Titel:
Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. b, Nr. 1b, § 55
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, kann im Hinblick auf die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts den Rang des bedrohten Rechtsguts nicht außer Acht lassen, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Liegt die Ursache der begangenen Straftaten auch in der Suchtmittelabhängigkeit, so ist die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie zwingende Voraussetzung für ein denkbares Entfallen der Wiederholungsgefahr (ebenso BayVGH BeckRS 2015, 46385). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, Zahlreiche strafrechtliche Verurteilungen, Faktischer Inländer, Keine abgeschlossene Drogentherapie, Ausweisung, türkischer Staatsangehöriger, Assoziationsabkommen EWG/Türkei, gefährliche Körperverletzung, Beihilfe zur Vergewaltigung, Betäubungsmittelstraftaten, Gesamtfreiheitsstrafe, Gefahrenprognose, körperliche Unversehrtheit, faktischer Inländer, Bleibeinteresse
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 22.01.2021 – 10 ZB 21.84
Fundstelle:
BeckRS 2020, 41298
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen. verkündet am 8. Dezember 2020 als stellvertretende Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
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Der am ... 1993 in ... geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er hat sechs ältere Geschwister. Ein älterer Bruder wurde bereits aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und lebt seither ebenso wie eine Schwester des Klägers in der Türkei. Der Vater des Klägers verstarb im Jahr 1995. Der Kläger besuchte die Grund- und Hauptschule, wurde in der siebten Klasse allerdings der Schule verwiesen, nachdem er einem Mitschüler ein Butterfly-Messer an den Hals gehalten hatte. Infolgedessen wurde er von Mai bis Juli 2007 vollstationär in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt. Nach der Entlassung kam er auf eine neue Hauptschule, wo es jedoch zu keiner Besserung seines Verhaltens kam. Daher wurde er auch dort der Schule verwiesen. Während seiner ersten Inhaftierung erlangte der Kläger im Januar 2013 den Hauptschulabschluss. Eine begonnene Ausbildung im Sanitärbereich endete nach wenigen Monaten.
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Im Jahr 2011 begann der Kläger Cannabis zu rauchen. Bis zu seiner ersten Inhaftierung konsumierte er zwischen sechs und acht Gramm Cannabis pro Tag. In den Jahren 2012 und 2013 konsumierte er regelmäßig Amphetamin. Auch Alkohol konsumierte er in erheblichen Mengen. Unregelmäßig konsumierte er auch Ecstasy, Kokain, synthetische Cannabinoide und synthetische Cathinone. Der Kläger war zunächst im Besitz von befristeten Aufenthaltserlaubnissen. Aufgrund seiner Straffälligkeit wurde ihm dann nur noch eine als „Bewährungsduldung“ versehene Duldung erteilt, auf der der Vermerk angebracht wurde, dass dem Kläger wieder eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr ausgestellt werden wird, sofern er innerhalb eines Jahres ab der Entlassung aus der Strafhaft keine weiteren Straftaten begehen werde. Ab dem 6. Mai 2011 stellte der Beklagte dem Kläger zunächst Fiktionsbescheinigungen aus. Am 15. Dezember 2014 wurde ihm wieder eine bis zum 10. Dezember 2015 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt. Nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis wurden dem Kläger wiederum nur Duldungen ausgestellt. Seit dem 6. Mai 2016 ist der Kläger weder im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis noch im Besitz einer Duldung.
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Der Kläger ist in der Vergangenheit regelmäßig strafrechtlich in Erscheinung getreten. Unter anderem wurde er mit Urteil des Amtsgerichts ... vom 20. August 2009 wegen unerlaubten Waffenbesitzes, versuchter Nötigung, Bedrohung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tatmehrheit mit Beleidigung in Tateinheit mit Sachbeschädigung, vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen und gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht ... verurteilte den Kläger mit Urteil vom 3. Februar 2010 wegen Beleidigung in Tatmehrheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einem Jugendarrest von zwei Wochen. Das Amtsgericht ... (Jugendschöffengericht) verurteilte ihn am 27. Januar 2011 wegen Sachbeschädigung zu einem Dauerarrest von zwei Wochen und erlegte ihm auf, 24 Stunden gemeinnützige Arbeit abzuleisten. Mit Urteil vom 29. September 2011 verurteilte das Amtsgericht ... (Jugendschöffengericht) den Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung und unter Einbeziehung der Entscheidung vom 20. August 2009 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Vom 29. März 2012 bis zum 25. Februar 2013 war der Kläger deshalb in Strafhaft. Das Amtsgericht ... verurteilte den Kläger am 7. Oktober 2015 wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 30 Euro. Zu einer weiteren Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilte ihn das Amtsgericht ... wegen Missbrauchs von Notrufen und Beeinträchtigung von Unfallverhütungs- und Nothilfemitteln am 5. April 2016.
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Am 18. August 2016 wurde der Kläger erneut verhaftet und befand sich zunächst in Untersuchungshaft. Das Landgericht ... verurteilte ihn am 4. April 2017 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und gewerbsmäßigem unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen und unerlaubtem Anbau von Betäubungsmitteln und gewerbsmäßiger unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in zehn Fällen und unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln und vorsätzlicher Körperverletzung und Bedrohung sowie versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Das Landgericht ... ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Ab dem 18. April 2017 war der Kläger im Bezirkskrankenhaus ...
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Das BKH ... übersandte an den Beklagten einen Therapiebericht vom 1. Februar 2018. Dem Therapiebericht ist zu entnehmen, dass beim Kläger eine Störung durch multiplen Substanzgebrauch, derzeit abstinent in beschützender Umgebung, eine emotionalinstabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ, und eine Nikotinabhängigkeit vorliege.
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Zuletzt ist der Kläger mit Urteil des Landgerichts ... vom 31. Januar 2019 wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen und Beihilfe zur Vergewaltigung in drei Fällen und unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts ... vom 4. April 2017 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden.
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Nach Erledigterklärung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde der Kläger am 18. Juli 2019 wieder dem Strafvollzug zugeführt. Seither befindet er sich in der JVA ... Diese übersandte dem Beklagten einen Führungsbericht vom 17. April 2020. Das Haftende des Klägers ist für den 3. September 2023 vorgemerkt.
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Nach erfolgter Anhörung wies der Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 21. April 2020 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und ordnete den Sofortvollzug an (Ziffer 2). Die Abschiebung aus der Haft in die Türkei wurde angeordnet (Ziffer 3). Im Falle vorzeitiger Haftentlassung wurde die Abschiebung in die Türkei angedroht (Ziffer 4). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf die Dauer von zehn Jahren ab seiner Abschiebung bzw. Ausreise angeordnet (Ziffer 5). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass bei dem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kläger unterstellt werde, dass ihm ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zustehe. Er habe mit seinem Verhalten aber wiederholt gegen die hier geltende Rechtsordnung verstoßen. Bei ihm liege ein schweres Ausweisungsinteresse vor. Ein Bleibeinteresse im Sinne von § 55 AufenthG sei hingegen nicht gegeben. Bereits seit frühester Jugend sei der Kläger durch die Begehung unterschiedlichster Straftaten in Erscheinung getreten. Seine Sozialisation im Bundesgebiet sei vollkommen gescheitert. Auch von strafrechtlichen Sanktionen einschließlich erlebtem Freiheitsentzug habe er sich nicht von der Begehung weiterer, schwerer Straftaten abhalten lassen. Nicht einmal während der Haft habe er sich straffrei führen können. Sein Verhalten zeige offensichtlich, dass nach seiner Haftentlassung mit weiteren Rechtsverstößen zu rechnen sei. Es bestehe eine konkrete und erhebliche Wiederholungsgefahr. Aufgrund des bisherigen Werdegangs des Klägers sei mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass auch zukünftig eine Gefahr für die Allgemeinheit der Bundesrepublik Deutschland bestehe. Es sei auch sehr wahrscheinlich, dass er erneut Cannabis oder andere illegale Substanzen konsumieren werde. Ebenso bestehe die Gefahr des Aufbaus eines erneuten Drogenhandels. Ein erfolgreicher Therapieabschluss sei nicht zu verzeichnen. Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt sei wegen anhaltender Suchtmittelproblematik bereits für erledigt erklärt worden. Im Hinblick auf die Schwere der zu erwartenden Rechtsgutsverletzungen sei deshalb die Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen zulässig und erforderlich, um weitere Straftaten, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührten, zu verhindern bzw. zu unterbinden. Im Rahmen der Abwägung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren worden und hier aufgewachsen sei. Während seines langen Aufenthalts sei es ihm aber nicht gelungen, sich sozial zu integrieren. Bei der Entscheidung werde auch gesehen, dass sich die Eltern und Geschwister des Klägers im Bundesgebiet aufhalten. Es sei aber nicht unverhältnismäßig, wenn Eltern und volljährige Kinder bzw. Geschwister getrennt voneinander in zwei verschiedenen Ländern lebten. Darüber hinaus befinde sich ein Bruder des Klägers seit dem Jahr 2016 in der Türkei. Eine eheliche Lebensgemeinschaft zu seiner Verlobten sei nach Aktenlage nicht gegeben. Die Ausweisung sei auch unter Beachtung der familiären Bindungen gesetzlich vorgesehen und zur Verhinderung von weiteren strafbaren Handlungen notwendig. Eine Reintegration sei ihm in der Türkei möglich. Er sei in einer türkischen Familie aufgewachsen, spreche die türkische Sprache und sei in der Türkei nicht auf sich allein gestellt, weil dort ein Bruder von ihm lebe. Nach Abwägung aller für und gegen die Ausweisung sprechenden Gründe halte der Beklagte nach sachgerechter Abwägung der öffentlichen Interessen an einer Ausreise des Ausländers mit den Interessen des Ausländers an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet die Ausweisung des Klägers für die angemessene und gebotene ausländerrechtliche Maßnahme zum Schutz der Rechtsordnung und damit der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Angesichts der erheblichen Wiederholungsgefahr erscheine eine Frist von zehn Jahren als angemessen. Eine Sperrfrist von zehn Jahren sei möglich, weil vom Kläger eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe. Ihm müsse klar vor Augen geführt werden, dass sein Verhalten nicht folgenlos bleibe.
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Hiergegen ließ der Kläger am 4. Mai 2020 Klage erheben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger in Deutschland geboren worden sei und sich seitdem hier aufhalte. Der Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger zumindest in seinen Rechten aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK.
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Der Bescheid des Beklagten vom 21.04.2020 wird aufgehoben.
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Der Beklagte beantragt,
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Die Klage wird abgewiesen.
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Zur Begründung verwies der Beklagte auf den angefochtenen Bescheid.
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Am 11. Dezember 2020 fand in der Sache mündliche Verhandlung statt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vom Beklagten vorgelegten Behördenakte sowie der beigezogenen Strafakte.
Entscheidungsgründe
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Gegenstand der Klage ist der Bescheid des Beklagten vom 21. April 2020, durch den der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und ihm gegenüber ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet worden ist.
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 21. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Daneben hat der Kläger keinen Anspruch auf eine erneute Entscheidung über die Länge des mit der Ausweisung angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
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1. Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Die Vorschrift des § 53 Abs. 2 AufenthG benennt dabei Gesichtspunkte, die bei der Abwägung nach Abs. 1 im Einzelfall zu berücksichtigen sind. Dies sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat.
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Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG wird durch die Vorschriften der §§ 54 und 55 AufenthG konkretisiert. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in diesen Vorschriften von vorneherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder „besonders schwerwiegend“ oder als „schwerwiegend“. Stehen dem Ausländer zudem Rechte nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen, denn der Ausländer darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
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2. Die Ausweisung des Klägers ist vorliegend auch unter Berücksichtigung dieses strengen Maßstabs rechtmäßig, weil die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten nach wie vor gegenwärtig besteht und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist sowie das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
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a) Das persönliche Verhalten des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ord nung der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig schwerwiegend, weil von ihm auch weiterhin eine erhebliche Gefahr der Begehung weiterer schwerer Straftaten ausgeht. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Wiederholungsgefahr ist hierbei grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 13.11 - InfAuslR 2012, 397, Rn. 12).
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Ausweisungsanlass ist das Urteil des Landgerichts ... vom 31. Januar 2019, durch das der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen und Beihilfe zur Vergewaltigung in drei Fällen und unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts ... vom 4. April 2017 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden ist.
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b) Der Kläger hat insbesondere im Hinblick auf das von ihm verletzte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit schwere Straftaten von besonderem Gewicht begangen. Die in dem Urteil vom 4. April 2017 festgestellten Straftaten stellen unter Berücksichtigung einer bestehenden Wiederholungsgefahr unzweifelhaft eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Die vom Gericht anzustellende Gefahrenprognose fällt vorliegend zu Lasten des Klägers aus. Beim Kläger ist nach wie vor eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben. Bereits seit seiner Jugend hat er wiederholt und zum Teil schwere Straftaten begangen, im Rahmen derer er immer wieder die körperliche Unversehrtheit seiner Opfer verletzt hat. Mehrere Dauerarreste sowie eine fast einjährige Verbüßung seiner Freiheitsstrafe im Strafvollzug konnten keine Verhaltensänderung des Klägers bewirken und ihn nicht von der Begehung weiterer schwerer Straftaten abhalten. Die vom Kläger ausgehende und durch die strafrechtlichen Verurteilungen zum Ausdruck kommende Gefahr dauert bis heute an, weil eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist. Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung - wie im Falle der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit - sind im Rahmen tatrichterlicher Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 - 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 Rn. 16). Auch die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, kann im Hinblick auf die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts den Rang des bedrohten Rechtsguts nicht außer Acht lassen, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, führt unter Berücksichtigung der bereits in der Vergangenheit zahlreich begangenen Straftaten und der erfolglos beendeten Drogentherapie im Rahmen der strafrechtlichen Unterbringung zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr. Mit seinen wiederholten Gewalttaten und den Betäubungsmittelstraftaten hat der Kläger mehrfach das besonders hohe Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit in schwerwiegender Weise verletzt. Liegt - wie beim Kläger - die Ursache der begangenen Straftaten darüber hinaus auch in der Suchtmittelabhängigkeit, so ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie zwingende Voraussetzung für ein denkbares Entfallen der Wiederholungsgefahr (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2014 - 10 ZB 14.538 - juris Rn. 6 und BayVGH, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231 - juris Rn. 11). Ausschlaggebend für das Entfallen der Wiederholungsgefahr ist, dass ein vorhandenes Handlungs- und Verhaltensmuster dauerhaft korrigiert wird. Dies ist erst bei einem erfolgreichen Abschluss einer Therapie anzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231 - juris Rn. 11). Der Kläger hat hingegen keine Drogentherapie erfolgreich absolviert. Außerdem war der Kläger nicht einmal im stark reglementierten und überwachten Strafvollzug willens oder in der Lage, straffrei zu bleiben. Vielmehr wurde er wegen seines Verhaltens im Strafvollzug wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen und Beihilfe zur Vergewaltigung in drei Fällen verurteilt. Hinzu kommt die ausweislich des Therapieberichts des BKH ... vom 1. Februar 2018 beim Kläger diagnostizierte emotionalinstabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ, die ebenfalls nicht erfolgreich therapiert worden ist und die die ohnehin anzunehmende erhebliche Wiederholungsgefahr zusätzlich erhöht. In einer Gesamtschau ist somit davon auszugehen, dass der Kläger erneut Straftaten - insbesondere auch schwere Straftaten gegen Leib und Leben - begehen und daher eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich macht.
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3. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwä gung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt und die Ausweisung auch für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist.
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Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 44 m. w. N.). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung zu § 53 Abs. 3, BT-Drs. 18/4097 S. 50; BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 44; U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 37).
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a) Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. b) AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG ebenfalls besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer Straftaten nach dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind vorliegend jeweils erfüllt. Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts ... vom 4. April 2017 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und gewerbsmäßigem unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen und unerlaubten Anbau von Betäubungsmitteln und gewerbsmäßige unerlaubte Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in zehn Fällen und unerlaubten Erwerb von Betäubungsmitteln und vorsätzlicher Körperverletzung und Bedrohung sowie versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Unter Einbeziehung dieser Verurteilung wurde er zudem vom Landgericht ... wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen und Beihilfe zur Vergewaltigung in drei Fällen am 31. Januar 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
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b) Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht hier zwar kein nach § 55 AufenthG typisiertes Bleibeinteresse entgegen. Der Kläger kann aber dennoch gewichtige Bleibeinteressen für sich beanspruchen. Er ist im Bundesgebiet geboren worden und hält sich seitdem ununterbrochen hier auf. Er ist somit faktisch ein Inländer, auch wenn er die türkische und nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die meisten seiner nächsten Familienangehörigen (seine Mutter und mehrere Geschwister) leben ebenfalls in Deutschland. Lediglich ein Bruder und eine Schwester des Klägers leben in der Türkei. Der Lebensmittelpunkt des Klägers befindet sich seit seiner Geburt in der Bundesrepublik.
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c) Das Vorliegen eines in § 54 AufenthG normierten Ausweisungsinteresses, dem ein gewichtiges Bleibeinteresse - selbst wenn es nicht typisiert von § 55 AufenthG erfasst ist - gegenübersteht, führt nicht ohne weiteres zur Ausweisung des Betroffenen. Es muss anhand einer Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalls vielmehr festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung letztlich überwiegt und die Ausweisung unerlässlich im Sinne von § 53 Abs. 3 AufenthG ist. Bei dieser Abwägung überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise sein Bleibeinteresse. Seine Ausreise ist unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren.
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aa) Für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet spricht bei dieser Abwä gung, dass er in der Bundesrepublik geboren wurde und sein ganzes Leben hier verbracht hat (sog. faktischer Inländer). Seine sozialen Beziehungen und Bindungen in die Türkei sind gering. Auch seine engsten Familienangehörigen leben weitgehend in Deutschland. Daneben gibt der Kläger vor, im Bundesgebiet auch eine Verlobte zu haben. In Deutschland hat der Kläger die Schule besucht und während seiner Inhaftierung den Hauptschulabschluss geschafft.
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bb) Massiv gegen den Kläger spricht jedoch, dass er sich weder wirtschaftlich noch sozial nachhaltig integriert hat und vielfach straffällig geworden ist. Er hat zwar seinen Hauptschulabschluss absolviert, aber weder eine Berufsausbildung abgeschlossen, noch zumindest für längere Zeit als ungelernte Kraft gearbeitet. Seinen Lebensunterhalt finanzierte der Kläger u.a. durch die Begehung von Betäubungsmittelstraftaten. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration ist ihm damit nicht gelungen. Seit seiner Jugend hat der Kläger zudem zahlreiche und zum Teil schwerwiegende Straftaten verübt. Dabei hat er mehrfach eine extreme Gewaltbereitschaft gezeigt und durch die von ihm begangenen Straftaten im Bereich der Betäubungsmittel- und Gewaltkriminalität das hohe Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit vielfach und schwer verletzt. Deswegen hat er einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens nicht in Freiheit, sondern im Strafvollzug verbracht.
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cc) Aufgrund der Vielzahl an einschlägigen Straftaten gegen die körperliche Unver sehrtheit, die der Kläger in der Vergangenheit fortlaufend verübt hat, der jeweiligen Tatausführungen und insbesondere der erheblichen Gesundheitsschädigungen, die er durch seine massiven Betäubungsmitteldelikte verwirklicht hat, stellt das persönliche Verhalten des Klägers - besonders auch mit Blick auf die nach wie vor unbehandelte emotionalinstabile Persönlichkeitsstörung - gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, welche das Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung unerlässlich macht (§ 53 Abs. 3 AufenthG).
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d) Die Ausweisung des Klägers verstößt auch nicht gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK.
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Sie erscheint angesichts der Gesamtumstände nicht unverhältnismäßig.
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Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens. Der Kläger kann als sog. „faktischer Inländer“ nur unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes des Art. 8 EMRK ausgewiesen werden. Die deshalb vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt hier aber zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird zunächst auf die Ausführungen unter 3. c) verwiesen.
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Die Kammer ist zudem davon überzeugt, dass es dem volljährigen Kläger möglich und zumutbar ist, sich sprachlich und kulturell in der Türkei zu integrieren. Zwar behauptet er, dass er nur Deutsch spreche. Dies hält die Kammer allerdings für unglaubhaft, nachdem die Mutter des Klägers nach seinen eigenen Angaben Analphabetin und erst als Erwachsene nach Deutschland gekommen ist. Darüber hinaus kennt der Kläger die Türkei von Urlaubsaufenthalten seit dem Jahr 2007. Die Kammer geht weiter davon aus, dass in der Familie des Klägers die türkische Kultur und Tradition gelebt wurde, sodass der Kläger mit der türkischen Kultur vertraut ist und nach möglichen anfänglichen Schwierigkeiten in der Türkei Fuß fassen kann. Zwar muss er sich in der Türkei ein neues Leben aufbauen, mangels wirtschaftlicher und sozialer Integration im Bundesgebiet stünde er jedoch hier vor den gleichen Herausforderungen und Schwierigkeiten. Seine in der Türkei lebenden Geschwister können ihn bei seiner Integration gegebenenfalls unterstützen. Das Gericht ist der Überzeugung, dass er zu ihnen wird Kontakt aufnehmen können. Die in Deutschland lebende Familie des Klägers sowie seine Verlobte können ihn in der Türkei besuchen und mittels Telefon und Internet den Kontakt aufrechterhalten. Eine Unzumutbarkeit liegt somit nicht vor.
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4. Die in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids enthaltene Anordnung eines Einreiseund Aufenthaltsverbots, für das der Beklagte in der mündlichen Verhandlung eine Verkürzung der Befristung auf sieben (statt zehn) Jahre zusicherte, ist ebenfalls rechtmäßig. Die Befristungsdauer steht nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde und unterliegt damit gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur der eingeschränkten Kontrolle des Verwaltungsgerichts. Die im vorliegenden Fall zuletzt zugesicherte Frist von sieben Jahren ist ermessensfehlerfrei erfolgt. Ein Ermessensfehler ist weder vorgetragen worden, noch sonst ersichtlich. Gründe, die vom Beklagten auf sieben Jahre reduzierte Frist zwingend (noch) geringer zu bemessen, sind vom Kläger ebenfalls nicht vorgebracht worden und auch anderweitig nicht erkennbar. Sollte der Kläger doch noch erfolgreich eine Drogen- und/oder Verhaltenstherapie abschließen oder die von ihm vorgetragene Verlobte heiraten, besteht die Möglichkeit, den berechtigten Interessen des Klägers ebenso wie anderweitig neu hinzutretenden Belangen, die sich zu Gunsten des Klägers auswirken, durch eine Fristverkürzung nach § 11 Abs. 4 AufenthG Rechnung zu tragen.
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5. Die Abschiebungsandrohung ist ebenso nicht zu beanstanden. Es wird insoweit auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Kläger hat als unterlegener Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.