Inhalt

VG München, Urteil v. 08.09.2020 – M 12 K 20.1504
Titel:

Ausübung des Ermessens bei Festsetzung der sozialen Dringlichkeit der Wohnungssuche

Normenketten:
BayWoBindG Art. 5
DVWoR § 3 Abs. 3
Leitsätze:
1. Es ist im Falle eines Mangels an öffentlich geförderten Wohnungen nicht von vornherein unsachgerecht, wenn der Landkreis Wohnungssuchende, die außerhalb des Landkreises wohnen, hinter den im Landkreis ansässigen Personen zurückstuft. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus Art. 11 GG folgt nicht, dass durch den Staat am Ort der gewünschten Wohnsitznahme eine Wohnung zur Verfügung gestellt werden muss. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vormerkung für eine öffentlich geförderte Wohnung, Soziale Dringlichkeit der Wohnungssuche, Obdachlosigkeit, soziale Dringlichkeit, Wohnungssuche, Ermessen, Freizügigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2020, 41815

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleiche Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Neubewertung der sozialen Dringlichkeit ihrer Wohnungssuche im Landkreis S. ...
2
Sie bewohnt seit dem Jahr 2012 aufgrund eines Einweisungsbescheides infolge Obdachlosigkeit ein Zimmer eines Gästehauses in der Gemeinde E. ... im Landkreis F. ... Die Klägerin war ausweislich einer Meldebescheinigung auch zuvor nicht im Landkreis S. ... gemeldet. Die Kosten der Unterkunft wurden zunächst von der Gemeinde E. ... und werden nunmehr vom Jobcenter F. ... übernommen. Die Klägerin bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
3
Der Klägerin wurde bereits am 8. April 2016 ein Wohnberechtigungsschein nebst Vormerkung für eine öffentlich geförderte Wohnung für den Landkreis S. ... erteilt. Nach Ablauf des Wohnberechtigungsscheins am 8. April 2017 erfolgte zunächst kein neuer Antrag.
4
In einer E-Mail vom … Januar 2020 führte die Klägerin gegenüber dem Landratsamt S. ... aus, dass sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung finde. Sie habe infolge einer Investition in eine „Schrottimmobilie“ Insolvenz anmelden müssen und wohne dadurch seit mehreren Jahren in einer Notunterkunft. Hinzu komme, dass man die Daten über ihr Insolvenzverfahren bei einfacher Namenssuche auf der Suchmaschine Google finden könne.
5
In einer weiteren E-Mail vom … Februar 2020 führte die Klägerin aus, es gebe hinsichtlich der Notunterkunft keinen Einweisungsbescheid. Die Zahlungen für das Gästehaus seien zunächst von der Gemeinde E. ... übernommen worden, nunmehr erfolgten die Zahlungen durch das Jobcenter F. ...
6
Mit am 19. Februar 2020 beim Landratsamt S. ... eingegangenem Antragsformular beantragte die Klägerin erneut einen Wohnberechtigungsschein für öffentlich geförderten Mietwohnraum und die Vormerkung für Wohnungen in den Gemeinden G. ... und K. ... Zur Begründung gab sie an, in einer Notunterkunft zu wohnen.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 4. März 2020 wurde der Klägerin als Einzelperson ein Wohnberechtigungsschein für Wohnungen bis zu 50 m² oder zwei Wohnräumen erteilt (Nr. 1-4 des Bescheides). Es wurde festgestellt, dass die Klägerin dem Personenkreis Wohnungssuchende in Wohnungsnotständen angehört (Nr. 5 des Bescheides). Für die Benennung für eine geförderte Wohnung in G. ... oder K. ... wurde die Klägerin in Rangstufe 2 eingestuft (Nr. 6 des Bescheides). Die Geltungsdauer des Wohnberechtigungsscheins und der Vormerkung wurde auf den 4. März 2021 befristet (Nr. 8 des Bescheides).
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Zur Begründung der Rangstufe wurde ausgeführt, die Dringlichkeit der Wohnungssuche bestimme sich nach dem sozialen Gewicht der Wohnungssuche und danach, wie lange der Wohnungssuchende im Landkreis S. ... wohne.
9
Mit E-Mail vom … März 2020 bat die Klägerin um Mitteilung, wieso sie nur in Rangstufe 2 eingestuft wurde. Der Beklagte führte mit Schreiben vom 18. März 2020 aus, dass es sich beim Landkreis S. ... seit Jahren um ein Gebiet mit erhöhtem Wohnraumbedarf handele. Auf jährlich ca. 800 Bewerber kämen nur ca. 100 freiwerdende Wohnungen. Im Landkreis S. ... gebe es drei Rangstufen (Rangstufe 1: sehr dringlich, Rangstufe 2: dringlich, Rangstufe 3: nicht dringlich). Liege der Hauptwohnsitz des Wohnungssuchenden zum Zeitpunkt der Antragstellung außerhalb des Landkreises, wirke sich dies bei der Rangstufe mit einer Wartezeit aus. Aufgrund der Unterbringung der Klägerin in einer Notunterkunft und der durch die veröffentlichten Insolvenzdaten bestehenden Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche sei die Dringlichkeit bei der Klägerin grundsätzlich mit der Rangstufe 1 bewertet worden. Aufgrund der Tatsache, dass sie nicht im Landkreis S. ... wohne, sei wegen der Wartezeit eine Festsetzung der Rangstufe 2 erfolgt. Die Rückstufung begründe sich durch die hohe Zahl der Wohnungssuchenden im Landkreis und der sehr niedrigen Zahl freiwerdender Wohnungen. Ein Abweichen von dieser Regelung komme nur in Fällen in Betracht, in denen mehrere außergewöhnlich schwerwiegende Umstände (Risikoschwangerschaft, lebensgefährliche Wohnverhältnisse etc.) vorlägen. Eine solche außergewöhnliche Härte sei bei der Klägerin nicht feststellbar. Daher könne aus Gründen der Gleichbehandlung aller Wohnungssuchenden keine Ausnahme gemacht werden. Soweit der Klägerin zuvor seitens eines Mitarbeiters mitgeteilt worden sei, dass sie im Jahr 2016 in Rangstufe 1 eingestuft worden sei, sei dies nicht richtig. Die Klägerin sei auch damals in Rangstufe 2 eingestuft worden.
10
Am ... April 2020 hat die Klägerin zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und ursprünglich beantragt, den Bescheid vom 4. März 2020 aufzuheben.
11
In einer E-Mail vom ... April 2020 an das Gericht, auf die Bezug genommen wurde, hatte die Klägerin um Aufhebung der Rangstufe 2 und Änderung in Rangstufe 1 gebeten.
12
Der Beklagte führte mit Schriftsatz vom 13. Mai 2020 aus, angesichts des aus der Begründung ersichtlichen Rechtsschutzinteresses der Klägerin begehre die Klägerin die Verpflichtung zur Vormerkung in Rangstufe 1 (sehr dringlich). Die Klage könne seines Erachtens als Verpflichtungsklage angesehen werden. Die Klägerin habe angegeben, in einer Notunterkunft untergebracht zu sein und weiter, dass es keinen Einweisungsbescheid gebe. Der Vortrag über die Veröffentlichung der Insolvenzdaten im Internet werde als wahr erachtet. Die Festsetzung der Dringlichkeitsstufe sei auf der Basis der internen Richtlinien des Landkreises S. ... zur Einstufung der Dringlichkeit erfolgt. Da die Klägerin über keine Voraufenthaltszeiten im Landkreis verfüge, sei grundsätzlich eine Wartezeit von drei Jahren anzurechnen. Wegen der Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins aus dem Jahr 2016 sei diese Wartezeit auf zwei Jahre verkürzt worden. Die Dringlichkeitseinstufung sei nochmals überprüft worden. Zweifelsfrei handele es sich bei der Vermeidung von Obdachlosigkeit um einen sehr dringenden Fall, auch die Veröffentlichung der Insolvenzdaten im Internet stelle sicherlich eine Hürde bei der Suche nach Wohnungen dar. In der Gesamtschau und im Vergleich mit anderen Fällen müsse festgehalten werden, dass diese Situation aber keine außergewöhnliche Härte darstelle. Im Landkreis S. ... gebe es eine im Vergleich zu anderen Gebieten sehr hohe Anzahl von Wohnungssuchenden in Relation zum vorhandenen Wohnraum. Der Landkreis sei daher als Gebiet mit erhöhtem Wohnraumbedarf anzusehen (§ 3 Abs. 1 DVWoR). Die Rangstufenliste des Landratsamtes S. ... stelle eine nicht abschließende Richtlinie dar, um dem Gleichheitsgrundsatz Rechnung zu tragen. Von der Verweildauer in der niedrigeren Rangstufe von bis zu drei Jahren könne abgesehen werden, um besondere und außergewöhnliche Härten für landkreisexterne Bewerber zu vermeiden. Die Einstufung erfolge somit weiterhin aufgrund der Dringlichkeit und nicht in erster Linie durch den Wohnsitz innerhalb oder außerhalb des Landkreises. Neben der persönlichen Situation der Bewerberinnen und Bewerber habe der Beklagte auch die Gesamtsituation im Blick zu behalten. In Gebieten mit erhöhtem Wohnraumbedarf verharrten schon in der jetzigen Situation viele Menschen über viele Jahre hinweg in einer besonders prekären Wohnsituation.
13
Mit E-Mail vom … Mai 2020 übersandte die Klägerin Nachweise über eine Beschwerde betreffend die Veröffentlichung ihrer Insolvenzdaten im Internet.
14
Der Beklagte führte mit Schriftsatz vom 27. Mai 2020 aus, nach Mitteilung der Gemeinde E. ... sei die Klägerin zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt aufgefordert worden, die jetzige Unterkunft zu räumen. Hintergrund hierfür sei eine kostengünstigere Unterbringung in einer anderen Einrichtung gewesen. Die Klägerin habe sich daraufhin dazu entschieden, diese Unterkunft nicht zu räumen, worauf hin die Gemeinde E. ... die Finanzierung des Zimmers eingestellt habe. Die Unterkunft werde nicht mehr durch die Gemeinde E. ..., sondern durch das Jobcenter F. ... im Rahmen der Übernahme von Kosten der Unterkunft für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II übernommen. Der Beklagte habe daher nicht davon ausgehen können, dass die Klägerin durch die Gemeinde E. ... zur Vermeidung von Obdachlosigkeit untergebracht wurde. Die Klägerin habe sich, soweit ersichtlich, gegen eine gemeindliche Unterbringung in einer Notunterkunft entschieden. Es handele sich somit nicht um eine Notunterkunft im Sinne des LStVG. Da die Unterkunft wieder gekündigt noch befristet sei, sei die Klägerin nicht von Obdachlosigkeit bedroht. Eine tiefergehende Ermittlung des Sachverhalts sei aufgrund von datenschutzrechtlichen Bestimmungen nicht möglich gewesen.
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Mit E-Mail vom … Mai 2020 übersandte die Klägerin nochmals Nachweise über die Veröffentlichung ihrer Insolvenzdaten im Internet.
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Mit Beschluss vom 2. Juli 2020 ist der Rechtsstreit zu Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen worden. Die Beteiligten wurden hierzu mit gerichtlichem Schreiben vom 9. April 2020 angehört.
17
Mit E-Mail vom … Juli 2020 führte sie aus, die Gemeinde E. ... habe ihr damals mitgeteilt, sie solle in eine günstige Unterkunft ziehen. Daraufhin habe das Gästehaus den Preis angepasst. Es existiere ein Einweisungsbescheid der Gemeinde E. ... vom 16. August 2012, einen aktuelleren Einweisungsbescheid gebe es nicht. Die Kosten der Unterkunft würden seit September 20 bereits zehn durch das Jobcenter F. ... übernommen. Es handle sich nach wie vor um eine Notunterkunft.
18
Beigefügt war u.a. ein Bewilligungsbescheid des Jobcenters F. ... vom 10. Juni 2020, aus dem sich ergibt, dass die Unterkunftskosten für die Obdachlosenunterbringung im Gästehaus bei der Leistungsgewährung berücksichtigt würden. Weiter legte sie ein Schreiben der Gemeinde E. ... vom 8. Juli 2020 vor, aus dem sich ergibt, dass nach Senkung der Unterkunftskosten durch das Gästehaus seitens der Gemeinde keine Umsetzung unternommen worden ist.
19
Der Beklagte übersandte am 4. August 2020 ein Schreiben der Gemeinde E. ... vom 3. August 2020, aus dem sich ergibt, dass die Klägerin mit Wirkung vom 20. August 2012 auf Grundlage des LStVG in die jetzige Unterkunft eingewiesen wurde. Aufgrund der hohen Unterbringungskosten wurde die Klägerin mit Bescheid vom 9. August 2013 einer anderen Unterkunft zugewiesen. Im Nachgang habe das Gästehaus die Kosten der Unterkunft gesenkt, worauf die Klägerin in dieser Unterkunft verblieben sei. Ab diesem Zeitpunkt sei sie dort faktisch als Unterbringungsfall wohnhaft. Dabei handele sich um keine eigene Unterkunft der Gemeinde, sondern um eine angemietete Unterbringungsmöglichkeit. Die Kosten der Unterbringung würden in der Regel vom Jobcenter F. ... beglichen, für die Gemeinde E. ... handle es sich hierbei um durchlaufende Gelder.
20
In der mündlichen Verhandlung am 8. September 2020 führte die Klägerin aus, es handle sich ihres Erachtens um eine Unterbringung in einer Notunterkunft. Ihr Fall sei deswegen besonders dringlich. Zudem genieße sie Freizügigkeit im Bundesgebiet.
21
Die Klägerin beantragt zuletzt,
22
den Beklagten zu verpflichten, unter Nummer 6 des Bescheides vom 4. März 2020 Rangstufe eines festzusetzen.
23
Der Beklagte beantragt,
24
die Klage abzuweisen.
25
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

26
Die Klage hat keinen Erfolg.
I.
27
Die Klage ist zulässig. Der zuletzt gestellte Antrag auf Verpflichtung des Beklagten stellt sich nicht als Klageänderung nach § 91 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - dar. Denn dieses Klagebegehren war bereits aus der Begründung bei Erhebung der Klage ersichtlich. Damit wäre der Klageantrag von vornherein nach § 88 VwGO als Verpflichtungsklage auszulegen gewesen, zumal die Klägerin nicht durch einen rechtskundigen Bevollmächtigten vertreten wird (vgl. Wolff in: BeckOK VwGO, 55. Edition, Stand 1.4.2020, § 91 Rn. 15). Selbst wenn man dies anders sehen wollte, wäre die Klageänderung zulässig. Denn der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 13. Mai 2020 selbst angeregt, dass die Klage als Verpflichtungsklage auszulegen sei und damit in eine etwaige Klageänderung konkludent eingewilligt.
II.
28
Die Verpflichtungsklage ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Festsetzung der sozialen Dringlichkeit der Wohnungssuche in Rangstufe 1,  § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Bescheid des Beklagten vom 4. März 2020 ist vielmehr rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
29
1. Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist Art. 5 des Bayerischen Wohnungsbindungsgesetzes - BayWoBindG. Die Gemeinden G. ... und K. ... gehören zu den Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf, Art. 5 Satz 1 BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Wohnungsrecht - DVWoR. Der Beklagte hat als zuständige Stelle in Bezug auf Sozialwohnungen nach Art. 5 Satz 2 BayWoBindG gegenüber den Verfügungsberechtigten ein Benennungsrecht. Bei der Benennung sind gemäß Art. 5 Satz 3 BayWoBindG insbesondere schwangere Frauen, Familien und andere Haushalte mit Kindern, alleinstehende Elternteile mit Kindern, ältere Menschen und schwerbehinderte Menschen vorrangig zu berücksichtigen. Das Benennungsrecht ermächtigt die zuständige Behörde aus Gründen der Praktikabilität auch, vor der eigentlichen Benennung eine rechtlich verbindliche Vorentscheidung über die Voraussetzungen der Wohnberechtigung und über den Grad der sozialen Dringlichkeit zu treffen. Diese Vorentscheidung erfolgt durch Aufnahme in eine nach Dringlichkeitsstufen und Punkten differenzierende Vormerkkartei, wobei es sich um einen im Ermessen der Behörde stehenden Verwaltungsakt handelt (BayVGH, B.v. 11.0.2014 - 12 C 14.380 - juris Rn. 12,13).
30
2. Zur gleichmäßigen Ermessensausübung hat der Beklagte eine Dienstanweisung (Rangliste) erstellt. Es handelt sich dabei um ermessensbindende interne Richtlinien, deren konsequente Anwendung dem Gleichbehandlungsgrundsatz entspricht und die regelmäßig zu einer Selbstbindung der Verwaltung führt. Solche Dienstanweisungen sind ein geeignetes Mittel, um die Bewertung der sozialen Dringlichkeit transparent zu machen und dem Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung zu tragen (BayVGH, B.v. 14.4.1999 - 24 S 99.110 - juris).
31
Nach der im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltenden Rangstufenliste vom 24. März 2017 werden drei Rangstufen (Rangstufe 1: sehr dringlich - Rangstufe 2: dringlich - Rangstufe 3: nicht dringlich) unterschieden. In Rangstufe 1 werden dabei (nicht abschließend) Fälle wie bestehende oder drohende Obdachlosigkeit, soziale Notlagen (Entlassung aus Therapie- oder Strafanstalten, Schwangerschaft oder mehrere eine Notlage begründende Umstände), schwerwiegende gesundheitliche Gründe oder dringende Fälle sozialer Hilfebedürftigkeit erfasst.
32
Weiter ist unter „Berücksichtigung der Verweildauer (Hauptwohnung) des Wohnungssuchenden im Landkreis S. ...“ geregelt, dass Wohnungssuchende mit Dringlichkeitskriterien der Rangstufe 1, die ihren Wohnsitz außerhalb des Landkreises S. ... haben, erst nach einer Wartezeit von drei Jahren in Rangstufe eins vorgemerkt werden. Während der Wartezeit erfolgt die Vormerkung in Rangstufe 2. Bei gleicher Rangstufe hat der Wohnungssuchende mit der längeren Verweildauer Vorrang. Zudem wird die Vormerkdauer der Wohnungssuchenden, die ihren Wohnsitz außerhalb des Landkreises haben, der Verweildauer wohnungssuchender Landkreisbürger gleichgestellt.
33
Wie sich aus dem Schreiben des Beklagten vom 18. März 2020, einem Aktenvermerk von 17. April 2020 und der Klageerwiderung vom 13. Mai 2020 ergibt, gilt die Wartezeitenregelung dabei nicht pauschal. Von ihr kann abgesehen werden, wenn außergewöhnlich schwerwiegende Gründe hinzukommen und ein Absehen von der Wartezeit rechtfertigen.
34
3. Die Entscheidung des Beklagten, die Klägerin danach in Rangstufe 2 einzustufen, ist nicht zu beanstanden.
35
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
36
a) Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 DVWoR sind Wohnungssuchende unter Berücksichtigung von Dringlichkeit und Strukturkomponente in einer Art. 5 Satz 6 BayWoBindG entsprechenden Rangfolge zu benennen. Die Dringlichkeit bestimmt sich nach § 3 Abs. 3 Satz 3 DVWoR nach dem sozialen Gewicht des Wohnungsbedarfs und ergänzend danach, wie lange sich der antragstellende Wohnungssuchende schon in der kreisfreien Gemeinde oder dem Landkreis gewöhnlich aufhält, wo er sich um eine Wohnung bewirbt.
37
Es ist wegen des im Einzugsgebiet der Landeshauptstadt München bestehenden und gerichtsbekannten Mangels an öffentlich geförderten Wohnungen - der Beklagte weist insoweit auf die Diskrepanz von ca. 800 Bewerbern auf ca. 100 freiwerdende Wohnungen im Landkreis hin - nicht von vornherein unsachgerecht, wenn der Beklagte Wohnungssuchende, die außerhalb des Landkreises wohnen, hinter den im Landkreis ansässigen Personen zurückstuft (BayVGH, B.v. 10.1.2006 - 24 C 05.3012 - juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 11.3.2014 - 12 C 14.380 - juris Rn. 15). Dabei ist indes zu beachten, dass durch die Berücksichtigung des „Hilfskriteriums“ der Verweildauer der vom Gesetzgeber in Art. 5 Sätze 3 und 5 BayWoBindG i.V.m. § 3 Abs. 3 DVWoR verbindlich festgelegte Vorrang der sozialen Dringlichkeit nicht unterlaufen wird. Eine wie auch immer ausgestaltete Wartezeitregelung darf nicht dazu führen, dass Bewerber von der Benennung für eine öffentlich geförderte Wohnung ausgeschlossen werden (BayVGH, B.v. 11.3.2014, a.a.O. Rn. 15, 16 - zur ehemaligen Wartezeitregelung der Landeshauptstadt München, die einen generellen Ausschluss vor Erfüllung der Wartezeit vorsah).
38
b) Gemessen daran ist die Einstufung in Rangstufe 2 nicht zu beanstanden. Zwar lebt die Klägerin zur Überzeugung des Einzelrichters weiterhin zur Abwendung der sonst bestehenden Obdachlosigkeit in der derzeitigen Pension. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob dies noch aufgrund des Einweisungsbescheid der Gemeinde E. ... auf Grundlage des Landesstraf- und Verordnungsgesetzes - LStVG - der Fall ist. Denn jedenfalls wohnt die Klägerin nicht in dem Pensionszimmer, weil sie keine eigene Wohnung beziehen möchte, sondern weil es ihr bisher nicht möglich war, eine eigene Wohnung zu finden und sie andernfalls obdachlos wäre. Dass es sich nicht um eine normale Unterkunft handelt, wird auch aus dem Bewilligungsbescheid des Jobcenters F. ... vom 10. Juni 2020 ersichtlich, ausweislich dem dieses die Kosten für eine Obdachlosenunterbringung übernimmt. Entsprechend ist die Klägerin dem Grunde nach in Rangstufe 1 nach der Rangstufenliste für den Landkreis S. ... einzuordnen.
39
Gleichzeitig lebt die Klägerin nicht im Landkreis S. ..., sondern seit Jahren - auch schon vor der Obdachlosigkeit - im Landkreis F. ... mit der Folge, dass nach der Wartezeitregel derzeit nur eine Einstufung in Rangstufe 2 erfolgt. Es ist nach den obigen Ausführungen nicht zu beanstanden, dass der Beklagte die Wohnungssuche landkreisexterner Bewerber im Landkreis S. ... als weniger dringlich einstuft als die der Kreisangehörigen. Schon aus dem Rechtsgedanken des Art. 11 Abs. 1 Satz 2 Landkreisordnung - LKrO - ergibt sich, dass Kreisangehörige gegenüber landkreisexternen Bewerbern bei Vorliegen sachlicher Gründe bevorzugt werden dürfen (vgl. Heimrath in: Widtmann/Grasser/Glaser, Bayerische Gemeindeordnung, Werkstand: 30. EL Februar 2020, Art. 11 LKrO Rn. 2). In Gebieten mit erhöhten Wohnungsbedarf besteht ohnehin schon eine derart angespannte Wohnmarktsituation, dass die Versorgung der gebietsansässigen Kreisangehörigen mit geeignetem Wohnraum nicht mehr hinreichend sichergestellt ist. Vor diesem Hintergrund ist es sachgerecht, wenn die soziale Dringlichkeit der Wohnungssuche außerhalb des eigenen Landkreises bzw. der eigenen kreisfreien Stadt - auch zur Vermeidung eines Pull-Effekts - als nicht so dringlich angesehen wird, wie die Wohnungssuche der Kreisangehörigen in eigenen Landkreis. Externe Bewerber werden durch diese Regelung auch nicht von einer Benennung generell ausgeschlossen. Auch in einer niedrigeren Rangstufe kann sich eine Benennung ergeben, sofern keine vorrangigen Bewerber für eine Wohnung vorhanden sind. Dadurch, dass die Wartezeitregelung nicht pauschal angewandt wird, sondern bei Vorliegen besonderer Härten von dieser abgesehen wird, ist auch sichergestellt, dass der gesetzlich geforderte Vorrang der sozialen Dringlichkeit gewahrt bleibt.
40
Die Klägerin hat keine Gründe vorgetragen, die ein Absehen von der Wartezeit rechtfertigen würden. Zwar ist zu sehen, dass sie im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seit sechs Jahren obdachlos ist. Auch wurde ihre Wohnungssuche bisher durch die im Internet frei verfügbaren Informationen ihr Insolvenzverfahren betreffend erheblich erschwert. Insoweit ist allerdings anzumerken, dass diese offenbar nicht mehr zugänglich sind. Jedenfalls konnte der Einzelrichter bei einer am Tag vor der mündlichen Verhandlung durchgeführten Recherche auf Google keine Eintragungen mehr finden, wie es noch im Mai 2020 der Fall war. Unabhängig davon ist dadurch keine besondere Härte gegeben, die einen Zuzug in den Landkreis S. ... objektiv zwingend erforderlich machen würde. Das zeigt sich auch darin, dass die Klägerin seit dem Jahr 2016 keinen weiteren Antrag beim Beklagten für diesen Landkreis gestellt hatte.
41
Auch aus Art. 11 Grundgesetz - GG - ergibt sich dabei kein Anspruch auf eine höhere Einstufung. Danach wird allen Deutschen Freizügigkeit in ganzen Bundesgebiet gewährleistet. Zur Freizügigkeit gehört auch das Recht, seinen Wohnsitz nach freiem Belieben zu nehmen (vgl. statt aller BVerfG, U.v. 17.3.2004 - 1 BvR 1266/00 - BeckRS 2005, 25904). Aus dieser Gewährleistung folgt allerdings nicht, dass durch den Staat am Ort der gewünschten Wohnsitznahme eine Wohnung zur Verfügung gestellt werden muss.
42
Soweit die Klägerin weiter die Befürchtung geäußert hat, durch die Einstufung in Rangstufe 2 im Landkreis S. ... bei einer Vormerkung in anderen Landkreisen oder Gemeinden Nachteile zu erleiden, ist anzumerken, dass die einzelnen Kreisverwaltungsbehörden und kreisfreien Städte gerichtsbekannt unterschiedliche Kriterien bei ihrer Ermessensentscheidung zugrunde legen. Sie sind auch nicht an die Einschätzung des Landratsamts S. ..., das eine Vormerkung nur für das Kreisgebiet bewirken kann, gebunden, sondern bewerten die Dringlichkeit innerhalb ihrer örtlichen Zuständigkeit eigenständig. Anzumerken ist auch, dass die Einstufung bezüglich der Vormerkung mit dem allgemeinen Wohnberechtigungsschein - der für ganz Bayern gilt - nicht im Zusammenhang steht.
III.
43
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
IV.
44
Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung - ZPO.