Inhalt

SG Nürnberg, Beschluss v. 01.12.2020 – S 2 KR 870/20 ER
Titel:

Kostenübernahme für Immuntherapie bei inoperablem Gallengangkarzinom im einstweiligen Rechtsschutzverfahren

Normenkette:
SGB V § 1, § 2 Abs. 1a, § 4, § 12
Leitsätze:
1. Besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren.  (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der begehrten Leistung stirbt, ist diese regelmäßig zu gewähren, es sei denn, das Gericht ist aufgrund eindeutiger Erkenntnisse überzeugt, dass diese unwirksam oder medizinisch nicht indiziert oder mit dem Risiko behaftet, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es genügt, wenn die einzelnen Methoden der Behandlung Gegenstand schulmedizinischer Forschungen sind und deren Therapiewirksamkeit nicht ausgeschlossen ist. Zudem muss die konkrete Tumorbehandlung eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf in Aussicht stellen.  (Rn. 18 und 29) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch wenn nur eine Aussicht auf eine zeitlich befristete Stabilisierung besteht, sind in der Folgenabwägung die Interessen des Antragstellers auf Leben höher anzusetzen als die wirtschaftlichen der Krankenkasse. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Immuntherapie, Gallengangkarzinom, einstweiliger Rechtsschutz, Folgenabwägung, Kostenübernahme
Fundstelle:
BeckRS 2020, 42232

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig die individuell konzipierte und optimierte Immuntherapie des Im. K. (I.) als Sachleistung zu gewähren.
Die Anordnung gilt bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens und ist zunächst auf sechs Zyklen (Behandlungsblöcke) beschränkt.
II. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.
1
Der 1960 geborene Antragsteller (Ast) ist bei der Antragsgegnerin (Ag) krankenversichert. Bei ihm wurde im Dezember 2019 ein Verschluss des Gallenganges und sodann im Januar 2020 ein intrahepatisches Gallengangskarzinom und sekundäre bösartige Neubildung der Leber und der intrahepatischen Gallengänge diagnostiziert.
2
Das Karzinom des Antragstellers ist primär inoperabel. Es wurde eine Standardchemotherapie durchgeführt, unter der es nach den ärztlichen Unterlagen zu einem Progress kam. Sodann hat der Antragsteller eine adjuvante, d.h., die Chemotherapie begleitende Immun-Therapie im Immun-Onkologischen Zentrum K. begonnen, welche zum 31.10.2020 beendet wurde. Es seien bereits 7 Behandlungsblöcke durchgeführt worden, das Immunonkologische Zentrum sei in Vorleistung getreten, am 26.10.2020 sei dem Ast mitgeteilt worden, dass die Vorleistung finanziell nicht mehr tragbar sei und die Behandlung wurde beendet. Der Antrag auf Kostenübernahme bei der Antragsgegnerin wurde von dieser abgelehnt, hierzu ist ein Hauptsacheverfahren unter dem Az. S 2 KR 634/20 beim Sozialgericht Nürnberg anhängig.
3
Mit Schreiben vom 4.11.2020 stellte der Prozessbevollmächtigte des Ast einen Antrag auf einstweiligen Rechtschutz. Der Antragsteller trägt vor, bei der vorgesehenen Immun-Therapie werde ein IO-VAC Impfstoff verabreicht, kombiniert mit einer onkolytischen Virotherapie unter modulierter Elektrohyperthermie sowie Mikronährstoff- und Vitaminoptimierung. Die Standardtherapien seien erfolglos ausgeschöpft, das Karzinom inoperabel, eine Chemotherapie gescheitert, die Tumormarker seien während der Chemotherapie angestiegen. Bei der Erkrankung handele es sich um eine regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung, die bisherigen Therapien seien ausgeschöpft und erfolglos geblieben, die Therapie werde bereits weltweit angewendet, sei jedoch dem Leistungskatalog noch nicht hinzugefügt. Es sei hier durch die ärztlichen Unterlagen glaubhaft gemacht, dass die vorgesehene Therapie Erfolg habe, sowie die entsprechende Eilbedürftigkeit. Der behandelnde Arzt habe bescheinigt, dass ohne die beantragte Therapie mit einem Progress zu rechnen sei. Die Voraussetzungen für die Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes seien bei der Sachlage im Zusammenhang mit der bestehenden Rechtsprechung und konkreten Erkrankung des Ast im Rahmen der summarischen Prüfung zu bejahen.
4
Aufgrund der Schwere der Krankheit und der Eilbedürftigkeit sei der gerichtliche Antrag begründet.
5
Die Antragsgegnerin erwidert, dass nach ihrer Ansicht die Klage im Hauptsacheverfahren keine Aussicht auf Erfolg habe. Es mangele daher an den Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG. Die Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes setze einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich sei, sei im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Der Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz umfasse nur Leistungen ab Antragseingang bei Gericht. Am 8.04.2020 sei eine Privatrechnung des Im. K. vom 30.03.2020 zur Kostenerstattung in Höhe von 7.524,13 € für den Behandlungszeitraum 10.02.2020 bis 16.03.2020 eingereicht worden. Mit Bescheid vom 16.04.2020 sei der Antrag abgelehnt worden. Im Widerspruchsverfahren sei der in der Widerspruchsbegründung vorgelegte Therapie- und Kostenplan des Im. K. in Höhe von 67.400 € eingereicht worden, mit Bescheid vom 10.07.2020 sei der Antrag auf Übernahme der weiteren Behandlung abgelehnt worden. Ein Widerspruch hiergegen sei nicht erfolgt. Somit sei lediglich die Ablehnung der Erstattung mit Bescheid vom 16.04.2020 im Verfahren S 2 KR 634/20 anhängig. Bezüglich der laufenden Therapie in K. sei kein Verfahren anhängig, so dass hierüber auch keine Entscheidung im einstweiligen Antragsverfahren ergehen könne.
6
Im August 2020 sei von Frau Dr. med. S. in Nürnberg ein Kostenübernahmeantrag für eine Behandlung mit dem Arzneimittel Keytrude (Wirkstoff Pembrolizumab) gestellt worden, dieser Antrag sei mit Bescheid vom 21.09.2020 abgelehnt worden. Ein Widerspruch hiergegen sei von Frau Dr. S. erhoben worden, allerdings ohne Unterschrift des Ast.
7
Am 2.11.2020 sei ein erneuter Antrag auf Kostenübernahme der Immuntherapie im I. eingegangen, der Ablehnungsbescheid sei mit Datum 17.11.2020 erteilt worden.
8
Der Ast beantragt,
1.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, ohne vorherige mündliche Verhandlung, dem Antragsteller die begonnene Therapie (individuell konzipierte und optimierte Immuntherapie) im Immun-Onkologischen Zentrum K. als Sachleistung vorläufig zu gewähren, bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren.
2.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen Kosten.
3.
Dem Antragsteller wird unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten ratenfreie Prozesskostenhilfe gewährt.
9
Die Ag beantragt
den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzuweisen.
10
Mit Beschluss vom 1.12.2020 wurde dem Ast auf seinen Antrag hin Prozesskostenhilfe (ohne Ratenzahlung) gewährt.
11
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Akten im Verfahren S 2 KR 634/20 sowie die Verwaltungsakte der Ag verwiesen.
II.
12
Der beim zuständigen Sozialgericht Nürnberg gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet. Die Ag wird daher verpflichtet, der Ast vorläufig ab Antrag bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, beschränkt zunächst auf sechs Behandlungsblöcke, die beantragte Krankenbehandlung zu gewähren.
13
Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierunter fallen die praktisch häufigen Fälle eines Verpflichtungs- oder Leistungsbegehrens, in denen es um die vorläufige Begründung oder Erweiterung einer Rechtsposition geht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) voraus, dass der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein materielles Recht zusteht, für das er einstweiligen Rechtsschutz beantragen kann (Anordnungsanspruch) und dass wesentliche Nachteile drohen, die nach den Umständen des Einzelfalles unter Abwägung der widerstreitenden Interessen ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache als unzumutbar erscheinen lassen (Anordnungsgrund).
14
Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens liegen in der Sicherung der Entscheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheprozess zu ermöglichen. Es will nichts anderes, als allein wegen der Zeitdimension der Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwicklungen zu sichern und irreparable Folgen auszuschließen und der Schaffung vollendeter Tatsachen vorzubeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung im Nachhinein als rechtwidrig erweist. Hingegen dient das vorläufige Rechtsschutzverfahren nicht dazu, unter Abkürzung dieses Verfahrens geltend gemachte materielle Rechtspositionen vorab zu realisieren. Die Sozialgerichte dürfen sich bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Vielmehr verlangt Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache immer dann, wenn Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile drohen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet.
15
Besteht jedoch die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. In diesem Fall hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren. Dabei ist in eine Folgenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat.
16
Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass die Sozialgerichte die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, dabei aber die ebenfalls der Sicherung des Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus den Augen verlieren dürfen. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen.
17
Die Ag ist nach dem Fünften Sozialgesetzbuch - Krankenversicherung (SGB V) zur ärztlichen Behandlung des bei ihr versicherten Ast einschließlich der Versorgung mit den für eine Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt allerdings den sich aus §§ 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Allein ein im Einzelfall positiver Behandlungserfolg oder die Befürwortung einer Therapie durch einzelne Ärzte begründet noch keine Leistungspflicht der Krankenkasse (BSG, Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 27/02 R - m.w.N.).
18
Die einzelnen Methoden der beantragten Behandlung sindsoweit ersichtlichalle, jedenfalls einzeln, Gegenstand von schulmedizinischen Forschungen. Ihre Therapiewirksamkeit ist nach den Unterlagen nicht evident belegt, aber auch umgekehrt nicht ausgeschlossen. Die konkrete Kombination, individualisiert auf die Behandlung des Ast ausgelegt, ist nicht unschlüssig und ist die Behandlungsansätze finden nach den ärztlichen Darlegungen in Konzepten der Tumorbehandlung jenseits der Chemotherapie auch in schulmedizinischer Hinsicht, jedenfalls überwiegend, Anwendung. Insgesamt lässt sich die Frage, ob die Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung nach dem Krankheitsverlauf während der bereits erfolgten Behandlung spricht, nicht ausschließen.
19
Die Therapie durch das I. verlängert möglicherweise das Leben des Ast bzw. mildert die Erkrankung. Dafür sprechen die vorliegenden ärztlichen Unterlagen. Dagegen stehen hohe Kosten, welche die Ag vorzustrecken hat.
20
Die Folgenabwägung hat hier mit Einschränkungen zugunsten des Ast zu erfolgen.
21
Der Ast hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten nach den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG, 6.12.2005, 1 BvR 347/98) entwickelten, und mittlerweile in § 2 Abs. 1a SGB V normierten besonderen Anforderungen an das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung. Nach § 2 Abs. 1 a SGB V hat die ASt einen Anspruch auf Übernahme der Kosten unter folgenden Voraussetzungen:
22
a. Es muss eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliegen.
23
b. Für diese Erkrankung darf eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stehen.
24
c. Durch die Behandlung muss eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen.
25
Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist nicht auf Fälle einer bestimmten Art der ärztlichen Behandlung beschränkt, sondern erfasst auch die Fälle, in denen der Anspruch auf die Versorgung mit einem Arzneimittel gerichtet ist (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006, SozR 4-2500 § 31 Nr. 4).
26
a) Der Ast leidet unter einem intrahepatischen Gallengangskarzinom und sekundärer bösartiger Neubildung der Leber und der intrahepatischen Gallengänge. Dabei handelt es sich unstreitig um eine lebensbedrohliche bzw. regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung.
27
b) In der ärztlichen Stellungnahme des I. an die Ag vom 6.05.2020 und im Therapiebericht vom 9.03.2020, 30.03.2020, 8.05.2020, 19.06.2020, 17.07.2020, 21.08.2020 und 30.10.2020 legen die behandelnden Ärzte dar, dass eine Progression unter der Standard-Chemotherapie (Chemotherapie mit Cisplatin + Gemcitabin alle 14 Tage) erfolgt sei. Sodann sei ein 5-tägiger Behandlungsblock (adjuvant zur Chemotherapie) zur Initiierung des immunogenen Zelltods (ICD) mittels loko-regionaler modulierter Elektrohyperthermie (mEHT) im oberen Abdomen in Verbindung mit onkolytischer Virotherapie mit Newcastle Disease Virus (NDV), Immun-Monitoring mittels PanTum-Test + Ozon Therapie erfolgt, diese Behandlung wurde bis Oktober 2020 durchgeführt. Im Schreiben des I. vom 23.04.2020 ist dargelegt, dass das Tumorgeschehen sich an den erhöhten Tumormarkern zeige, jedoch unter der durchgeführten Immun-Therapie eine abfallende Tendenz zeige. Unter der adjuvanten Immuntherapie zur Chemotherapie sehen die behandelnden Ärzte durch den Anstieg von APO-10 und TKTL-1 die Induktion des immunogenen Tumorzelltods.
28
Die Ag hat in einem Aktenvermerk vom 7.07.2020 selbst dargelegt, dass es sich bei der Erkrankung des Klägers um eine regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit handelt und dass die bislang erfolgten Standard-Therapien zu keinem positiven Heilungsverlauf geführt haben und auch ausgeschöpft sind. Die Ablehnung der Kostenübernahme (im Hauptsacheverfahren) durch das I. erfolgte mit der rechtlichen Begründung, dass ein Kostenerstattungsanspruch für selbstbeschaffte Leistungen nur dann in Betracht komme, wenn die selbst beschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen gehört oder unaufschiebbar gewesen sei, wofür keine Anhaltspunkte vorlägen. Auch sei kein Antrag auf Kostenübernahme vor Durchführung der Behandlung gestellt worden.
29
c) Die verfügbare Datenlage bietet eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss, vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98) lässt ein solches abgesenktes Evidenzniveau ausreichen, wenn es darum geht, einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, eine nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode zur Verfügung zu stellen. Wegen der Gefahr eines tödlichen Verlaufs bei faktischer Alternativlosigkeit sinken darüber hinaus die Anforderungen an den Nachweis einer positiven Nutzen-Risiko-Relation.
30
Der Ast wurde von März bis einschließlich Oktober 2020 mit der Immuntherapie des I. behandelt. Seit Beginn der Behandlung hat sich der Krankheitsverlauf nach den ärztlichen Darlegungen stabilisiert, es ist sogar zu einer Remission gekommen. Dies spricht für eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
31
In diesem Eilverfahren ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage, insbesondere unter Hinzuziehung sachverständiger Hilfe, nicht möglich. Nach den Angaben der behandelnden Ärzte hat sich der Gesundheitszustand des Ast seit der Immun-Therapie stabilisiert. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Gefahr durch die Erkrankung für das Leben des Ast sich jederzeit verwirklichen kann. Es ist daher eine kurzfristige Entscheidung notwendig. Aus diesem Grund scheiden auch die weitere Einholung von Berichten der behandelnden Ärzte und die Beiziehung von weiteren ärztlichen Unterlagen aus.
32
In einem solchen Fall ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, in der sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.02.2007, Az.: 1 BvR 3101/06). Die Schwere der Erkrankung der Ast ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Die behandelnden Ärzte sehen keine Möglichkeit der Behandlung mit zugelassenen Therapiealternativen. Auch die Beklagte hat dies in den Akten vermerkt, dass Standard-Therapien ausgeschöpft seien Vorliegend wurde der Ast jedoch bereits für mehrere Monate mit der Immuntherapie behandelt und sein Zustand hat sich durch die Behandlung nach den vorliegenden ärztlichen Darlegungen stabilisiert oder sogar verbessert.
33
Vor diesem Hintergrund haben die Interessen der Ag an einer wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung zurückzutreten. Auch wenn nur eine Aussicht auf eine zeitlich befristete Stabilisierung des Zustandes des Ast besteht, sind im Rahmen der Folgenabwägung die Interessen des Ast auf sein Recht auf Leben höher anzusetzen, als die wirtschaftlichen Interessen der Ag, die u. a. im Grundsatz des § 12 Abs. 1 SGB V ihren Niederschlag finden.
34
Insbesondere ist hier auch darauf hinzuweisen, dass die Ag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keine medizinische Stellungnahme eingebracht hat, sondern die Ablehnung auf rechtliche Argumente stützt, insbesondere darauf, dass kein Antrag vor Durchführung des ersten Behandlungszeitraums bis Oktober 2020 gestellt war und aus rechtlichen Gründen eine Kostenerstattung nicht erfolgen könne.
35
Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens ist aber, dass hier die „individuell konzipierte und optimierte Immuntherapie“ im I. vorläufig als Sachleistung beantragt ist. Verfahrensgegenständlich ist, jedenfalls soweit es um zukünftige Behandlungen geht, ein Sachleistungsanspruch. Streitgegenstand ist hier kein Kostenerstattungsanspruch für erfolgte Behandlung im Zeitraum März bis Oktober 2020. Die Fragen hierzu sind im Hauptsacheverfahren zu klären.
36
Da ein Heilversuch naturgemäß zeitlichen Beschränkungen unterliegt, wurde unter Berücksichtigung der Interessen der Ag eine Beschränkung auf sechs Behandlungsblöcke angeordnet. Falls darüber hinaus ein weiterer Bedarf an der Therapie besteht, wäre ein erneuter Antrag zu stellen unter Darlegung der bisherigen Therapieergebnisse.
37
Der Ast hat glaubhaft gemacht, die Behandlungskosten nicht aus Vermögen oder laufenden Einnahmen vorstrecken zu können. Der Ast bezieht Leistungen ach dem SGB II.
38
Darüber hinaus ist das Erfordernis einer dringlichen Regelung hier nur für die Zukunft gegeben, da nur für eine Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfes die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung gegeben ist. Der Ast hat bisher keine Leistungen an das I. erbracht, das I. war beim Behandlungszyklus von März bis Oktober 2020 in Vorleistung getreten.
39
Die Kostenfolge ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.