Titel:
Betreibensaufforderung, Klagerücknahmefiktion
Normenkette:
VwGO § 92 Abs. 2 S. 1, § 92 Abs. 3
Schlagworte:
Betreibensaufforderung, Klagerücknahmefiktion
Fundstelle:
BeckRS 2020, 42809
Tenor
I. Die Anträge auf Fortführung der Verfahren werden abgelehnt. Es wird festgestellt, dass die Klagen zurückgenommen sind.
II. Die Kosten der Verfahren hat jeweils der Kläger zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist jeweils vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung jeweils durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger ist Eigentümer des Anwesens V. in T., in dem eine Feuerstätte für gasförmige Brennstoffe installiert ist. Seit 7. Juli 2011 konnte dort keine Feuerstättenschau mehr durchgeführt werden, da der Kläger den Zutritt zu seinem Anwesen verweigert und die Durchführung der Feuerstättenschau verhindert.
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Mit Bescheid vom 21. April 2016 ordnete das Landratsamt M. gegenüber dem Kläger die Feuerstättenschau in seinem Anwesen an (Nr. 1 des Bescheids), gab ihm auf, dem zuständigen bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger den Zugang zu den Räumlichkeiten, in denen sich die überprüfungspflichtigen Anlagen befinden sowie zu diesen selbst zu gestatten und die Durchführung der Arbeiten zu dulden; das Anwesen sei am 11. Mai 2016 von 8 - 9 Uhr zugänglich zu halten, sofern die Durchführung der Feuerstättenschau nicht schon vorher erfolgt ist (Nr. 2 des Bescheids). Für den Fall, dass die Feuerstättenschau wegen eines vom Kläger zu vertretenden Hindernisses bis zu dem verfügten Termin nicht durchgeführt werden könne, wurde ein Zwangsgeld angedroht. Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 des Bescheids wurde angeordnet. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 25. Mai 2016 bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage, die unter dem Az. M 1 K 16.2398 aufgenommen wurde.
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Da der Kläger dem bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger bis zum genannten Termin keinen Zutritt zu seinem Anwesen ermöglichte und deshalb keine Feuerstättenschau durchgeführt werden konnte, teilte das Landratsamt dem Kläger mit Schreiben vom 19. Juli 2016 mit, dass das Zwangsgeld in Höhe von 500,00 Euro fällig geworden und zu bezahlen sei. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 13. September 2016 Klage, die unter dem Az. M 1 K 16. 4120 erfasst wurde. Wegen Uneinbringlichkeit wurde diese Zwangsgeldforderung im Lauf des Jahres 2017 mit Kassenanweisung niedergeschlagen. Laut Schreiben des Landratsamts München vom 11. Mai 2020 ist die Forderung damit „hinfällig“.
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Weiterhin wurde der Kläger mit Bescheid vom 11. August 2016 verpflichtet, jedenfalls am 9. September 2016 von 10 - 11 Uhr sein Anwesen mit den im Rahmen der Feuerstättenschau zu inspizierenden Räumen zugänglich zu halten (Nr. 1 des Bescheids). Für den Fall des Widerstands wurde unmittelbarer Zwang angedroht, die sofortige Vollziehung von Nr. 1 des Bescheids wurde angeordnet. Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 13. September 2016 unter dem Az. M 1 K 16. 4121 Klage.
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Mit Bescheid vom 15. November 2016 bestätigte das Landratsamt die mit Schreiben vom 9. September 2016 erfolgte Stilllegung der Gasfeuerstätte im Anwesen des Klägers durch den bevollmächtigten Bezirksschornsteinfeger und verpflichtete den Kläger unter Anordnung des Sofortvollzugs, den Betrieb der Gasfeuerstätte bis zum Nachweis der Betriebssicherheit durch Vorlage eines Feuerstättenbescheids beim Landratsamt zu unterlassen. Die hiergegen erhobene Klage wurde vom Verwaltungsgericht München mit Gerichtsbescheid vom 6. Juni 2017 abgewiesen; der Antrag auf Zulassung der Berufung blieb erfolglos (BayVGH, B. v. 18.12.2017 - 22 ZB 17.1419 - juris).
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Mit Schreiben vom 17. Mai 2018 wurde der Kläger vom Gericht in den Verfahren M 1 K 16. 2398, M 1 K 16. 4120 und M 1 K 16. 4121 darauf hingewiesen, dass die Verfahren sich erledigt hätten und es sinnvoll sei, die Klagen förmlich zu beenden. Der Kläger wurde gebeten, sich hierzu bis zum 15. Juni 2018 zu äußern. Da der Kläger auf dieses Schreiben nicht antwortete, wurde er jeweils mit Schreiben vom 29. Juni 2018, zugestellt gegen Postzustellungsurkunde am 3. Juli 2018, gem. § 92 Abs. 2 VwGO aufgefordert, innerhalb von zwei Monaten ab Zustellung des Schreibens die Anfrage des Gerichts vom 17. Mai 2018 zu beantworten. Die Schreiben enthielten den Hinweis, dass die Klage gem. § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen gelte, sollte er dieser Aufforderung nicht fristgerecht nachkommen. Mangels Reaktion hierauf wurden die Verfahren vom Gericht jeweils mit Beschluss vom 5. September 2018 eingestellt und dem Kläger die Kosten der Verfahren auferlegt.
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Mit Schreiben vom 27. Februar 2019 bat der Kläger „um Prüfung und nunmehr um Erhalt einer Mitteilung des aktuellen Stands der Klagesache“. Er beabsichtige keinesfalls eine Rücknahme der Klage. Vorsorglich beantrage er Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand, „da das Verwaltungsgericht für das Weiterbetreiben des Klageverfahrens zuständig sein dürfte“.
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Mit Schreiben vom 12. April 2019 stellte der Kläger „Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand und auf Weiterführung der Verfahren“. Deshalb wurden neue Aktenzeichen vergeben. Das ursprüngliche Verfahren M 1 K 16.3298 erhielt das Az. M 32 K 19.1820, das Verfahren M 1 K 16.4120 das Az. M 32 K 19.1821 sowie das Verfahren M 1 K 16.4121 das Az. M 32 K 19.1822.
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Jeweils mit Beschluss vom 25. Mai 2020 wurden die Rechtsstreite zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Am 10. August 2020 fand die mündliche Verhandlung statt, an der der Kläger, dessen kurzfristig gestellter Terminverlegungsantrag in der Verhandlung mangels eines erheblichen Grundes mit Beschluss abgelehnt worden ist, nicht teilnahm. Die Verfahren M 32 K 19. 1820, M 32 K 19.1821 und M 32 K 19.1822 wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
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Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Klägers über die Sachen verhandeln und entscheiden, da der Kläger ordnungsgemäß geladen worden war, der Kläger keinen erheblichen Grund für seinen kurzfristig gestellten Terminverlegungsantrag angegeben hat und in der Ladung darauf hingewiesen worden war, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Verfahren konnten gemäß § 93 VwGO zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden werden, da sich in allen drei Verfahren die von dem Kläger aufgeworfene Rechtsfrage zur Fortführung der Verfahren in gleicher Weise stellt. Die Verbindung der Verfahren war daher sachdienlich.
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Den Anträgen auf Fortsetzung der Verfahren war nicht stattzugeben. Die Verfahren M 1 K 16. 2398, M 1 K 16.4120 und M 1 K 16.4121 gelten aufgrund der Klagerücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO als zurückgenommen. Mit den in den jeweiligen Verfahren ergangenen Beschlüssen des Verwaltungsgerichts vom 5. September 2018 wurde daher zutreffend festgestellt, dass die Klagen (kraft Gesetzes) als zurückgenommen gelten; die Verfahren waren daher einzustellen.
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Wird von einem Beteiligten die Wirksamkeit einer Klagerücknahme bzw. des Eintritts der Klagerücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO bestritten, so hat das Gericht darüber aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil zu entscheiden, wenn ein Beteiligter - wie vorliegend die Klagepartei mit Schreiben vom 27. Februar 2019 bzw. 12. April 2019 - dies beantragt (vgl. BayVGH, B.v. 19.1.19999 - 1 C 97.1542 - juris Rn. 16). Erweist sich, dass die Voraussetzungen für die Rücknahmefiktion vorliegen, so wird durch Urteil ausgesprochen, dass die Klage als zurückgenommen gilt und der Kläger die Kosten des fortgesetzten Verfahrens zu tragen hat. Erweist sich hingegen, dass eine wirksame Klagerücknahme oder Klagerücknahmefiktion nicht vorlag, so ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des Einstellungsbeschlusses fortzusetzen (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 92 Rn. 26).
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Vorliegend sind die Klageverfahren beendet. Die Einstellungsbeschlüsse des Gerichts vom 5. September 2018 sind zu Recht ergangen, da die Klagen nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO als zurückgenommen gelten (§ 92 Abs. 3 VwGO).
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Anknüpfungspunkt für die in § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO geregelte Klagerücknahmefiktion ist der vermutete Wegfall des Rechtsschutzinteresses, wobei konkrete Anhaltspunkte für ein fehlendes Interesse an der Verfahrensfortsetzung vorliegen müssen. § 92 Abs. 2 VwGO kann damit herangezogen werden, wenn sich die Hauptsache des Rechtsstreits erkennbar erledigt hat, ohne dass der Kläger eine verfahrensbeendende Erklärung abgibt (Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL 2019 Rn. 46 ff). Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzinteresses kann ein Gericht auch dann ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung mangels Sachbescheidungsinteresses nicht mehr gelegen ist; eine Gewissheit über das Fehlen des Rechtsschutzinteresses ist nicht erforderlich (BVerfG, B.v. 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - juris Rn. 27; BVerwG, B.v. 7.7.2005 - 10 BN 1.05 - juris Rn. 4). Der Kläger kann diese Vermutung jedoch widerlegen, indem er das Verfahren weiter betreibt. Nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerwG, U.v. 23.4.1985 - 9 C 48.84 - BVerwGE 71, 213; zu den einzelnen Voraussetzungen s.a. Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 36. EL Feb. 2019, § 92 Rn. 38 ff.; Wolff in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, § 92 Rn. 15 ff.) sind die Voraussetzungen für den Eintritt der Klagerücknahmefiktion nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO (a) ein Verhalten des Klägers, das die Vermutung begründet, sein Rechtsschutzbedürfnis sei entfallen, (b) eine Betreibensaufforderung, in der der Kläger gemäß § 92 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die Rechtsfolgen der Aufforderung hinzuweisen ist und (c) das Nichtbetreiben durch den Kläger innerhalb der nächsten zwei Monate. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
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a) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Betreibensaufforderung am 29. Juni 2018 bestanden konkrete, sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Interesses des Klägers am Fortgang der Klageverfahren.
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Ziel der Klagen war die Aufhebung von Bescheiden, mit denen eine Feuerstättenschau im Anwesen des Klägers angeordnet und der Kläger zur Zugangsgewährung und Duldung verpflichtet worden war sowie die Feststellung, dass das geforderte Zwangsgeld nicht fällig geworden ist. Mit der Bestandskraft des Bescheids vom 15. November 2016 (Stilllegung der Gasfeuerstätte im Anwesen des Klägers mit der Verpflichtung, den Betrieb der Gasfeuerstätte bis zum Nachweis der Betriebssicherheit durch Vorlage eines Feuerstättenbescheids beim Landratsamt zu unterlassen) und der endgültigen Niederschlagung der Zwangsgeldforderung („hinfällig“) ist das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers an der Aufhebung der angeordneten Feuerstättenschau und der Feststellung, dass die Zwangsgeldforderung nicht fällig geworden sei, entfallen. Dennoch erfolgte in den o.g. drei Klageverfahren keine Anpassung an die veränderten Umstände. Mangels weiteren Vorbringens waren zwei Jahre später Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses des Klägers an seinen Verfahren angebracht, die das Gericht dazu veranlassten, den Kläger anzuschreiben und bis zum 15. Juni 2018 um Äußerung zu bitten, ob die Klagen in Hinblick auf die veränderte Sachlage förmlich beendet werden. Da der Kläger auch hierauf nicht reagierte, verdichteten sich die Zweifel am Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses.
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b) Bei dieser Sachlage war die mit Schreiben vom 29. Juni 2018 erfolgte Aufforderung nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO, innerhalb von zwei Monaten ab Zustellung des Schreibens die Anfrage des Gerichts vom 17. Mai 2018 zu beantworten, gerechtfertigt.
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Der Kläger wurde gemäß § 92 Abs. 2 Satz 3 VwGO über die Folgen der Nichtbeachtung der Betreibensaufforderung belehrt. Das Schreiben wurde der Klagepartei ausweislich des unterzeichneten Empfangsbekenntnisses am 3. Juli 2018 zugestellt. Die formalen Anforderungen an die Betreibensaufforderung wurden eingehalten. Die gesetzliche Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO endete gemäß § 57 VwGO, § 222 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB am Montag, den 3. September 2018 um 24.00 Uhr.
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c) Der Kläger hat die Verfahren bis zum Ablauf der Frist nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht in der geforderten Weise betrieben.
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Dem mit Schriftsatz vom 27. Februar 2019 bzw. 12. April 2019 gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung war nicht stattzugeben.
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Versäumt der Kläger die Zweimonatsfrist, die eine richterlich gesetzte Ausschlussfrist darstellt, so kann ihm Wiedereinsetzung nur in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens der §§ 58 Abs. 2, § 60 Abs. 3 VwGO im Falle höherer Gewalt gewährt werden. Der Begriff der höheren Gewalt entspricht inhaltlich „Naturereignissen oder anderen unabwendbaren Zufällen“. Unter „höherer Gewalt“ wird ein Ereignis verstanden, das unter den gegebenen Umständen des konkreten Falls vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anwendung subjektiver Maßstäbe - namentlich unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung - durch zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (BVerwG, U.v. 10.12.2013 - 8 C 25.12 - juris Rn. 30). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger hat schon keine Begründung für die fehlende Reaktion nach Zustellung der Betreibensaufforderung vorgetragen, die auf höhere Gewalt hätte zurückgeführt werden können.
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Die Kostenentscheidung betrifft nur noch die Entscheidung über den Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens; sie beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.