Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 03.11.2020 – AN 2 K 20.00115
Titel:

Kein Anspruch auf Wiedereinräumung einer materiell nicht zustehenden Ausbildungsförderung über Zugunstenverfahren

Normenketten:
SGB X § 44
BAföG § 15 Abs. 3
Leitsätze:
1. Sehen die für eine Sozialleistung maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Leistungsgewährung in dem begehrten Umfang nicht (mehr) vor (obwohl anderweitige Feststellungen in einem früheren Feststellungsbescheid getroffen wurden), kann einem Antrag auf Überprüfung nach § 44 SGB X nicht stattgegeben werden; ein Betroffener darf nicht über § 44 SGB X die (Wieder-)Einräumung einer ihm materiell nicht zustehenden Position erlangen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein der Nachweis der Feststellung eines Grades der Behinderung von 30 kann nicht zu einer Ausbildungsförderung nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer führen, da auch im Falle einer Behinderung ein Kausalzusammenhang zwischen dem gesetzlich normierten Verlängerungsgrund und der Überschreitung der Förderungshöchstdauer bestehen muss. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Vertrauensschutzvorschriften können zwar grundsätzlich einen eigenständigen Rechtsgrund für den Weiterbezug unter Verstoß gegen das materielle Leistungsrecht bewilligter Sozialleistungen bilden; dies gilt jedoch nicht, wenn der Auszubildende nie ihm materiell nicht zustehende Leistungen erhalten hat. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
BAföG, Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X, kein Anspruch auf (Wieder-)Einräumung einer materiell nicht zustehenden Position, Ausbildungsförderung, Zugunstenverfahren, Förderungshöchstdauer, Behinderung, Kausalzusammenhang, Vertrauensschutz
Fundstelle:
BeckRS 2020, 42626

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um die Weitergewährung von Ausbildungsförderung nach dem BAföG nach dem Überschreiten der Förderungshöchstdauer.
2
Der Kläger befand sich im Wintersemester 2018/2019 im siebten Fachsemester des Studiengangs Psychologie (Bachelor) an der … … Am 8. Juni 2018 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem Überschreiten der Förderungshöchstdauer für mindestens zwei Semester. Als Begründung gab der Kläger an, dass er einen Grad der Behinderung von 30 habe und wegen wiederkehrender Krankheitsepisoden aufgrund der Behinderung nicht in der Lage gewesen sei, an diversen Prüfungs- und Studienleistungen teilzunehmen. Momentan weise er einen Leistungsstand von 97 ECTS-Punkten auf. Mit Schreiben vom 10. September 2018 reichte der Kläger eine Leistungsübersicht ein, die zum 27. August 2018 15 ECTS-Punkte (Grundlagen- und Orientierungsprüfung) sowie 100 ECTS-Punkte (Abschlussprüfung) auswies.
3
Nach der persönlichen Vorsprache bei dem Beklagten am 5. November 2018 brachte der Kläger ein Attest (Bl. 24 der Behördenakte) seiner Ärztin Frau Dr. … … bei sowie eine schriftliche Erklärung, wie lange er noch für sein Studium brauche und weshalb er eine bestimmte Prüfung abgelegt habe, obwohl er ein Attest für diesen Zeitraum eingereicht hatte, das seine Prüfungsunfähigkeit bestätigt hatte. Mit Schreiben vom 6. November 2018 erklärte der Kläger seinen Gesundheitszustand im Zeitraum von Oktober 2016 bis November 2018 und legte dar, welche Prüfungen er weshalb nicht abgelegt habe. Im dritten Semester habe sich der Gesundheitszustand verbessert. Der Kläger habe 20 ECTS-Punkte erreicht. Im vierten Semester habe sich der Gesundheitszustand verschlechtert. Trotz Empfehlung seiner Fachärztin habe der Kläger keine stationäre Therapie angetreten. Er habe im vierten Semester 22,5 ECTS-Punkte erreicht. Im fünften Semester sei der Kläger stark eingeschränkt gewesen und habe 0 ECTS-Punkte erreicht. Über den Gesundheitszustand im sechsten Semester teilte der Kläger nichts mit. Er habe in diesem Semester 12 ECTS-Punkte erreicht.
4
Mit Bescheid vom 10. Dezember 2018 wurde der Antrag dem Grunde nach für ein Semester bewilligt, bis einschließlich März 2019. Es sei nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass die vom Kläger geltend gemachte Erkrankung für die Verzögerungen des Studiums verantwortlich sei.
5
Hiergegen erhob der Kläger am 8. Januar 2019 Widerspruch. Der Kläger begründete den Wiederspruch im Wesentlichen damit, dass er die Bewilligung bis einschließlich März 2019 für nicht angemessen halte. Der bewilligte Zeitraum reiche nicht aus, um die geforderten ECTS-Punkte zu erreichen. Es könne nicht verlangt werden, dass er bis März 2019 noch 49 ECTS-Punkte erreiche. Er beantrage die Förderung bis September 2019.
6
Mit Schreiben des Beklagten vom 30. Januar 2019 wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass bei Aufrechterhaltung des Widerspruchs keine Auszahlung an ihn erfolgen könne, da der Widerspruch aufschiebende Wirkung habe. Es sei daher empfehlenswert, den Widerspruch zurückzunehmen und erst nach Ablauf der bewilligten Überschreitung erneut einen Antrag auf Überschreitung der Förderungshöchstdauer zu stellen.
7
Mit Schreiben vom 10. Februar 2019 führte der Kläger aus, dass er den Widerspruch unter anderem damit ergänzend begründen wolle, dass es ihm erst nach Erreichen der erforderlichen 120 ECTS-Punkte erlaubt sei, die Bachelorarbeit zu beginnen. Diese Punktzahl habe er jedoch erst zum 18. Oktober 2018 erreicht. Erst dann habe er sich ein Thema und einen Betreuer suchen können. Zudem bat der Kläger um Berücksichtigung seiner gegenwärtigen Umstände, u.a. seines Gesundheitszustandes aufgrund seiner chronischen Erkrankung.
8
Mit Bescheid vom 20. Mai 2019 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen, der Bescheid vom 10. Dezember 2018 aufgehoben und der Antrag vom 6. November 2018 abgelehnt. Eine Förderung über den September 2018 hinaus könne nicht erfolgen. Im Wesentlichen wurde dies damit begründet, dass die vorgetragene psychische Erkrankung des Klägers zwar grundsätzlich geeignet sei, einen Verzögerungsgrund darzustellen. Jedoch könnten nur solche Umstände berücksichtigt werden, die für die Verlängerung der Ausbildung und die daraus folgende Überschreitung der Förderungshöchstdauer kausal seien. Dabei trage der Kläger die Beweislast für die Ursächlichkeit der geltend gemachten Verlängerungsgründe. Eine Kausalität könne hier jedoch nicht hergestellt werden, da die beurteilten Zeiträume entweder nicht zu den Ausführungen des Klägers passen würden oder zu umfangreich seien und den Phasen der geltend gemachten gesundheitlichen Beschwerden nicht zuordenbar seien. So spreche Frau Dr. … im Attest vom 21. November 2018 davon, dass der Kläger schon seit April 2015 bei ihr in Behandlung sei und die Krankheit seit 2006 bekannt sei. Der Kläger sei „…“. In diesen Zeiten sei er nicht in der Lage, regelmäßig Vorlesungen und Seminare zu besuchen, zu lernen oder Prüfungen zu absolvieren. Wann genau solche „Phasen“ vorgekommen seien, sei jedoch nicht ausgeführt worden. Zudem sei es dem Kläger trotz seiner Erkrankungen möglich gewesen, am Ende des vierten Semesters einen positiven Leistungsnachweis vorzulegen. Auch habe der Kläger am 31. März 2017 die Prüfung „allgemeine Psychologie I“ abgelegt und bestanden, obwohl sich der Gesundheitszustand des Klägers zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben verschlechtert hatte. Durch das Vorliegen von positiven Leistungsnachweisen seien deshalb sowohl das Attest vom 23. Juni 2016, als auch das Attest vom 19. Juli 2017 obsolet, da diese eine Erkrankung dokumentieren würden, die vor dem positiven Leistungsnachweis gelegen habe. Dieser habe eine Zäsurwirkung. Ereignisse, die davor stattgefunden hätten, dürften deshalb nicht berücksichtigt werden. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 4. Januar 2018 bis zum 25. Januar 2018 sei nicht tauglich, da sie rückwirkend für die Vergangenheit ausgestellt worden sei.
9
Hiergegen erhob der Kläger durch seinen Klägerbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 18. Juni 2019 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach. Diese war unter dem Aktenzeichen AN 2 K 19.01193 anhängig. Das Verfahren wurde nach Klagerücknahme vom 16. Juli 2019 durch Beschluss des Gerichts vom 16. Juli 2019 eingestellt.
10
Im Anschluss an die Klagerücknahme forderte der Klägerbevollmächtigte den Beklagten mit Schreiben vom 19. August 2019 auf, die Auszahlung der BAföG-Leistungen für den Zeitraum bis März 2019 unverzüglich anzuweisen.
11
Der Beklagte verwies mit Schreiben vom 7. August 2019 auf die Bestandskraft des Widerspruchsbescheids vom 20. Mai 2019. Mit Schreiben vom 24. September 2019 erläuterte der Beklagte auf nochmalige Aufforderung zur Auszahlung hin, dass eine Auszahlung nicht erfolgen werde. Zwar sei dem Kläger ursprünglich eine Förderung bis März 2019 bewilligt worden. Dieser Bescheid sei jedoch im Rahmen des Widerspruchsverfahrens aufgehoben worden. Hiergegen habe der Kläger zwar zunächst geklagt, die Klage dann jedoch zurückgenommen. Der Widerspruchsbescheid sei damit bestandskräftig geworden.
12
Mit Schreiben vom 8. Oktober 2019 stellte der Klägerbevollmächtigte hierauf einen Antrag auf „Überprüfung des Bescheids vom 10. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Mai 2019 gemäß Art. 44 SGB X“. Im Wesentlichen wurde dieser Antrag damit begründet, dass im Rahmen des Widerspruchsverfahrens keine Anhörung dahingehend erfolgt sei, dass auch eine Möglichkeit einer Aufhebung des Ausgangsbescheids möglich sei. Wäre eine dementsprechende Belehrung erfolgt, so hätte der Kläger den Widerspruch voraussichtlich zurückgenommen und es wäre keine Aufhebung des ursprünglichen Bescheids erfolgt. Der fehlende rechtliche Hinweis stelle einen Beratungsfehler dar.
13
Mit Bescheid vom 20. Dezember 2019 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass dem Antrag auf Überprüfung gemäß Art. 44 SGB X nicht entsprochen werden könne. Im Wesentlichen wurde dies damit begründet, dass der Verwaltungsakt nicht unrichtig gewesen sei. Eine Förderung des Klägers über die Förderungshöchstdauer hinaus sei nicht möglich. Es wurde auf die fehlende Kausalität zwischen Erkrankung und Verzögerung des Studiums hingewiesen. Auch die Vorlage der am 4. Januar 2018 ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ändere hieran nichts. So sei die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 25. Januar 2018, die eine Folgebescheinigung der Bescheinigung vom 4. Januar 2018 darstelle, bereits zuvor als untauglich beurteilt worden. Zudem könnten die Abmeldungen, die der Kläger am 2. Februar 2018 vorgenommen habe, nicht mit der durch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geltend gemachten Erkrankung in Verbindung gebracht werden. Eine ordnungsgemäße Anhörung habe vor dem Erlass des Widerspruchsbescheids im persönlichen Gespräch stattgefunden.
14
Hiergegen erhob der Kläger durch seinen Klägerbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 20. Januar 2020, eingegangen bei Gericht am selben Tage, Klage und beantragte,
1. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2019 wird aufgehoben.
2. Der Bescheid vom 10. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Januar 2019 wird aufgehoben.
3. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger Leistungen nach dem BAföG für den Zeitraum Oktober 2018 bis einschließlich September 2019 in gesetzlicher Höhe zu gewähren und einen entsprechenden rechtsbehelfsfähigen Bescheid zu erlassen.
15
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger sein Studium aufgrund seiner Behinderung nicht innerhalb der Förderungshöchstdauer habe abschließen können. Beim Kläger läge eine rezidivierende depressive Störung sowie eine Angststörung vor. Er habe seine behandelnde Ärztin im Zeitraum vom 1. April 2017 bis zum 31. März 2018 insgesamt zwölf Mal konsultiert. Er sei aufgrund der Erkrankung in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Zudem habe ein Beratungsfehler seitens des Beklagten vorgelegen. Der Kläger habe dem Schreiben des Beklagten entnommen, dass er mit Erlass des Widerspruchsbescheids zumindest Förderung für ein Semester erhalten werde. Deshalb habe er den Widerspruch aufrechterhalten. Der Widerspruch wäre entsprechend auszulegen gewesen.
16
Der Beklagte beantragte
Klageabweisung.
17
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte sowie auf das Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung vom 3. November 2020 verwiesen.

Entscheidungsgründe

18
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 20. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den Bewilligungsbescheid vom 10. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Mai 2019 für den streitgegenständlichen Zeitraum abzuändern und Leistungen nach dem BAföG dem Grunde nach zu gewähren.
19
Das Gericht nimmt zur Begründung des Urteils gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug auf die ausführliche und zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vom 20. Dezember 2019 und führt ergänzend aus:
20
Das Begehren des Klägers stützt sich auf § 44 SGB X. Der ursprüngliche Bescheid in Form des Widerspruchsbescheids sei nach Ansicht des Klägers rechtswidrig und deshalb zurückzunehmen. Dem Kläger sei aufgrund des rechtswidrigen Bescheids zu Unrecht keine Förderung nach dem BAföG für den streitgegenständlichen Zeitraum gewährt worden.
21
Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
22
Geregelt wird also die Korrektur eines fehlerhaften Verwaltungshandelns, das zum Erlass eines belastenden Verwaltungsakts geführt hat. Die Korrektur erfolgt unabhängig von der Anfechtbarkeit des betreffenden Verwaltungsakts. Damit die Rechtsbehelfsfristen nicht bedeutungslos werden, obliegt es der Entscheidung der Behörde, ob sie in diesem Fall in eine sachliche Überprüfung ihrer Entscheidung eintreten darf oder muss. Aus denselben Gründen darf der Vorschrift auch nicht die Wirkung eines umfassenden Wiedereinsetzungsanspruchs beigemessen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist es nicht Sinn und Zweck des Überprüfungsverfahrens, mehr an Sozialleistungen zu gewähren, als dem Berechtigten nach der materiellen Gesetzeslage tatsächlich zustehen. Sehen die gesetzlichen Bestimmungen, die für die betreffende Sozialleistung maßgeblich sind, eine Leistungsgewährung in dem begehrten Umfang nicht (mehr) vor (obwohl anderweitige Feststellungen in einem früheren Feststellungsbescheid getroffen wurden), kann dem Antrag auf Überprüfung nicht stattgegeben werden (BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 58. Edition, Stand: 1.9.2020, § 44 SGB X Rn. 2 ff.). Ein Betroffener darf nicht über § 44 SGB X die (Wieder-)Einräumung einer ihm materiell nicht zustehenden Position erlangen (Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: 110. EL Juli 2020, § 44 SGB X Rn. 40). Im Zugunstenverfahren ist einem Betroffenen (nur) diejenige Leistung zu gewähren, die ihm nach materiellem Recht bei von Anfang an zutreffender Rechtsanwendung zugestanden hätte (BSG, U.v. 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - NZS 1998, 203).
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Unter Anwendung dieser Grundsätze hat es der Beklagte zu Recht abgelehnt, den Bewilligungsbescheid vom 10. Dezember 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Mai 2019 für den streitgegenständlichen Zeitraum abzuändern. Denn auch wenn der - durch die damalige Klagerücknahme (AN 2 K 19.01193) - bestandskräftig gewordene ursprüngliche Bescheid in Form des Widerspruchsbescheids aller Voraussicht nach rechtswidrig ist - denn der Beklagte hätte den Widerspruch des damals noch nicht anwaltlich vertretenen Klägers wohl im Sinne des Meistbegünstigungsprinzips (siehe BSG, U.v. 10.11.2011 − B 8 SO 18/10 R - NVwZ-RR 2012, 313) als lediglich teilweisen Widerspruch gegen den Zeitraum April 2019 bis September 2019 auslegen müssen - scheitert hier eine Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X daran, dass sich aus der Formulierung „und soweit deshalb“ ergibt, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und dem Nichterbringen der an sich zustehenden Sozialleistung bestehen muss (siehe BSG, U.v. 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - NZS 1998, 203). So führt das Bundessozialgericht aus, dass sich dies nur anhand der materiellen Rechtslage beurteilen lässt und dass § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X so zu verstehen ist, dass die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind (U.v. 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - NZS 1998, 203).
24
Ein Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsaktes und dem Nichterbringen der an sich zustehenden Sozialleistung bestand hier jedoch nicht, denn dem Kläger stand nach der materiellen Rechtslage von Anfang an keine Förderung über die Förderungshöchstdauer hinaus zu (1.). Auch aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes folgt nichts anderes (2.).
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1. Eine Förderung über die Höchstdauer hinaus nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 5 BAföG war im Fall des Klägers von Anfang an nicht zu gewähren.
26
Gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 1 und 5 BAföG wird über die Förderungshöchstdauer hinaus für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie aus schwerwiegenden Gründen (Nr.1) bzw. infolge einer Behinderung (Nr. 5) überschritten worden ist.
27
a) Ein schwerwiegender Grund im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG kann eine Krankheit sein. (…) Die Krankheit muss kausal für eine nicht unerhebliche Verzögerung der Ausbildung geworden sein. Dies muss der Auszubildende substantiiert darlegen und glaubhaft machen. Aus der Darlegung muss sich die Art der Erkrankung, die Dauer und die Verhinderung an der Erarbeitung des prüfungsrelevanten Stoffes ergeben. Auch muss dargelegt werden, dass der versäumte Stoff nicht aufgeholt werden konnte. Die Krankheit muss durch ärztliches Attest nachgewiesen werden. (…) Auch psychische Krankheiten führen zu einer Verlängerung der Förderdauer, wenn sie die Ausbildung beeinträchtigen. Gegebenenfalls muss der Studierende sich beurlauben lassen. Ist für ihn erkennbar, dass die Studierfähigkeit einschränkt ist, muss er eine Beurlaubung in Erwägung ziehen, da die Ausbildungsförderung nach dem BAföG nicht der Finanzierung des allgemeinen Lebensunterhalts dient (BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, 58. Edition, Stand: 1.9.2020, § 15 BAföG Rn. 21).
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Nach § 15 Abs. 3 Nr. 5 BAföG wird für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus geleistet, wenn sie in Folge einer Behinderung überschritten worden ist. Eine Behinderung liegt vor, wenn die körperliche Funktion, die geistige Fähigkeit oder die seelische Gesundheit eines Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Bei der Feststellung einer Behinderung ist im Allgemeinen - soweit vorhanden - von Bescheinigungen der zuständigen Stellen, etwa nach §§ 2, 69 SGB IX oder § 53 SGB XII auszugehen, die der Auszubildende beizubringen hat (Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Auflage 2020, § 15 Rn. 33).
29
Der Kläger, der aufgrund einer „…“ einen Grad der Behinderung von 30 hat (Bl. 62 d. Behördenakte), befindet sich den Angaben seiner behandelnden Ärztin nach seit 2015 in Behandlung und leidet an einer … Seine Krankheit bzw. Behinderung hat der Kläger durch Atteste seiner Ärztin sowie durch einen Bescheid nach § 2 SGB IX (GdB 30) ausreichend nachgewiesen.
30
b) Die Krankheit bzw. Behinderung muss jedoch ursächlich für die Verzögerung der Ausbildung sein (BAföG-VwV 15.3.3 bzw. 15.3.8). Alle Tatbestände des § 15 Abs. 3 BAföG setzen voraus, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem gesetzlich normierten Verlängerungsgrund und der Überschreitung der Förderungshöchstdauer besteht (BVerwG, U.v. 6.4.2000 - 5 C 24/99 - juris). Es können auch verschiedene Verlängerungsgründe kumulativ auftreten (vgl. Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Auflage 2020, § 15 Rn. 20), sodass hier eine Einordnung in eine der beiden Kategorien „Krankheit“ oder „Behinderung“ nicht zu erfolgen brauchte.
31
Da auch im Falle einer Behinderung ein Kausalzusammenhang zwischen dem gesetzlich normierten Verlängerungsgrund und der Überschreitung der Förderungshöchstdauer bestehen muss, konnte nicht allein der Nachweis der Feststellung eines Grades der Behinderung von 30 zu einer Förderung nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer führen. Auch hier muss darüber hinaus die Kausalität nachgewiesen werden.
32
aa) Im Laufe des Studiums des Klägers kam es zu einer Verzögerung der Ausbildung. Maßstab sind die bei einem ordnungsmäßigen Studium nach der jeweiligen Ausbildungsordnung zu erwartenden Durchschnittsleistungen. Nach der maßgeblichen Prüfungs- und Studienordnung für den Bachelor- und den Masterstudiengang Psychologie an der FAU vom 28.9.2007 i.d.F. vom 31.7.2012 (BMStPO/PSL) ist das Studiensemester mit 30 ECTS-Punkten veranschlagt, § 5 Abs. 1 Satz 2 BMStPO/PSL. Laut Leistungsbescheinigung vom 22. Juni 2017 (viertes Semester) hatte der Kläger zu diesem Zeitpunkt 75 ECTS-Punkte erreicht. Die Leistungsbescheinigung vom 8. Juni 2018 (sechstes Semester) bestätigte dem Kläger 95 ECTS-Punkte. Laut Leistungsbescheinigung vom 27. August 2018 (Ende sechstes Semester) hatte der Kläger 115 ECTS-Punkte erreicht. Üblicherweise wären zum Ende des vierten Semesters 120 ECTS-Punkte und zum Ende des sechsten Semesters 180 ECTS-Punkte zu erwarten gewesen.
33
bb) Eine Ursächlichkeit für die Verzögerung der Ausbildung wurde hier jedoch nicht ausreichend dargelegt. So wurden teilweise schon keine Atteste - sondern lediglich Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - vorgelegt und manchen leistungsschwachen Studienphasen des Klägers sind keinerlei Atteste zuordenbar.
34
Die vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die die Zeiträume 4. Januar 2018 bis 25. Januar 2018 sowie 19. Juli 2017 bis 6. August 2017 und 23. Juni 2016 bis 14. Juli 2016 betreffen, sind nicht geeignet, eine Ursächlichkeit nachzuweisen. Dazu ist es unumgänglich, dass entsprechende aussagekräftige Atteste beigebracht werden (vgl. Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Auflage, 2020 § 15 Rn. 23 sowie 15.3.3 BAföG-VwV). Eine schlichte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung reicht nicht aus. Das Erfordernis, Atteste vorzulegen, ist deshalb sinnvoll, da der Nachweis geeignet sein muss, es der Behörde bzw. dem Gericht zu ermöglichen, nachzuvollziehen, in welchem Zeitraum welche Krankheit vorgelegen hat und wie sich diese auf die Fähigkeit, sich Lernstoff zu erarbeiten bzw. Prüfungen abzulegen, ausgewirkt haben soll. Aus einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geht weder die Krankheit noch deren Auswirkungen auf die Fähigkeiten des Studenten hervor.
35
Auch die beiden Atteste der Frau Dr. … vom 4. Juni 2019 und vom 21. November 2018 können einen Kausalzusammenhang zwischen Krankheit/Behinderung und Verzögerung nicht ausreichend herstellen. So bestätigt sie im Attest aus dem Jahr 2018, dass der Kläger seit 2015 in Behandlung sei und er aufgrund der … phasenweise durch … stark eingeschränkt sei. In diesen Zeiten sei er nicht in der Lage, regelmäßig Vorlesungen und Seminare zu besuchen, zu lernen oder Prüfungen zu absolvieren. Wann genau es zu diesen Phasen gekommen ist, wird jedoch nicht dargelegt. Im Attest vom 4. Juni 2019 bestätigt sie, dass der Kläger sie in der Zeit vom 1. April 2017 bis zum 31. März 2018 zwölf Mal konsultiert habe. Der Kläger sei aufgrund der … insgesamt deutlich in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt gewesen.
36
Der einzig konkret genannte Zeitraum - 1. April 2017 bis 31. März 2018 - deckt somit das Sommersemester 2017 (viertes Semester) und das Wintersemester 2017/2018 (fünftes Semester) ab. Zu Verzögerungen im Studienablauf kam es jedoch bereits vor und auch noch nach diesem Zeitraum. So erreichte der Kläger seinen Leistungsübersichten nach im dritten Semester lediglich 20 ECTS-Punkte und im sechsten Semester nur 12 ECTS-Punkte. Auch ist festzustellen, dass der Kläger gerade im vierten Semester - mit 22,5 ECTS-Punkten - mehr Punkte erreicht hat, als beispielsweise im sechsten oder im dritten Semester, in dem sich der gesundheitliche Zustand nach eigenen Angaben verbessert habe.
37
Denkt man sich also im Fall des Klägers die Verzögerungen aus dem vierten und fünften Semester (aufgrund des vorgelegten Attests) hinweg, so bleibt immer noch eine Studienverzögerung aus dem dritten und sechsten Semester bestehen, für die kein ausreichender Nachweis vorgelegt werden konnte. Ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verlängerungsgrund (Krankheit/Behinderung) und der Überschreitung der Förderungshöchstdauer wurde somit nicht ausreichend nachgewiesen, sodass eine Weiterförderung nach § 15 Abs. 3 BAföG ausscheidet.
38
Eine Förderung über die Höchstdauer hinaus nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 5 BAföG war im Fall des Klägers deshalb von Anfang an nicht zu gewähren.
39
c) Somit besteht auch kein Kausalzusammenhang zwischen dem (wohl) rechtswidrigen Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 2019 und der nicht gewährten weiteren Förderung. Denn würde man sich den Widerspruchsbescheid hinweg denken, so würde eine weitere Förderung des Klägers immer noch daran scheitern, dass ihm diese nach dem materiellen Recht (§ 15 Abs. 3 BAföG) - wie gerade dargelegt - von Anfang an nicht zustand.
40
2. Auch eine Konstellation, in der sich der Kläger erfolgreich auf Vertrauensschutz berufen könnte, liegt hier nicht vor. Dem Kläger war mit ursprünglichem Bescheid vom 10. Dezember 2018 eine Weiterförderung für ein Semester dem Grunde nach gewährt worden. Es kam jedoch weder zu einer Berechnung des Anspruchs der Höhe nach, noch zu einer Auszahlung von weiterer Förderung nach dem BAföG, da gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt wurde.
41
Vertrauensschutzvorschriften haben der 9. und 14. Senat des Bundessozialgerichts (so z.B. BSG, U.v. 4.2.1998 - B 9 V 16/96 - juris; BSG, U.v. 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - NZS 1998, 203) zwar grundsätzlich als eigenständigen Rechtsgrund für den Weiterbezug unter Verstoß gegen das materielle Leistungsrecht bewilligter Sozialleistungen gesehen. Dort waren jedoch Fälle zu entscheiden, in denen eine Vertrauensposition wegen langjährig zu Unrecht bezogener Sozialleistungen erworben worden war, die den dortigen Klägern durch einen Aufhebungsbescheid mit Wirkung für die Zukunft entzogen bzw. durch Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit darüber hinaus auch von ihnen zurückgefordert worden waren (so z.B. U.v. 4.2.1998 - B 9 V 16/96 - juris: Zugunstenantrag 18 Jahre nach der eventuell gegen Vertrauensschutz verstoßenden Rücknahme der Bewilligung einer 12 Jahre zu Unrecht bezogenen Beschädigtenrente). Im streitgegenständlichen Fall jedoch hat der Kläger nie ihm materiell nicht zustehende Leistungen erhalten. Denn zu einer Auszahlung von Ausbildungsförderung kam es seit dem Überschreiten der Förderungshöchstdauer schon gar nicht.
42
Somit steht dem Kläger eine Förderung über die Förderungshöchstdauer hinaus weder nach materiellem Recht noch aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes zu.
43
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.