Inhalt

LArbG München, Urteil v. 10.08.2020 – 6 Sa 258/19
Titel:

Verpflegungsmehraufwendung - Auslegung eines Tarifvertrages

Normenketten:
TVG § 1, § 3 Abs. 1
EStG § 9 Nr. 4
Manteltarifvertrag des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern vom 1.10.2014 (MTV) § 18 Nr. 3
Leitsatz:
Ein im Nahverkehr eingesetzter Auslieferungsfahrer, der an der Niederlassung seines Arbeitgebers nur im Wesentlichen sein Fahrzeug be- und entlädt, sich daneben aber in seinem Bezirk auf Auslieferungsfahrt befindet, hat keine regelmäßige Arbeitsstätte an der Niederlassung. Er kann daher keine Mehraufwandsentschädigung nach § 18 Nr. 3 MTV Bay. Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe beanspruchen.
Schlagworte:
Tarifliche Verpflegungsmehraufwendung, Mehraufwandsentschädigung, Tarifvertrag, Auslegung, Arbeitsstätte
Vorinstanz:
ArbG München, Endurteil vom 26.02.2019 – 17 Ca 8073/18
Rechtsmittelinstanz:
BAG Erfurt, Urteil vom 27.07.2021 – 9 AZR 449/20
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2020, 42107

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 26.02.2019 - 17 Ca 8073/18 abgeändert und die Klage auf Kosten des Klägers abgewiesen.
II. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten auch im Berufungsverfahren um die Höhe der dem Kläger zustehenden Spesenzahlungen.
2
Der Kläger ist seit 8. Aug. 2006 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Paket-LogistikBranche mit deutschlandweit ca. 15.000 Mitarbeitern, als Paketzusteller in Vollzeit (28,5 h/Woche) bei einem monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt € 4.400,00 beschäftigt. Sie betreibt in ihrem Betrieb in Y. ein sog. Center (Operation der Paketzustellung) mit derzeit ca. 300 Mitarbeitern, u.a. ca. 110 Paketzusteller in Vollzeit.
3
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme, aber auch kraft beidseitiger Tarifbindung, die Tarifverträge des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern Anwendung. Im aktuellen Arbeitsvertrag des Klägers vom 1. Nov. 2014 (Anlage B1, Bl. 185 ff. d. A.) ist u.a. vorgesehen:
„…
§ 1 Tätigkeit und Aufgabengebiete
2. …
Dienstsitz des Mitarbeiters ist der Z.-Betrieb in Y..
Wird der Mitarbeiter als Paketzusteller eingesetzt, so umfasst sein Aufgabengebiet die Zustellung und Abholung von Paketsendungen, damit verbundene Schreib- und Inkassotätigkeiten sowie im Bedarfsfall Be- und Entladetätigkeiten und Wagenpflege.
§ 2 Anwendbare Tarifverträge
Für das Arbeitsverhältnis gelten die Tarifverträge des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern in ihrer jeweils gültigen Fassung.
…“
4
Im anwendbaren Manteltarifvertrag des Speditions-, Transport- und Logistikgewerbe in Bayern vom 1. Okt. 2014 (Auszug Anlage B3, Bl. 198 ff., 210 d. A.; nachfolgend MTV Logistik) ist u.a. geregelt:
„…
§ 18 Spesen
3. Arbeitnehmer, die aufgrund der ihnen übertragenen Arbeiten vorüber gehend von der regelmäßigen Arbeitsstätte abwesend sind und Kraftfahrer im Inlandsfernverkehr erhalten die steuerlichen Spesenpauschalsätze Inland in ihrer jeweils gültigen Fassung vergütet. Für die Entstehung des Spesenanspruches ist die Einhaltung der steuerlichen Bestimmungen (EStG) Voraussetzung.
…“
5
Der Kläger erhält einen Spesensatz von € 6,00 kalendertäglich bei einer Abwesenheit von mehr als 8 h, der dem früheren steuerlichen Spesensatz entsprochen hatte; der steuerliche Spesensatz seit dem 1. Jan. 2014 beträgt € 12,00 kalendertäglich, bei mehr als 8 h Abwesenheit von der Wohnung/Arbeitsstätte. § 9 Abs. 4a EStG i. d. F. seit 1. Jan. 2014 regelt dazu:
„… Wird der Arbeitnehmer außerhalb seiner Wohnung und ersten Tätigkeitsstätte beruflich tätig (auswärtige berufliche Tätigkeit), ist zur Abgeltung der tatsächlich entstandenen, beruflich veranlassten Mehraufwendungen eine Verpflegungspauschale anzusetzen. Diese beträgt:
...
3. 12,00 € für den Kalendertag, an dem der Arbeitnehmer ohne Übernachtung außerhalb seiner Wohnung mehr als acht Stunden von seiner Wohnung und der ersten Tätigkeitsstätte abwesend ist; beginnt die berufliche Tätigkeit an einem Kalendertag und endet am nachfolgenden Kalendertag ohne Übernachtung, werden 12,00 € für den Kalendertag gewährt, an dem der Arbeitnehmer den überwiegenden Teil der insgesamt mehr als acht Stunden von seiner Wohnung und der ersten Tätigkeitsstätte abwesend ist.“
6
Die Beklagte hatte bereits vor Eingreifen ihrer Tarifbindung im Jahr 1994 den Paketzustellern eine arbeitstägliche Mehraufwendungsentschädigung entrichtet, wenn diese länger als acht Stunden unterwegs waren. Die Entschädigung war in unterschiedlicher Höhe, zuletzt in den 1990´er Jahren in Höhe von 8,00 DM bezahlt worden. Nach der Währungsumstellung zahlte die Beklagte € 4,09. Seit August 2006 leistet sie Zahlungen in Höhe von € 6,00, was dem damaligen steuerlichen Satz entsprach.
7
Mit Schreiben vom 21. Juni 2016 verlangte der Kläger erstmals die Entrichtung von Mehraufwendungszahlungen in Höhe von € 12,00, unter Berufung auf die tariflichen Regelungen, rückwirkend für 3 Monate (Anlage B4, Bl. 212 f. d. A.). Er hatte im Zeitraum Marz 2018 bis Dezember 2018 nachfolgende Spesensätze erhalten:
- März 2018 € 120,00 (20 Tage á € 6,00)
- April 2018 € 96,00 (16 Tage á € 6,00)
- Mai 2018 € 90,00 (15 Tage á € 6,00)
- Juni 2018 € 84,00 (14 Tage á € 6,00)
- Juli 2018 € 132,00 (22 Tage á € 6,00)
- August 2018 € 66,00 (11 Tage á € 6,00)
- September 2018 € 102,00 (17 Tage á € 6,00)
- Oktober 2018 € 126,00 (21 Tage á € 6,00)
- November 2018 € 120,00 (20 Tage á € 6,00)
- Dezember 2018 € 60,00 (10 Tage á € 6,00).
8
Mit seiner am 7. Aug. 2018 per Telefax beim Arbeitsgericht München eingegangenen und der Beklagten am 11. Aug. 2018 zugestellten Klage vom 7. Aug. 2018 macht der Kläger weiterhin die erhöhte Mehraufwendungsentschädigungszahlung geltend.
9
Er hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, ihm stehe der erhöhte Spesensatz nach § 18 MTV Logistik für diejenigen Tage, die er länger als acht Stunden aus Y. abwesend sei, zu. Eine regelmäßige oder unregelmäßige Abwesenheit von der Betriebsstätte sei unerheblich; es komme allein auf die Dauer der Abwesenheit von seinem regelmäßigen Arbeitsort Y. an. Aus der tariflichen Regelung ergebe sich nichts, dass die Norm nur für Vertriebsmitarbeiter, nicht aber für Ausfahrer gelte. Sinn und Zweck ergäben auch nicht, dass er auszunehmen sei.
10
Er hat beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, € 522,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat August 2018 einen Betrag in Höhe von € 66,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat September 2018 einen Betrag in Höhe von € 42,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.
4. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat Oktober 2018 einen Betrag in Höhe von € 126,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.
5. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat November 2018 einen Betrag in Höhe von € 120,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.
6. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für den Monat Dezember 2018 einen Betrag in Höhe von € 60,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an den Kläger zu zahlen.
11
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
12
Sie hat die tariflichen Voraussetzungen einer höheren Spesenzahlung nicht für gegeben erachtet. Jedenfalls sei ein dahingehender Anspruch verwirkt. Die Tarifnorm treffen nach einer Auskunft des Arbeitgeberverbands (R.) auf den klassischen Auslieferungsfahrer nicht zu. Diese seien nicht nur vorübergehend, sondern regelmäßig abwesend. Ein Vergleich mit Fahrern im Inlandsfernverkehr verbiete sich, die höhere Kosten für Speisen und Getränke an Raststätten und Bahnhöfen hätten, aber auch länger von der Familie weg seien. Jedenfalls sei die Forderung verwirkt, da der Kläger bis zu seiner Geltendmachung widerspruchslos für € 6,00 Spesenersatz gearbeitet habe. Diese Weiterarbeit erfülle auch das Umstandsmoment.
13
Das Arbeitsgericht München hat der Klage mit Endurteil vom 26. Feb. 2019 (Bl. 267 ff. d. A.) vollinhaltlich auf Kosten der Beklagten stattgegeben und die Berufung für die Beklagte zugelassen. Wegen des (un-)streitigen Sachvortrags der Parteien im Übrigen und der maßgeblichen rechtlichen Erwägungen des Erstgerichts wird auf diese Entscheidung Bezug genommen.
14
Im Wesentlichen führt das Arbeitsgericht aus, der Anspruch auf den Differenzlohn sei für den fraglichen Zeitraum nach der unstreitig anwendbaren Norm des § 18 Nr. 3 MTV Logistik begründet. Die geltend gemachten Beträge seien auch nicht verfallen. Die Auslegung der vorgenannten Tarifnorm führe zu einem Anspruch des Klägers. Nach dem Normwortlaut sei er an den fraglichen und unter den Parteien nicht streitigen Tagen mehr als acht Stunden seiner Arbeitsstätte ferngeblieben. Die nicht vorübergehende Abwesenheit, sondern die beklagtenseits geltend gemachte regelmäßige Abwesenheit sei nicht verständlich. Der Gegensatz zu „vorübergehend“ sei „dauerhaft“, nicht, wie die Beklagte ausführe „regelmäßig“. Letzteres Wort hätten die Tarifvertragsparteien gerade nicht verwendet. Trotz der ohnehin eindeutigen Wortauslegung bestätige sich dieses Ergebnis auch durch den systematischen Zusammenhang und den Zweck der Tarifnorm. Wenn Kraftfahrer im Inlandsfernverkehr erwähnt seien, so hätte es nahegelegen, Fahrer im Inlandsnahverkehr ausdrücklich auszuschließen, wäre dies beabsichtigt gewesen. Die Regelung wolle Belastungen durch längere Abwesenheit ausgleichen. Dieser Zweck widerspreche einem Verständnis, Nahverkehrsfahrer auszunehmen. Eine Verwirkung sei nicht gegeben. Vergütungsansprüche könnten grundsätzlich nicht vor Ablauf der Verjährungsfrist verwirken. Im Übrigen seien die Ansprüche innerhalb tariflicher Verfallfristen geltend gemacht worden, weswegen kein Raum für die Annahme eines Umstandsmoments gegeben sei.
15
Gegen diese ihr am 18. Apr. 2019 zugestellte Entscheidung hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 7. Mai 2019, der am selben Tag per Telefax beim Landesarbeitsgericht eingegangen war, Berufung eingelegt und diese nach der auf ihren Antrag hin erfolgten Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 18. Juli 2019, mit Schriftsatz vom 18. Juli 2019, eingegangen per Telefax am selben Tag, begründet.
16
Sie vertritt die Ansicht, dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch nicht zu. Das Arbeitsgericht habe die Auslegungsgrundsätze verkannt und unzutreffend angewendet. Tariflich sei nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik nur bei „vorübergehender“ Abwesenheit vom Arbeitsort die Verpflegungspauschale zu entrichten. Eine solche sei beim Kläger schon nach allgemeinen Sprachgebrauch nicht gegeben. Die Abwesenheit sei Normalzustand. Auch fehle es an einer „regelmäßigen Arbeitsstätte“ in Y. Dabei handle es sich um einen steuerrechtlichen Fachbegriff nach § 9 EStG, worunter eine Betriebsstätte oder ein Betrieb zu verstehen sei, den der Arbeitnehmer mit einer gewissen Nachhaltigkeit aufsuche, da dort die vertraglich geschuldete Leistung typischer Weise schwerpunktmäßig zu erbringen sei. Dies sei beim Kläger ebenso nicht der Fall. Bei ihm sei keine regelmäßige Arbeitsstätte im vorgenannten Sinne gegeben. In Y. befinde sich nur sein Dienstsitz. Das Fehlen einer Andeutung, dass § 18 Nr. 3 MTV Logistik nur für Vertriebsmitarbeiter geschaffen sei, sei unerheblich; maßgeblich sei allein, dass der Nahverkehr nicht positiv erwähnt sei.
17
Auch die Systematik sei erstinstanzlich nicht zutreffend gewürdigt. Insoweit ergebe sich auch keine Abweichung von der Wortauslegung. Die Berechtigten seinen in der Norm positiv aufgezählt.
18
Zudem gebe es auch rechtfertigende Unterschiede zwischen Fahrern im Nah- und Fernverkehr, weswegen nach Sinn und Zweck eine Differenzierung möglich sei. Fernverkehrsfahrer bewegten sich vorwiegend auf Autobahnen und hätten höhere Kosten für Verpflegung an Autobahnraststätten aufzubringen. Auch seien sie länger von ihren Familien entfernt.
19
Schließlich belege auch die bei Zweifeln zu berücksichtigende Entstehungsgeschichte, mit der sich das Arbeitsgericht nicht auseinandergesetzt habe, ihr Ergebnis.
20
Die Verletzung der Auslegungsgrundsätze durch das Arbeitsgericht seien entscheidungserheblich. Ohne diese wäre das Arbeitsgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt. Jedenfalls habe das Arbeitsgericht die hilfsweise eingewandte Verwirkung entscheidungserheblich verletzt.
21
Ergänzend nimmt die Beklagte auf ihre erstinstanzlichen Ausführungen Bezug.
22
Sie beantragt
I. Das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 26.02.12019, Az. 17 Ca 8073/18, wird abgeändert.
II. Die Klage wird abgewiesen.
23
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
24
Der Kläger verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und verweist vorweg zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen vor dem Arbeitsgericht.
25
Nach richtigem Verständnis sei er vorübergehend von seiner regelmäßigen Arbeitsstätte abwesend. Inwiefern die Änderungen in § 9 Abs. 4 EStG ab 1. Jan. 2014 Einfluss auf die vorliegende Problematik haben sollen, erschließe sich nicht.
26
Er habe täglich in Y. zu erscheinen; die Halle dürfe er erst ab 8:40 Uhr betreten, weswegen die vorbereitenden Aufgaben, welche auch Arbeitszeit seien, ab 9:00 Uhr zu erledigen seien. Er müsse den Zustellcomputer holen und habe die Arbeit vorzubereiten (Laden von Daten). Zudem müsse er das notwendige Arbeitsmaterial vorbereiten (Paketbenachrichtigungszettel, Frachtbriefe, Abrechnungscouverts etc.). Dann finde regelmäßig ein PCM statt, bei dem das Management vor den Zustellern spreche. Anschließend führe er die Abfahrtkontrolle am Fahrzeug durch, ehe er das Center verlassen könne.
27
§ 18 Nr. 3 MTV Logistik diene dazu, einem Arbeitnehmer den finanziellen entstehenden Mehraufwand auszugleichen, wenn er regelmäßig von einer Arbeitsstätte aus, gleich einer Basisstation arbeite, faktisch aber mehr als 8 Stunden pro Arbeitstag unterwegs sei. Ein Bezug auf steuerliche Vorschriften sei, entgegen der Ansicht der Beklagten, dem nicht zu entnehmen.
28
Die Tarifnorm sehe keine Positivbeispiele vor. Es sei daher unerheblich, dass auch seine Tätigkeit nicht positiv benannt sei. Die längeren Abwesenheitszeiten bei Fernfahrern von der Familie seien irrelevant; maßgeblich sei der erhöhte finanzielle Mehraufwand. Die Tarifgeschichte müsse danach nicht bemüht werden.
29
Die Ausführungen der Beklagten zur Verwirkung überzeugten nicht. Zu Recht gehe das Arbeitsgericht davon aus, dass innerhalb tariflicher Verfallfristen das Zeitmoment nicht erfüllt sei.
30
Soweit die Beklagte zu den Aufwandsentschädigungen vor seinem Eintritt vortrage, bestreite er dies mit Nichtwissen.
31
Das Landesarbeitsgericht hat Tarifauskünfte zum Verständnis von § 18 Nr. 3 MTV Logistik erholt. Wegen des Beweisthemas wird auf das Sitzungsprotokoll vom 15. Okt. 2019 (Bl. 407 d. A.), wegen der Beweisergebnisse auf die Auskunft der Q. (Bl. 449 d. A.) und die Auskunft des R. (LBS; Bl. 452 f. d. A.) Bezug genommen.
32
Wegen des Sachvortrags der Parteien im Einzelnen wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 7. Aug. 2018 (Bl. 24 ff. d. A.), vom 14. Aug. 2018 (Bl. 49 d. A.), vom 13. Sept. 2018 (Bl. 55 ff. d. A.), vom 17. Okt. 2018 (Bl. 74 ff. d. A.), vom 21. Nov. 2018 (Bl. 151 ff. d. A.), vom 26. Nov. 2018 (Bl. 231 d. A.), vom 9. Jan. 2019 (Bl. 242 ff. d. A.), vom 22. Jan. 2019 (Bl. 255 ff. d. A.), vom 21. Aug. 2019 (Bl. 391 ff. d. A.), vom 23. Jan. 2020 (Bl. 440 ff. d. A.) und vom 12. Juni 2020 (Bl. 460 d. A.), der Beklagten vom 21. Nov. 2018 (Bl. 168 ff. d. A.), vom 7. Mai 2019 (Bl. 301 ff. d. A.), vom 18. Juli 2019 (Bl. 354 ff. d. A.), vom 9. Okt. 2019 (Bl. 402 ff. d. A.), vom 11. Dez. 2019 (Bl. 427 ff. d. A.) und vom 15. Juni 2020 (Bl. 464 ff. d. A.) - einschließlich evtl. Anlagen - sowie auf die Sitzungsprotokolle vom 21. Feb. 2019 (Bl. 261 f. d. A.), vom 15. Okt. 2019 (Bl. 407 ff. d. A.) und vom 10. Aug. 2020 (Bl. 474 ff. d. A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die statthafte Berufung hat in der Sache Erfolg.
I.
34
Sie ist nach § 64 Abs. 1, 2b ArbGG statthaft sowie in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519 Abs. 2, § 520 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 66 Abs. 1 Sätze 1, 2, 5 ArbGG, § 222 ZPO).
II.
35
In der Sache hat die Berufung Erfolg.
36
Dem Kläger steht kein Anspruch auf eine höhere Mehraufwandsentschädigung als die von der Beklagten bezahlte nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik zu. Zwar findet der Tarifvertrag kraft beidseitiger Tarifbindung der Parteien (§ 3 Abs. 1 TVG) auf das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis Anwendung. Doch ist der Kläger nicht, „… aufgrund der“ ihm „übertragenen Arbeiten vorübergehend von der regelmäßigen Arbeitsstätte abwesend“. Denn bei der Niederlassung in Y. handelt es sich nicht um die regelmäßige Arbeitsstätte des Klägers, von der er bei Vornahme der Ausfahrertätigkeiten abwesend wäre; vielmehr handelt es sich um seine regelmäßige Arbeitsaufgabe, Pakete auszuliefern bzw. mitzunehmen und in der Niederlassung abzuliefern. Entsprechend spricht auch der Kläger von Vorbereitungstätigkeiten, die er am Standort Y. zu erledigen hat. Nimmt man den Arbeitsplatz des Klägers nicht in Y., sondern in seinem Auslieferungsbezirk, also gleichsam „in seinem Auslieferungsfahrzeug“ an, so ist er von diesem nicht mehr als 8 Stunden täglich abwesend, weswegen keine Aufwandsentschädigung nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik verlangt werden kann. Ein Anspruch darauf besteht allerdings auch nicht auf vertraglicher Basis. Die Beklagte hatte eine Abwesenheitsentschädigung, welche sie auch heute noch - unterhalb des tariflichen Satzes - entrichtet, schon vor ihrer Tarifbindung bezahlt. Diese hatte sie zwar zwischen 2004 und 2006 - zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt - auch für Auslieferungsfahrer an den steuerlichen Satz angepasst. Der Kläger trägt allerdings keine Umstände vor, die Beklagte damit habe gleichzeitig bekundet oder bekunden wollen, stets den steuerlichen Satz entrichten zu wollen. Allein die fehlende Jeweiligkeitsklausel spricht - entgegen der Annahme der Beklagten - zwar nicht gegen eine solche Absicht (vgl. BAG v. 20. 4. 2012 - 9 AZR 504/10, NZA 2012, 982); allerdings trägt der Kläger keinerlei Umstände dazu vor, dass diese Anpassung eine Orientierung an den steuerlichen Sätzen auch für die Zukunft mit beinhaltet hat oder beinhalten sollte.
37
1. Der Kläger hat nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik nach Auslegung des Tarifvertrages keinen Anspruch auf eine höhere Aufwandsentschädigung für den streitgegenständlichen Zeitraum, als von der Beklagten bezahlt. Ein solcher lässt sich aus der Tarifnorm nicht herleiten.
38
a. Ein vom Kläger geltend gemachter Anspruch ergibt sich nicht aus der 2. Alternative des § 18 Nr. 3 MTV Logistik. Diese passt nicht auf die klägerische Tätigkeit und wird von ihm auch nicht zur Begründung des geltend gemachten Differenzanspruches herangezogen.
39
b. Aus § 18 Nr. 3 1. Alt. MTV Logistik kann aber ebenso kein dahingehender Anspruch abgeleitet werden. Diese Tarifregelung enthält insoweit keine eindeutige Normierung, weswegen im Wege der Auslegung zu klären ist, ob ein Anspruch des Klägers auf Differenzaufwendungsersatz besteht. Dies ist letztlich zu verneinen.
40
aa. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags erfolgt nach den bestehenden Regeln zur Auslegung von Gesetzen. Auszugehen ist zunächst vom Wortlaut des Tarifvertrages. Dabei ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Tarifwortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, wenn und soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Ferner ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, aus dem sich Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien ergeben können und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend zu ermitteln ist. Ergeben sich hieraus keine zweifelsfreien Auslegungsergebnisse, so können ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien, wie etwa die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung, ergänzend herangezogen werden. Jeweils ist aber die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse zu berücksichtigen, wobei im Zweifel derjenigen Tarifauslegung der Vorzug gebührt, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG v. 12. 8. 2015 - 7 AZR 592/13, NZA 2016, 173 Rz. 16; ferner BAG v. 10. 2. 2015 - 3 AZR 904/13, juris Rz. 27; BAG v. 22. 1. 2014 - 7 AZR 243/12, NZA 2014, 483 Rz. 28; LAG München v. 19. 11. 2019 - 6 Sa 370/19, BeckRS 2019, 39683, unter II 1 a bb (2) (b)).
41
bb. Ausgehend von Tarifwortlaut ergeben sich keine Anhaltspunkte für die verpflichtend höhere Zahlung eines Aufwendungsersatzanspruches an den Kläger. Dazu bedarf es zunächst der Klärung des Begriffes der „Arbeitsstätte“, von welcher der Kläger vorübergehend abwesend wäre. Die Arbeitsstätte könnte zum einen, wovon das Arbeitsgericht ausgeht, die Niederlassung der Beklagten in Y. sein, aber auch der Bezirk - untechnisch gesprochen: das Auto - in dem bzw. mit dem der Kläger die Auslieferung vornimmt.
42
Ungeachtet der Frage, ob der Begriff der Arbeitsstätte „steuerrechtlich“ zu definieren ist, wie die Beklagte meint, ist die Begrifflichkeit in § 18 Nr. 3 MTV Logistik nach Ansicht der Kammer dahingehend zu verstehen, dass eine Arbeitsstätte gegeben ist, an welcher der Arbeitnehmer primär oder zumindest in nennenswertem Umfang seiner vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nachzugehen hat. Erbringt ein Arbeitnehmer an einem bestimmten Ort nur gelegentlich bestimmte Tätigkeiten oder erbringt er diese zwar regelmäßig an diesem Ort, doch handelt es sich bei dabei nur um Nebenarbeiten, wie etwa Vor- oder Nachbereitungstätigkeiten, so handelt es sich bei dem Ort nicht um den Arbeitsort des Arbeitnehmers. Daran ändert sich nichts, dass diese Aufgaben erforderlich sind, um nachfolgend die Arbeitstätigkeit erbringen zu können. Vielmehr setzt der Arbeitsort voraus, dass die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung hier (im Wesentlichen) erfüllt wird. Der Arbeitnehmer erhält dann Aufwandsentschädigung, wenn er von dieser Arbeitsstätte (mehr als 8 Stunden) vorübergehend abwesend ist.
43
Danach handelt es sich bei Y. nicht um die Arbeitsstätte des Klägers. Die Abwesenheit seiner Person von Y. begründet daher keinen Anspruch auf die Entrichtung der tariflichen Aufwandsentschädigung. Denn der Kläger erbringt seine Arbeitsleistung im Wesentlichen üblicherweise nicht in Y. selbst; dort verrichtet er allein Vorbereitungstätigkeit, wie er sich selbst ausdrückt. Er hat den Zustellcomputer zu holen und vorbereiten, die Arbeitsmaterialien mitzunehmen und nach einem PCM-Gespräch am Fahrzeug eine Abfahrtskontrolle durchzuführen. Er bezeichnet dies im Schriftsatz vom 21. Aug. 2019 (Bl. 391 ff. d. A.) selbst als „vorbereitende Handlungen“, die aber noch keine unmittelbare Erfüllung der vertraglichen Pflichten darstellen und für sich keinen regelmäßigen Arbeitsort an dem Ort, da sie zu erbringen sind, begründen. Entsprechend hat beispielsweise auch ein Bauarbeiter, der seine Werkzeuge morgens jeweils im Magazin am Sitz der Baufirma abzuholen und abends dort zurückzubringen hat, seinen Arbeitsplatz nicht an der Niederlassung der Baufirma, wo sich auch das Magazin befindet, sondern auf der jeweiligen Baustelle. Übertragen auf den Kläger: Dieser hat seinen regelmäßigen Arbeitsplatz nicht an dem Ort, an dem er die auszuliefernden Pakete zu Schichtbeginn aufnimmt und evtl. nicht auslieferbare oder unterwegs mitgenommene Pakete zu Schichtende abliefert, sondern in seinem Bezirk, in dem er die Liefertätigkeiten verrichtet.
44
Nimmt man aber den Arbeitsplatz des Klägers im Auslieferungsbezirk (im Fahrzeug) an, so ist er von diesem nicht vorübergehend abwesend, wenn er sich auf Auslieferungsfahrt befindet, weswegen die Voraussetzungen einer Aufwandentschädigung nach § 18 Nr. 3 MTV Logistik nicht erfüllt ist.
45
cc. Die Systematik der Tarifnorm steht dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Ausdrücklich sind nur als anspruchsberechtigte Kraftfahrer im Inlandsfernverkehr in § 18 Nr. 3 MTV Logistik genannt. Zwar ist dem Arbeitsgericht zuzugestehen, dass es nahegelegen hätte, Kraftfahrer im Inlandsnahverkehr ausdrücklich auszuschließen. Doch hatte es dessen nicht bedurft. Mit der unterbliebenen Nennung waren diese bereits ausgeschlossen.
46
Die Unterscheidung beider Berufsgruppen war vorliegend auch als sachgerecht anzusehen. Zwar stellt es kein Kriterium der Unterscheidung dar, dass Fernfahrer länger als im Nahverkehr eingesetzte von der Familie fern sind. Die Aufwendungsersatzzahlung stellt eine Entschädigung für einen (Verpflegungs-)Mehraufwand dar und soll nicht Abwesenheitszeiten von zu Hause ausgleichen. Allerdings trifft Fernfahrer ein deutlich höherer Aufwand, als Nahverkehrsfahrer. Diese befinden sich überwiegend auf Autobahnen und müssen im Rahmen der Verpflegung die höheren Preise von Autobahnraststätten entrichten, Auch die Körperpflege (Duschen) kostet für sie Geld. Demgegenüber mag bei Fahrern im Nahverkehr zwar auch die Verpflegung teurer sein, als die Einnahme häuslicher Mahlzeiten. Doch kommen diese üblicherweise täglich nach Hause, mit der Folge, dass zumeist die Einnahme eines Frühstücks oder des Abendessens zu Hause erfolgen kann. Mahlzeiten außer Haus beschränken sich damit zumeist auf das Mittagessen, während Fernfahrer alle Mahlzeiten aushäusig einnehmen müssen, solange sie unterwegs sind.
47
dd. Ebenso stehen die erholten Tarifauskünfte dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen.
48
Die Auskunft des R. entspricht im Ergebnis bereits der hier gefundenen Lösung, wenn dort ausgesagt ist, § 18 Nr. 3 MTV Logistik komme nicht zur Anwendung, da der Kläger dauerhaft von der Arbeitsstätte entfernt arbeite. Dies ist zwar in der Diktion unzutreffend, da sich der Kläger dauerhaft an bzw. in seiner Arbeitsstätte, dem Auslieferungsbezirk, befindet. Zudem wird - wie hier ebenso - auf die aufwändigeren Verpflegungsmehraufwendungen bei Fernfahrern gegenüber im Nahbereich eingesetzten Fahrern abgestellt.
49
Wenn die Gewerkschaft ver.di demgegenüber annimmt, das Be- und Entladen an einer Niederlassung erfülle bereits den Begriff der Arbeitsstätte und die Verpflichtung zur Zahlung einer Aufwandsentschädigung sei schon dann geschuldet, wenn der Arbeitnehmer im Übrigen von dieser Arbeitsstätte entfernt sei, so findet dies - wie gesehen - keine Stütze im Wortlaut der Norm. Mag eine solche Folge auch bei Abschluss des Tarifvertrags beabsichtigt gewesen sein, lässt sich am Wortlaut nicht ablesen, dass die Tarifpartner sich darauf geeinigt haben. Ebenso ist nicht zu erkennen, dass die Nennung des Inlandsfernverkehrs in § 18 Nr. 3 MTV Logistik nicht die Abgrenzung zum Nahverkehr betreffe, sondern eine Abgrenzung vom internationalen Verkehr nach dessen Absatz 4 darstelle. Ein Hinweis auf eine Bezugnahme dieses Begriffes auf § 18 Abs. 4 MTV Logistik findet sich im Text des Tarifvertrages nicht.
50
c. Auf die Ausführungen zur Verwirkung, bei denen nach Ansicht der Kammer dem arbeitsgerichtlichen Urteil vollinhaltlich zuzustimmen ist, kommt es daneben nicht mehr an.
51
2. Dem Kläger steht aber auch kein vertraglicher Anspruch auf die Differenzaufwen dungszahlungen zu. Denn es ist nach dem Vortrag des insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Klägers nicht zu erkennen, dass die zwischen 2004 und 2006 erfolgte Anpassung der freiwilligen Aufwendungsersatzzahlungen im Sinne einer generellen Anlehnung an die steuerlichen Sätze zu verstehen gewesen sei.
52
a. Die Anpassung der damals entrichteten Aufwendungsersatzleistungen an die steuerlichen Sätze kann nicht bereits Zukunftswirkung zukommen, als eine Jeweiligkeitsklausel damit verbunden worden wäre. Hätte die Beklagte kundgetan, künftig die jeweiligen steuerlichen Sätze entrichten zu wollen, wäre diese Folge eingetreten; allerdings ist eine solche Erklärung nicht erfolgt.
53
Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger die Vorgänge vor seinem Eintritt bei der Beklagten - zulässiger Weise - mit Nichtwissen bestritten hatte. Denn der Kläger ist hinsichtlich eines vertraglichen Versprechens darlegungs- und beweispflichtig. Bestreiten reicht nicht aus. Vielmehr hätte er positiv vortragen und ggf. zu beweisen, dass eine solche Klausel mit der Anpassung verbunden worden war. Solches behauptet er nicht.
54
b. Die fehlende Jeweiligkeitsklausel schließt aber die Annahme, die Beklagte habe eine an die steuerlichen Sätze angepasste Aufwendungsersatzleitung künftig erbringen zu wollen, nicht aus (vgl. BAG v. 20. 4. 2012, a.a.O.). Allerdings bedürfte es dafür besonderer Umstände, die einen dahingehenden Schluss erlaubten. Solche Umstände trägt der darlegungs- und beweispflichtige Kläger jedoch ebenso nicht vor.
III.
55
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
IV.
56
Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache war die Revision zuzulassen (§ 72 Abs. 2 ArbGG).