle festgenommen worden zu sein, weil er aus dem Dorf ... stamme. In dem Dorf sei beim Referendum im Jahr 2017 mit „Nein“ abgestimmt worden. Er sei während seiner Gefangenschaft drei oder vier Mal gefoltert worden. Er habe kein Essen und Trinken bekommen. Auf Nachfrage, wie der Kläger eine Woche ohne Trinken habe überleben können, trug er vor, dass Menschen nach einem Erdbeben einen Monat ohne Flüssigkeit überleben könnten. Vielleicht habe er auch Spritzen bekommen, er könne sich an alles nicht so gut erinnern. Nachdem er nach einer Woche freigelassen worden sei, habe man ihm gesagt, dass er niemandem erzählen dürfe, was passiert sei. Er sei heimgegangen und habe seinen Eltern erzählt, dass er bei Freunden gewesen sei. Schwere körperliche Beschwerden habe er nicht gehabt. Nach ein paar Tagen sei er zu seinem Bruder nach Istanbul gegangen. Dort habe er ein Jahr verbracht. Er sei dort von der Polizei kontrolliert worden, es habe allerdings keine Probleme gegeben. Danach sei er wieder in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Im Mai 2019 habe er letztendlich die Türkei verlassen, weil er Angst gehabt habe, erneut unterdrückt werden zu können.
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Der Kläger hat während seiner Anhörung einen USB-Stick, Zeitungsartikel und Fotos vorgelegt. Auf dem USB-Stick sollen sich Zeitungsartikel und ein YouTube-Video befinden. Der USB-Stick und die Zeitungartikel hätten mit einem Vorfall im Jahr 2017 in der Türkei zu tun, wobei drei Personen ums Leben gekommen seien. Es handele um einen Streit zwischen „HDP“- und „AKP“-Wählern, einer der Verstorbenen sei ein Verwandter des Klägers gewesen. Auch solle ein Mord in Deutschland mit diesen Sachen zu tun haben. Dieser Mord sei allerdings bereits aufgeklärt worden. Der Kläger legte weiter Fotos von Verletzungen an seinem Körper vor. Diese Verletzungen seien die Folgen der erlittenen Folter. Der Kläger befürchte bei einer Rückkehr in die Türkei umgebracht zu werden. Dies, weil eine der umgebrachten Personen ein Verwandter von ihm sei. Auch habe er Angst vor dem Staat, weil sein Onkel bei der „HDP“ aktiv sei. Er habe sich bei der letzten Bürgermeisterwahl aufstellen lassen, auch solle er regelmäßig das Dorf des Klägers besuchen. Der Vater des Klägers habe keine ausreichenden finanziellen Ressourcen mehr. Seinen Reisepass und Handy habe ihm der Schleuser in Bosnien abgenommen.
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Mit Bescheid vom 27. November 2019, zugestellt am 3. Dezember 2019, lehnte das ... den Asylantrag ab (Nr. 2.), erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1. und 3.), stellte keine Abschiebungsverbote fest (Nr. 4.) und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Nr. 5.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate befristet. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Angaben des Klägers zu seiner erlittenen Folter unglaubhaft seien. Dessen ungeachtet fehle es am erforderlichen zeitlichkausalen Zusammenhang zwischen den Misshandlungen im Jahr 2017 und der Ausreise Anfang Mai 2019. Im Übrigen sei der Kläger auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen, zumal er eigenen Vortrag zufolge über ein Jahr unbehelligt in Istanbul gelebt habe.
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Hiergegen ließ der Kläger am 11. Dezember 2019 Klage erheben. Für ihn ist beantragt,
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unter Aufhebung des Bescheids vom 27. November 2019 die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutz zuzuerkennen und weiter hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten festzustellen.
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Die Beklagte legte die bei ihr geführten Akten vor, äußerste sich im Verfahren aber nicht.
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Mit Beschluss vom 16. November 2020 wurde die Streitsache zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Zur Begründung trug der Kläger mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2020 vor, dass er aus einem Dorf stamme, in dem sich seine Verwandtschaft in einer Blutfehde befinde, von der er auch in Mitleidenschaft gezogen worden sei. Hintergrund sei, dass ein Teil der Familie AKP-Anhänger und der andere Teil HDP-Anhänger sei. 2017 seien Familienmitglieder getötet und im Anschluss daran eine Befriedung der Blutfehde nicht erreicht worden. Als er im Frühjahr 2019 in das Heimatdorf zurückgekehrt sei, habe ihn seine Familie vor einem Racheakt der Gegenseite gewarnt. Die Bedrohungslage habe sich nach einem Mordanschlag auf einen Sohn des Bürgermeisters seines Heimatdorfes in Deutschland (...) im Jahr 2019 wesentlich verschlechtert. Eine Vergeltung sei zu erwarten, der Kläger stehe mehr denn je im Fadenkreuz. Um staatlichen Schutz könne er nicht nachsuchen, weil er nach dem Foltervorfall 2017 selbst staatlicher Verfolgung ausgesetzt sein.
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Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 18. Dezember 2020 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG. Der angefochtene Bescheid des ... vom 27. November 2019 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
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Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in § 3c, § 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
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Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31.18 - juris Rn. 16) entspricht.
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Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31.18 - juris Rn. 16). Dabei ist zu Gunsten eines vorverfolgt ausgereisten Ausländers zu vermuten, dass sich die frühere Verfolgung oder der Schaden bei Rückkehr wiederholt, sofern diese Vermutung nicht aufgrund stichhaltiger Gründe widerlegt ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris -Ls-). Gemessen hieran fehlt es an einer Vorverfolgung bzw. unmittelbar bevorstehender Verfolgung. Wie die Beklagte schlüssig und überzeugend dargetan hat, ist der erforderliche zeitlichkausale Zusammenhang zwischen den Vorfällen im Jahr 2017 - diese als wahr unterstellt - und der Ausreise im Frühjahr 2019 nicht gegeben. Für die Ausreise des Klägers gab keine konkreten fluchtauslösenden Vorkommnisse, wie er in der mündlichen Verhandlung selbst einräumte. Seine „Flucht“ basierte vielmehr auf einer Art Angstgefühl, dass ihm etwas zustoßen könnte. Dem ist aber entgegen zu halten, dass der Kläger in der Türkei viele Verwandte wie bspw. seine Eltern und viele Geschwister hat, die weitgehend unbehelligt von dem AKPtreuen Teil der Großfamilie an verschiedenen Orten in der Türkei leben können bzw. sich dem Druck durch Umzug in andere Landesteile wirksam entziehen konnten.
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Der Kläger fühlt sich - wie die Beklagte nachvollziehbar ausgeführt hat - auch nicht wegen eines individuellen Verfolgungsmerkmals i.S.d. § 3b AsylG bedroht, sondern - unter vorläufiger Wahrunterstellung seiner Angaben - wegen ihm möglicherweise durch private Dritte drohenden kriminellen Unrechts. Die Blutfehde ist nach der Darstellung in der Klagebegründung weniger politisch motiviert, sondern es handelt sich vielmehr um wechselseitige Racheakte für (angeblich) vorangegangenes kriminelles Unrecht (Tötungen) durch die jeweilige Gegenseite, auch wenn sich die Protagonisten verschiedenen politischen Lagern zurechnen mögen. Damit liegt keine flüchtlingsrelevante Verfolgung vor, weder seitens Privater noch seitens des türkischen Staats.
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Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass. Da in der Türkei strenge Ausreisekontrollen stattfinden, wird türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, bereits die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das ... vom 11.6.2018, S. 1 f.; näher dazu unten). Ein Personalausweis hingegen wird ausgestellt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Ob eine Ausstellung eines Reisepasses und eine unbehelligte Ausreise auch durch Bestechung erlangt werden können, kann nicht ausgeschlossen werden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 15 und 16); im Allgemeinen aber ist eine unbehelligte Ausreise ein gewichtiges Indiz gegen das Vorliegen eines Haftbefehls oder einer Ausreisesperre (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 f. zu Frage 7) und damit gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse.
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b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. SächsOVG, B.v. 9.4.2019 - 3 A 358/19 - Rn. 13; BayVGH, B.v. 10.2.2020 - 24 ZB 20.30271 - Rn. 6).
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2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
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Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
25
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
26
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 21, 236 - im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.
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b) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Hierzu gilt das soeben Gesagte entsprechend.
28
Der türkische Staat ist grundsätzlich schutzfähig und schutzwillig (§ 3d AsylG). Gegen etwaige Tötungen durch private Dritte ist der türkische Staat - wie jeder Staat nicht lückenlos - schutzfähig, aber doch grundsätzlich schutzwillig. Der Kläger hätte sich insoweit, ggf. mit anwaltlicher Hilfe, des Schutzes des türkischen Staats bedienen müssen. Soweit der Klägerbevollmächtigte hilfsweise für den Fall der Klageabweisung einen Beweisantrag zur „Tatsache“ der fehlenden Schutzwilligkeit des türkischen Staates gegenüber dem Kläger gestellt hat, ist der Beweisantrag unzulässig. Die Frage des Bestehens einer landesweiten Bedrohung durch die ...-Familie, der Verfolgung durch den türkischen Staat im Falle des Nachsuchens um Schutz bzw. dessen Schutzunwilligkeit/-unfähigkeit ist vielmehr das Ergebnis einer tatsächlichrechtlichen Würdigung der jeweiligen Gefahrenlage im Einzelfall. Wertungen und rechtliche Subsumtionsergebnisse sind kein zulässiges Beweisthema. Letztlich geht es um die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer (landesweiten) Verfolgung, der Schutzwilligkeit und -fähigkeit des türkischen Staates und des Bestehens internen Schutzes. Die diesbezüglichen Feststellungen im Einzelfall sind jedoch Kern der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 VwGO) und damit einer Beweiserhebung nicht zugänglich.
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Der Kläger hat hier ohnehin nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel und Wege für staatlichen Schutz im Herkunftsstaat ausgeschöpft, bevor er im Ausland Schutz gesucht hat: So hätte sich der Kläger, wenn er der örtlichen Polizei nicht vertraute wegen seines Verdachts ihrer Verstrickung mit den Vorfällen im Jahr 2017, zumindest über einen türkischen Anwalt Kontakt zur höheren Polizeiebene oder zur Staatsanwaltschaft aufnehmen können; auch im ihm fremden Deutschland hat er sich anwaltlicher Hilfe bedient. Ebenso hätte er versuchen können, durch Melde- und Auskunftssperre zusätzlichen Schutz zu erlangen, auch vor Eintragungen in das Sozialversicherungssystem und in e-Devlet (vgl. VG Augsburg, U.v. 14.7.2020 - Au 6 K 18.31090 - Rn. 32).
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d) Soweit der Kläger lokal oder regional begrenzte Gefahren befürchtet, kann er, da er nicht landesweit in dieser Gefahr ist (vgl. oben), diesen durch Umzug in andere Landesteile zumutbar ausweichen (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG), wie er es auch durch seinen zeitweisen Aufenthalt in Istanbul getan hat. Wovor er sich dort konkret versteckt haben will, bleibt im Dunkeln. Er hat dort völlig unbehelligt gelebt und war jedenfalls in der Lage, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und hat nur aus Rücksicht auf seinen Bruder seine Bleibe verlassen. Zudem hat der Kläger dort nunmehr auch eine Schwester sowie viele weitere Geschwister an anderen Orten, wohin er sich ebenfalls begeben kann.
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3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des ...s wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige sowie langjährig erwerbstätige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Im Übrigen kann er auf ein umfangreiches familiäres Netzwerk an verschiedenen Orten in der Türkei zurückgreifen.
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4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).