Titel:
Abschiebungsverbot bei missbräuchlicher Inanspruchnahme des Gesundheitssystems
Normenkette:
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Ist ein Asylantrag rechtsmissbräuchlich gestellt worden, nur um eine aufwändige Krankheitsbehandlung im Bundesgebiet zu erlangen, ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von einem atypischen Fall auszugehen, so dass dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich ein von diesem auszuübendes Ermessen zukommt, ob es das Abschiebungsverbot feststellt oder versagt. (Rn. 53 – 56)
2. Daran hält die Kammer auch in Ansehung der Beschlüsse des BayVGH vom 18. Mai 2020 (2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) fest. (Rn. 57)
Schlagworte:
Aufhebung der Versagung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelfall (Armenien, aktuell verschlechterte Lage, spezifisches Medikationserfordernis);, bloße Verpflichtung zur Neuverbescheidung unter Beachtung dieser Rechtsauffassung des Gerichts, da hier Ermessenseröffnung im atypischen Fall;, zielgerichteter Missbrauch des Asylverfahrens zur Erlangung eines Aufenthalts zu aufwändiger Krankheitsbehandlung in den hiesigen Gesundheits-/Sozialsystemen;, Folge-Aufhebung der Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung und der Entscheidung zu § 11 Abs. 1 AufenthG, Armenien, Krankenbehandlung, Missbrauch des Gesundheitssystems
Fundstelle:
BeckRS 2020, 41168
Tenor
1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 25. Januar 2017 verpflichtet, bei der Klägerin über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens haben die Klägerin und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Bei der Klägerin handelt es sich nach deren Angaben um eine 1986 geborene armenische Staatsangehörige und Volkszugehörige. Sie stellte am 30. September 2015 zusammen mit ihrem Ehemann und einem Kind bei der Außenstelle Zirndorf des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) niederschriftlich Asylantrag; für ein weiteres Kind wurde nachträglich am 30. Juni 2016 Asylantrag gestellt.
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Bei seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG am 5. Juli 2016 machte der Ehemann der Klägerin im Wesentlichen folgende Angaben laut Niederschrift:
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Bis zur Ausreise am 20. Juli 2015 habe er in … gewohnt. Die Reise nach Deutschland sei 12.000 US-Dollar teuer gewesen; das Geld habe er im Wesentlichen aus dem Erlös seines veräußerten Grundstücks und Autos gehabt. Seine Eltern seien ebenfalls in … wohnhaft. Im Heimatland habe er außerdem noch Geschwister und weitläufige Verwandtschaft. Er sei zehn Jahre zur Schule gegangen und habe sodann vier Jahre Logistikwesen mit Abschluss studiert. Zuletzt sei er als Bauarbeiter tätig gewesen.
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In erster Linie sei seine Ausreise auf Grund der schweren Erkrankung seiner Ehefrau erfolgt. Diese Erkrankung habe 2006 begonnen. In diesem Jahr sei seine Ehefrau von einem Chefarzt für Frauenheilkunde im Republikanischen Klinikum in …, Professor … - Familienname unbekannt - operiert worden. Dabei habe dieser Arzt eine Niere seiner Frau entfernt, um sie zu verkaufen. In der Folgezeit seien noch sieben weitere Operationen der Ehefrau in Armenien gefolgt. Es sei im Arbeitszimmer ein Gespräch über Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen des missratenen Behandlungsverlaufs erfolgt. Der Arzt habe gesagt, dass es bereits eine Vielzahl von Beschwerden gegen ihn geben würde, seine sei nur eine weitere Beschwerde. Zum Ausgleich habe der ihm einen Betrag von 8.000 US-Dollar angeboten und gesagt: „Da hast du Geld. Du sollst hier zusammen mit deiner Familie Armenien verlassen und mich in Ruhe lassen.“. Er habe das Geld nicht genommen und es dem ins Gesicht geworfen. Beim Verlassen des Zimmers habe der Arzt ein Glas genommen und es ihm hinterhergeworfen. Der habe ihn am Kopf getroffen. Er habe diesen Arzt gerichtlich zur Verantwortung ziehen wollen, jedoch sei es seiner Ehefrau sehr schlecht gegangen. Zwei Tage später sei es ihr so schlecht gegangen, dass sie mittels MRT habe untersucht werden müssen. Bei dieser Untersuchung sei festgestellt worden, dass der Harnweg seiner Frau so zusammengenäht worden sei, um die Entnahme der Niere dadurch zu ermöglichen. Sodann sei sie ins Krankenhaus … in … gekommen, weil die Niere habe entfernt werden müssen. Das sei die erste Niere gewesen. Eigentlich sei es so gewesen, dass die erste Operation ein gynäkologischer Eingriff durch den Neffen des Professors nicht die Niere, sondern eine Zyste betroffen habe. Sodann sei eine zweite Operation erfolgt, die den Darm betroffen habe. Hierbei sei offensichtlich ein ärztlicher Kunstfehler durch den Professor begangen worden, wie sich bei den Untersuchungen im …-Krankenhaus herausgestellt habe. Später, als seine Ehefrau wieder draußen gewesen sei, habe er den Professor wegen des begangenen Kunstfehlers gerichtlich zur Verantwortung ziehen wollen. Er habe sich an einen Rechtsanwalt gewandt, der ihn ermutigt habe, zum Gericht zu gehen. Bei Gericht habe er den Professor anzeigen wollen. Allerdings habe ihm ein Mitarbeiter davon abgeraten, indem er gesagt habe, dass er sich besser um seine kranke Frau kümmern solle. Er habe dann die Anzeige gegen den Professor fallen gelassen. In der Folgezeit sei seine Ehefrau schwanger geworden und habe seine Tochter am 6. August 2013 zur Welt gebracht. Auf Grund der kostspieligen Krankenbehandlungen seiner Ehefrau sei er drei Monate später für acht Monate nach Russland gegangen, um dort Geld zu verdienen, das sie gebraucht hätten, um entstandene Schulden zu verringern. Als er wieder zurück in Armenien bei seiner Familie gewesen sei, sei er noch einmal in das … Krankenhaus und dort in das Arbeitszimmer von Professor … gegangen. Er sei sauer gewesen, weil es seiner Ehefrau nach fast zehn Jahren immer noch gesundheitlich sehr schlecht gegangen sei. Es sei aber nicht zu einem Racheakt gekommen, weil er ja dann wahrscheinlich seine Familie nicht hätte unterstützen können. Der Professor habe gesagt, dass er nicht dulde, dass er mit seiner Ehre spiele, und habe ihn aus dem Zimmer gewiesen mit den Worten: „Verschwinde jetzt, sonst werde ich dir etwas antun.“. Als er danach wieder zu Hause gewesen sei, habe er zwei Drohanrufe bekommen. Dort habe man ihn aufgefordert, dass er den „Onkel“ in Ruhe lassen solle. Da er für seine Familie und sich keinen Ausweg mehr gesehen habe, hätten sie sich entschlossen, Armenien nach Frankreich oder Deutschland zu verlassen. (Auf Frage, wann genau er denn zum zweiten Mal zu diesem Professor gegangen sei:) Im Jahr 2015 vor der Ausreise, es sei zwei bis drei Monate vor der Ausreise gewesen. Der erste Drohanruf sei zwei Tage nach diesem Besuch gewesen. Er sei da gerade draußen gewesen und habe in der Stadt … gearbeitet. Er habe einen Auftrag von einem Bistro gehabt, dort sei er mit Fliesenlegen beschäftigt gewesen. Seiner Frau habe er nichts davon erzählt, er habe sie nicht belasten wollen. Auch seinen Eltern habe er nichts davon erzählt. (Auf Frage, was er denn mit seiner Frau über den Grund seiner Ausreise besprochen habe:) Sie sollten alles verkaufen und nach Europa gehen, um ihre Gesundheit zu retten. Er habe hier auch keine Zukunft, es drohe seinem Leben auch Gefahr. Seine Frau habe gemeint, dass da, wo er sei, sie auch sei. Das sei im Juli 2015 gewesen. Der zweite Drohanruf sei zwei Tage nach dem ersten Anruf gekommen. (Auf Frage, wann das Gespräch mit dem Professor stattgefunden habe, als der ihm 8.000 US-Dollar geboten habe und er diese zurückgewiesen habe:) Es sei gewesen, nachdem seine Mutter und seine Frau zum MRT gegangen gewesen seien. Konkret wann könne er nicht sagen, seine Frau habe alle Papiere. (Auf Aufforderung, den Vorfall doch mal in eine Geschehnisreihenfolge einzuordnen:) Er habe ein schweres Leben gehabt, er habe sich um seine kranke Ehefrau kümmern müssen. Er könne es nicht sagen. Er habe schon gesagt, dass er sich schlecht an Zahlen und Daten erinnern könne. (Auf Frage nach Befürchtungen, wenn er nach Armenien zurückginge:) Seine Frau könnte dort sterben und er könnte einen Racheakt ausüben und seine Kinder würden so zu Waisen. (Auf Frage, wann die Krankheitsbilder bei seiner Ehefrau infolge der Kunstfehler festgestellt worden seien:) Das sei in den MRT-Untersuchungen in … vor der Geburt seiner Tochter gewesen. Das Datum dieser Untersuchungen sei am 4. Mai 2010 gewesen. (Auf Frage, wie viel Geld er jährlich wegen der Krankheit seiner Ehefrau in Armenien ausgegeben habe:) Die Operationen hätten ca. zwischen 350.000 und 400.000 Dram gekostet, außerdem 500 monatlich für verschiedene Untersuchungen und Medikamente. (Auf Befragen zu schutzwürdigen Belangen hinsichtlich eines etwaigen Einreise- und Aufenthaltsverbotes für die Bundesrepublik Deutschland:) Derartige schutzwürdige Belange könne er nicht benennen. Wenn seine Frau hier bleibe, brauche die seine Unterstützung.
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Laut Niederschrift fügte der Ehemann bei der Rückübersetzung hinzu, dass das Glas beim ersten Besuch im Arbeitszimmer des Professors nicht von diesem, sondern von einem Sicherheitsbediensteten des Arztes geworfen worden sei.
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Die Klägerin führte bei ihrer Anhörung am 5. Juli 2016 laut Niederschrift im Wesentlichen aus:
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Ihre letzte offizielle Anschrift im Heimatland sei in …, H2.Straße gewesen, dort habe seit 2004 ihre Familie gewohnt. Die Adresse in H2.Straße in … habe ihr Mann gekauft, dort hätten sie zuletzt von 2013 bis 2015 gewohnt, aber sie sei ja bei der anderen Anschrift gemeldet gewesen. Ihre Eltern wohnten noch in … Weitere Verwandte im Heimatland habe sie nicht. Sie sei bis zur zehnten Klasse zur Schule gegangen und sei zuletzt Hausfrau gewesen.
(Auf Befragen zu den Gründen ihres Asylantrages:)
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Ihrem Leben habe aus gesundheitlichen Gründen Gefahr gedroht. Dies alles sei wegen eines Mannes geschehen. Ihrer gesamten Familie habe so auch Gefahr gedroht. Sie habe im Jahr 2006 plötzlich starke Schmerzen bekommen und sei in das … Krankenhaus von … gebracht worden. Man habe dort eine Zyste festgestellt, die dringend operiert werden sollte. Offensichtlich sei die durchgeführte Operation mittels Laparaskopie nicht fachgerecht durchgeführt worden. Sie sei wohl dessen erste Patientin für diese Methode gewesen. In der Folgezeit hätten sich Komplikationen bei ihr entwickelt. Bis 2015 sei sie sechsmal operiert worden. Eigentlich sei sie gesund gewesen. Bei der zweiten Operation habe der Professor einen Harnleiter fehlerhaft zusammengenäht. Sie habe Komplikationen erlitten. Mit ihrer Schwiegermutter seien sie zum … Krankenhaus gefahren. Dort habe eine Ärztin festgestellt, dass es um ihren Gesundheitszustand schlecht bestellt gewesen sei. Die habe gesagt, dass sie zu dem Professor … … … gehen sollten. Dies hätten sie zusammen mit der Ärztin gemacht. Später habe sich zwischen dem Professor und der Ärztin ein lautes Gespräch entwickelt. In der Folgezeit habe sie nur noch gehört, dass der Professor die Ärztin wohl entlassen habe. Das sei 2010 gewesen. Das seien ihre Asylgründe. Sie erzähle jetzt die Zusammenstellung ihrer Erkrankungen, um es aufzuzeigen. Am 4. Mai 2010 sei sie zu einem MRT gegangen. Bei der Untersuchung seien Schädigungen in der Niere festgestellt worden. Sodann sei ihre Operation im Krankenhaus … im … erfolgt. Eine Niere sei entfernt worden. Bevor sie operiert worden sei, seien ihre Schwiegereltern, ihr Ehemann und sie zu Professor … gegangen und hätten ihn aufgefordert, dass er etwas unternehmen solle. Der habe gesagt, dass alles nur ein Zufall sei. Der habe Geld zur Wiedergutmachung angeboten, was sie aber abgelehnt habe. Der habe selbstsicher gesagt, dass ihm ohnehin nichts passieren würde, falls er verklagt würde. Die Schwiegereltern und sie hätten das Arbeitszimmer des Professors verlassen, während der Ehemann noch bei ihm geblieben sei. Etwas später sei die Tür aufgegangen und ihr Mann sei mit einer großen blutenden Wunde am Kopf herausgekommen. Er habe gesagt, dass sie hier nichts mehr zu suchen hätten und nachdenken sollten, wie ihr Leben gerettet werden könnte. In der Folgezeit habe sie zahlreiche Gesundheitsprobleme wie Fieber, Erbrechen und Schmerzen gehabt. Sie habe mehrfach stationär in Krankenhäuser gemusst. Immer wieder sei von verschiedenen Ärzten konstatiert worden, dass ihr Darm infolge der fehlerhaften Operationen in einem regelwidrigen Zustand gewesen sei. Da sie viele Schulden gehabt hätten, sei ihr Mann für acht Monate nach Russland zum Arbeiten gegangen. Im Jahr 2015 habe sie häufig starke Schmerzen gehabt und sich an einige Krankenhäuser gewandt. Diese hätten sie zurückgewiesen, nachdem die erfahren hätten, wer der Operateur gewesen sei. Ihr Ehemann sei zurückgekommen. Sie habe vier Monate lang kaum Nahrung zu sich nehmen können. Da es ihr so schlecht gegangen sei, habe ihr Schwiegervater noch einmal beschlossen, den Professor … aufzusuchen. Er sei allein zu dem gegangen. Der Professor habe zu ihm gesagt, wenn sie nochmal kämen und seinen Namen in Schmutz zögen, dann vernichte er sie alle: „Verschwindet von hier, ihr sollt Armenien verlassen und euch hier nicht mehr blicken lassen“. Ihr Schwiegervater habe einen Rechtsanwalt gekannt. Sie seien zu einem Gericht gegangen. Dort sei ihnen aber, nachdem festgestanden habe, dass es gegen Professor … gehe, gesagt worden, sie sollten besser von einem gerichtlichen Verfahren absehen und sich um sie kümmern. Ihr Schwiegervater habe resigniert und gemeint, dass er nichts mehr unternehmen könne. Gemeinsam hätten ihr Mann und sie beschlossen, Armenien zu verlassen. (Auf Frage, dass ihr Mann betont habe, dass er es gewesen sei, der noch einmal Kontakt zu dem Professor aufgenommen habe, wie sie sich den Widerspruch erkläre:) Sie wisse nur, dass ihr Schwiegervater dort gewesen sei. (Auf Frage, was ihr Schwiegervater dort 2015 beabsichtigt habe:) Ihre Gesundheit. Er habe wohl gehofft, durch eine Auskunft eine Empfehlung für einen anderen Mediziner oder gesundheitliche Tipps zu erhalten. (Auf Frage, was sie bei einer Rückkehr nach Armenien befürchte:) Sie sterbe lieber hier. (Auf Befragen zu schutzwürdigen Belangen hinsichtlich eines etwaigen Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Bundesrepublik Deutschland:) Derartige schutzwürdige Belange könne sie nicht benennen. Ihr Leben hänge vom Aufenthalt hier in Deutschland ab.
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Die Klägerin legte dem BAMF diverse Unterlagen zu stationärer Klinikbehandlung in der Bundesrepublik Deutschland sowie einen Bericht einer Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie vom 26. Januar 2016 vor; für die Einzelheiten wird auf Blatt 44 bis 51 und 95 bis 100 sowie 106 bis 107 der in elektronischer Form beigezogenen Bundesamtsakte verwiesen.
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In dem Befundbericht von Frau Dr. … vom 26. Januar 2016 wird der Klägerin zu 2) diagnostiziert: Kopfschmerz, präsynkopale Ereignisse, dringender Verdacht auf funktionelles Geschehen, V.a. Hyperventilationstetanie. Dort ist folgende Vorgeschichte aufgeführt: Die Klägerin zu 2) habe insgesamt acht Operationen gehabt, viermal am Darm, einmal am Eierstock. Sechs Operationen hätten in Armenien stattgefunden, zwei Operationen hier, zuletzt im September 2015. Seit der letzten Operation seit zwei Monaten habe sie Kopfschmerzen. Die Kopfhaut sei an einer Stelle überempfindlich. Wenn Wasser von der Dusche sie dorthin treffe, werde sie ohnmächtig. Sie bemerke, dass sie starken Druck auf den Kopf kriege. Sie müsse dann sehr stark atmen, setze sich hin. Ihr Mann bringe sie dann ins Bett. Sie sei dann zwar wach, aber wie in einer anderen Welt. Sie wolle dann nur schlafen, wie wenn sie stark gearbeitet habe. Gleichzeitig habe sie Schmerzen im linken Arm. Ein Urinverlust und ein Zungenbiss würden verneint. Diese Kopfschmerzen würden immer häufiger. Sie wache auch nachts mit Kopfschmerzen und einem hohen Puls auf. Die Attacken dauerten von Minuten bis zu Stunden. Der Kopfschmerz sei immer links, ziehe vom Kopf nach hinten und in das Auge. In der Familie seien keine Kopfschmerzen bekannt.
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In dem zeitlich letzten Klinikbericht (* … vom 1.7.2016) werden der Klägerin folgende Diagnosen gestellt: Obstipation bei Koprostase; Polypektomie Coecum, Histologie folgt; Ausschluss vesicorenaler Reflux bei dysurischen Beschwerden DD funktionell. V.a. posttraumatische Belastungsstörung; Zustand nach mehreren Adhäsiolysen zuletzt 2. September 2015 Klinikum …, postoperative Pankreatitis, Zustand nach Peritonitis; Zustand nach Ovarialzystenresektion rechts; Zustand nach Nephrektomie rechts vor ca. zehn Jahren.
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Mit Bescheid vom 25. Januar 2017 lehnte das BAMF die Anträge der Klägerin, ihres Ehemannes und ihrer Kinder auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und forderte die Antragsteller unter Fristsetzung (im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens) und Androhung der Abschiebung - zuvorderst nach Armenien - zur Ausreise auf; außerdem befristete das BAMF das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
13
In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Der Vortrag der Antragsteller habe nicht davon überzeugt, dass die beiden Drohanrufe oder die Erkrankung der Klägerin in Zusammenhang mit einem flüchtlingsrelevanten Merkmal stünden. Die Antragsteller hätten keine Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG innerhalb Armeniens geltend gemacht. Aus ihrem Vortrag ergäben sich keine Anhaltspunkte, die darauf hindeuteten, dass sie auf Grund eines asyl- und flüchtlingsrelevanten Merkmals von staatlichen Stellen oder nicht-staatlichen Dritten in Armenien verfolgt würden. Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, dass für sie bei Rückkehr in ihr Heimatland Gefahr bestehe, Opfer einer solchen Verfolgung zu werden. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Unter Hinweis auf die Ausführungen zum Flüchtlingsschutz und unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragsteller seien keinerlei Anhaltspunkte erkennbar, die die Annahme rechtfertigten, dass den Antragstellern bei Rückkehr nach Armenien ein ernsthafter Schaden drohe. Weder aus dem Sachvortrag noch aus den Erkenntnissen des Bundesamtes seien individuelle gefahrerhöhende Umstände erkennbar. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Wie bereits zuvor festgestellt, drohe den Antragstellern in Armenien keine durch einen staatlichen oder nicht-staatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Armenien führten auch nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Antragsteller eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege; die dafür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Eine zu berücksichtigende Gefährdung ergebe sich nicht aus den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen in Armenien (diese wurden im Folgenden näher ausgeführt). Eine allgemein schwierige soziale und wirtschaftliche Lage begründe kein Abschiebungsverbot, sie müsse und könne von den Antragstellern ebenso wie von vielen ihrer Landsleute gegebenenfalls unter Aufbietung entsprechender Aktivitäten bewältigt werden. Eine Rückkehr sei insofern auch zumutbar. Des Weiteren sei der Ehemann der Klägerin erwerbsfähig und habe als Bauarbeiter und Fliesenleger gearbeitet. Ihm sei es auch bis zu seiner Ausreise gelungen, für sich und seine Familie eine Lebensgrundlage zu schaffen. Somit bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Ehemann nicht im Stande sein werde, bei einer Rückkehr nach Armenien eine zumindest existenzsichernde Grundlage zu schaffen. Weiterhin habe der Ehemann 2013 nach Angaben der Klägerin Eigentum in … erworben, woraufhin die Familie dorthin gezogen sei. Über die Art oder den Verbleib des Eigentums hätten die Antragsteller keine Angaben gemacht. Darüber hinaus lebten die Eltern, Geschwister und weitläufige Verwandtschaft des Ehemannes noch in Armenien, ebenso wie die Eltern der Klägerin. Somit könnten die Antragsteller auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen und es sei daher nicht ersichtlich, dass sie nach Rückkehr in eine existentielle Notlage geraten würden. Aus dem Kontext des Vorbringens der Klägerin ergebe sich ebenso wenig die Annahme, dass die vorgetragenen Beeinträchtigungen im Herkunftsland nicht medizinisch behandelt werden könnten, dies insbesondere unter Zugrundelegung der Erkenntnisse zur medizinischen Versorgung in Armenien (für die nachfolgenden Ausführungen dazu wird im Einzelnen auf den Bescheidsabdruck in der Bundesamtsakte verwiesen) und im Hinblick auf die Tatsache, dass die Klägerin nach eigenen Angaben bereits in Armenien entsprechende ärztliche Behandlung und medikamentöse Versorgung in Anspruch genommen habe. Es sei vor diesem Hintergrund nicht erkennbar, dass für die diagnostizierten Verdauungsprobleme, die Entzündung der Bauchspeicheldrüse sowie den Verdacht auf eine PTBS eine erforderliche medizinische Behandlung nicht gewährleistet sei oder aus finanziellen Gründen scheitern könnte. Anhand dessen sei nicht zu befürchten, dass die Klägerin sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen bzw. einem Todesrisiko durch Krankheit ausgesetzt werde, auch wenn nicht davon auszugehen sei, dass die Klägerin eine optimale ärztliche Versorgung wie in der Bundesrepublik Deutschland erhalten werde. Der menschlich verständliche Wunsch der Klägerin nach einer Behandlung in Deutschland ziele im Ergebnis darauf ab, ihren Gesundheitszustand zu verbessern. Die Schutznorm des § 60 Abs. 7 AufenthG umfasse nur den Schutz vor einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung oder der Gefahr des Todes alsbald nach Rückkehr ins Heimatland, nicht jedoch die Ermöglichung der Gesundheitsverbesserung.
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Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen, die Ausreisefrist ergebe sich aus § 38 Abs. 1 AsylG. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung auf Grund schutzwürdiger Belange seien weder ausreichend vorgetragen worden noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamtes vor. Die Kläger verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessenprüfung zu berücksichtigen wären.
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Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 7. Februar 2017 ließ die Klägerin zusammen mit Ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern Klage (AN 6 K 17.30565) erheben mit dem Antrag:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2017 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, hilfsweise ihnen die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, hilfsweise den subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Klagebegründung wurde auf den Gesundheitszustand der Klägerin verwiesen, wozu wiederum auf vorgelegte ärztliche Bescheinigungen einer internistisch-allgemeinmedizinischem Gemeinschaftspraxis vom 12. Dezember 2016 und 27. Februar 2017 nebst Medikationsplan und einen Befundbericht und ein Attest der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. … vom 28. November 2016 und 20. Februar 2017 Bezug genommen wurde.
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In der Bescheinigung der Gemeinschaftspraxis vom 27. Februar 2017 finden sich für die Klägerin folgende Diagnosen: Epilepsie mit Grand-mal-Anfällen und komplex fokalen Anfällen; gesicherte Obstipationsneigung bei Zustand nach mehreren Abdominaloperationen mit Bridenbildung; ausgeprägtes Lymphödem; rez. Koprostase; arterielle essentielle Hypertonie; chronisches Schmerzsyndrom. Auf Grund der Diagnosen sei derzeit eine intensive medikamentöse Therapie medizinisch unabdingbar. Im Rahmen der massiven akuten Schmerzanfälle sowie der rezidivierenden Koprostase seien seit Oktober auch wiederholt intravenöse medikamentöse Therapien vonnöten gewesen. Ein Ende dieser Behandlung bzw. eine Reduktion der Behandlungshäufigkeit sei derzeit nicht absehbar. Unter der derzeit laufenden medikamentösen Therapie sei mit einer Stabilisierung der Beschwerdesymptomatik zu rechnen, wobei rezidivierende intravenöse Therapien bei Beschwerdeverschlechterung nicht ausgeschlossen seien. Ohne die notwendige medikamentöse Therapie sei mit einer deutlichen Verschlechterung der Symptomatik zu rechnen, insbesondere die massiven Obstipationen und Koprostasen könnten im Rahmen der Briden-Erkrankung durchaus zu einer Ileussymptomatik mit daraus resultierender Notsymptomatik führen. Da derzeit auch keine suffiziente medizinische Erklärung für die massive Gewichtszunahme der Patientin vorliege, sei auch aus diesem Grund mit einer deutlichen Verschlechterung der Beschwerdesymptomatik zu rechnen, zumal eine Reduktion der Schmerzmittelmedikation zum momentanen Zeitpunkt nicht möglich sei. Sollte die notwendige medikamentöse Therapie nicht mehr gewährleistet sein, sei mit einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Patientin zu rechnen.
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Dazu legte die Klägerbevollmächtigte noch ein armenisch-sprachiges Schreiben vor und erklärte, dies sei eine Bestätigung des Klinikums in der Heimatstadt der Klägerin, wonach im dortigen Klinikum Lamotrigin, Nebivolol, Pregabalin, Palexa Retard, Resolor und Tavor Expidet nicht erhältlich seien.
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Nachfolgend reichte die Klägerbevollmächtigte weitere ärztliche Unterlagen zum Gesundheitszustand der Klägerin mit den Daten 31. Mai und 30. Juli 2017 sowie 22. Januar und 1. Februar 2018 ein.
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In dem Befundbericht des Universitätsklinikums … - psychosomatische und psychotherapeutische Abteilung - vom 1. Februar 2018 werden der Klägerin „V.a. dissoziative Störung, nicht näher bezeichnet, psychische Faktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten, mittelgradige depressive Episoden“ diagnostiziert. Eine neurologische Abklärung habe keine eindeutige Epilepsie nachweisen können, so dass aktuell der Verdacht auf eine dissoziative Störung vorliege. Des Weiteren bestünden psychologische Faktoren vor dem Hintergrund multipler Bauchoperationen mit schwerwiegenden Komplikationen sowie eine mittelgradige depressive Episode. Angesichts der Komplexität und Schwere der Beschwerden und der erheblichen somatischen Komplikationen werde dringend die Durchführung einer stationären psychosomatischen Behandlung empfohlen. Auf Grund der Versorgung der vierjährigen Tochter komme eine stationäre Behandlung für die Klägerin jedoch aktuell nicht in Frage. Es werde daher die Aufnahme einer ambulanten therapeutischen Behandlung empfohlen, die Deutschkenntnisse der Patientin seien dafür ausreichend. Bezüglich weiterer Unterstützungsmöglichkeiten werde außerdem die Anbindung an den Verein für ehrenamtliche Flüchtlingsbetreuung empfohlen.
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Laut einer zusätzlich vorgelegten Bescheinigung der Fachärztin Dr. … vom 19. März 2018 erhielt die Klägerin bei der Diagnose „dissoziative Anfälle, chronisches Schmerzsyndrom, dringender Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung“ tägliche Medikation mit Lamotrigin 175 mg, Pregabalin 75 mg und Opipramol 50 mg. Bei Erhalt der notwendigen Medikation sei von einer deutlichen Reduktion der Anfälle bzw. Anfallsfreiheit auszugehen. Ohne notwendige Medikation sei eine Häufung der Anfälle zu erwarten. Es sei zu erwarten, dass ein ähnlicher Zustand wie zu Beginn der Medikation eintreten werde mit mehreren Anfällen täglich und Bewusstlosigkeit und daraus resultierender Verletzungsgefahr. Zusätzlich bestehe nach Angaben der Klägerin ein chronisches Schmerzsyndrom, sie gebe an, dass sie diesbezüglich mit Morphium behandelt werde. Eine Gesundheitsverschlechterung sei bei Abbruch der Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten.
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Außerdem noch wurden für die Klägerin ein Arztbericht der … … vom 18. Mai 2018, ein hausärztliches Attest nebst Medikationsplan vom 13. Juni 2018 und ein gastroenterologisches Attest vom 23. September 2018 nachgereicht. Gemäß dem Klinikbericht vom 18. Mai 2018 war die Klägerin dort vom 17. bis 24. Mai 2018 in stationärer Behandlung zur Krisenintervention bei bekannter rezidivierender depressiver Störung, gegenwärtig schwerer Episode ohne psychotische Symptome. Im Vordergrund hätten deutliche Grübelneigung, Zukunftsängste und soziale Ängste gestanden. Auf Grund des kurzen Aufenthaltes hätten sie bei beschriebenen somatischen Vorerkrankungen keine antidepressive Medikation begonnen, sondern den Schwerpunkt auf die Gesprächstherapie sowie das weiterführende multimodale Therapieprogramm gelegt. Die internistische häusliche Medikation sei unverändert fortgeführt worden. Am 24. Mai 2018 sei die Entlassung in stabilem Zustand zurück ins häusliche Umfeld zur weiteren ambulanten Betreuung erfolgt. Eine ambulante nervenärztliche/psychotherapeutische Weiterbehandlung sei nach dem stationären Aufenthalt unbedingt notwendig.
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Laut dem Medikationsplan vom 13. Juni 2018 erhält die Klägerin als Dauermedikation Lamotrigin, Metoprolol und Ivabradin, Tapentadol, Omeprazol, Metamizol, Opipramol sowie Mebeverin. Als Bedarfsmedikation sind dort bezeichnet Microlax Klistiere (Dodecyl, Natrium Ion, Sorbitol), Lorazepam, Natrium Ion, Bisacodyl sowie Ibuprofen.
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Im gastroenterologischen Attest vom 23. September 2018 wird der Klägerin bescheinigt, dass sie unter ausgeprägter chronischer Obstipation infolge ausgeprägter Verwachsungen des Bauchraums nach multiplen Operationen leide. Die Verstopfungssymptomatik werde durch das gleichzeitige Vorliegen chronisch opiatabhängiger Bauchschmerzen infolge von Morphineinnahme zusätzlich verschlechtert. Durch die gastrointestinale Motilitätsstörung komme es sekundär zu Oberbauchbeschwerden mit Aufstoßen und Oberbauchschmerzen. Weiterhin leide die Klägerin unter einer psychischen posttraumatischen Anpassungsstörung. Regelmäßige ärztliche Konsultationen und ausgiebige gastroenterologische Diagnostik in der Praxis in den letzten zwei Jahren unterstrichen den hohen Leidensdruck der Patientin. Ob bei der komplexen medizinischen Situation eine adäquate Versorgung im Heimatland gewährleistet sei, erscheine fraglich.
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Auf Anfrage zur Verfügbarkeit der im Medikamentenplan genannten Medikamente in Armenien erklärte das BAMF mit Schreiben vom 9. Oktober 2018, dass dort Lamotrigin, Metoprolol, Ivabradin, Omeprazol, Metamizol, Mebeverin, Dodecyl (Microlax), Bisacodyl, Ibuprofen und Lorazepam verfügbar seien. Zu Tapentadol sei keine Information vorliegend; andere starke Schmerzmittel, die verfügbar seien, seien Morphium und Tramadol. Inwieweit die alternativen Wirkstoffe verabreicht werden können, müsse immer ärztlicherseits geprüft werden, hierzu möge der behandelnde Arzt konsultiert werden. Zu Natrium Ion als Abführmittel lägen keine Informationen vor, allerdings seien die Wirkstoffe Macrogol und Lactulose verfügbar; es gelte der gleiche Hinweis wie bei Tapentadol. Nicht verfügbar sei Opipramol.
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In der mündlichen Verhandlung am 23. Oktober 2018 legte die Klägerin noch (in Kopie) ein aktuelles Attest der Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. … vom 15. Oktober 2018 über ihre dortige regelmäßige nervenärztliche Behandlung vor. Es habe sich bei der Klägerin der Befund ergeben, dass keine tatsächliche somatische Epilepsie vorliege, sondern dass es sich um psychogene Anfälle im Rahmen einer massiven Angststörung und wohl posttraumatischen Belastungsstörung handele; Diagnosen: Psychogene Anfälle, kein Hinweis auf Epilepsie, depressive Episode, Somatisierungsstörung, V.a. posttraumatische Belastungsstörung. Die Erkrankung sei stark ausgeprägt. Es sei gelungen, dass die Anfälle zeitweise unter einer Medikation mit Lamotrigin sistierten. Lamotrigin habe zwei Funktionen, zum einen als Antiepileptikum, zum anderen aber auch als psychischer Phasenstabilisator. Zusätzlich erfolge eine Medikation mit Opipramol. Sie gehe davon aus, dass die Klägerin zugrunde liegend eine posttraumatische Belastungsstörung habe. Das vermutete Trauma sei der Klägerin jedoch (noch) nicht zugänglich. Sie reagiere daher mit somatoformen Beschwerden und dissoziativen Anfällen. Sie sei langfristig und möglicherweise lebenslang auf eine medikamentöse Therapie sowie eine intensive psychotherapeutische Begleitung angewiesen. Andererseits sei mit einer Zunahme der Anfälle und dem Risiko einer Verletzung durch die Stürze zu rechnen. Aufgrund der Erkrankung bestehe aus nervenärztlicher Sicht Reiseunfähigkeit. Es sei zu befürchten, dass es während der Abschiebung zu einer Zunahme der massiven Ängste und zu erneuten Anfällen komme. Die Medikation mit Lamotrigin und einem Antidepressivum, derzeit Opipramol, sei dringend langfristig, vermutlich lebenslang erforderlich. Auch eine ambulante Psychotherapie sei erforderlich. Die Klägerin sei auf eine kontinuierliche, regelmäßige Einnahme der Medikamente angewiesen. Sollte die Behandlung unterbrochen werden, bestehe das Risiko einer Zunahme der Anfälle mit ständigen Stürzen und Bewusstlosigkeit, einem hohen Verletzungsrisiko sowie einer Zunahme der Ängste der Depression bis hin zu akuter Suizidalität.
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Das beigefügte Arzneiverordnungsblatt für die Klägerin weist aus: Zopiclon Filmtabletten 1/2 bis 1 zur Nacht; Opipramol weiter bei Bedarf; Lamotrigin weiter morgens 50 mg, abends 100 mg. Außerdem war beigefügt ein Bericht des Instituts für Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und Sexuologie, …, vom 24. August 2018 über die Klägerin an Dr. …, wonach sich die Klägerin dort in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung befinde. Sie sei am 28. März 2018 erstmalig zur psychotherapeutischen Sprechstunde gekommen. Seither seien 3 Sprechstunden sowie 3 psychotherapeutische Sitzungen erfolgt. Eine verhaltenstherapeutische KZT (12 Sitzungen) sei am 14. August 2018 genehmigt worden. Geplant seien stabilisierende und ressourcenaktivierende Gespräche ein- bis zweimal im Monat. Wöchentliche Sitzungen seien aufgrund der Entfernung zum Wohnort der Patientin aktuell nicht möglich. Bei der Patientin lägen eine mindestens mittelgradige depressive Episode, sowie der V.a. eine dissoziative Störung vor. Es zeigten sich außerdem Hinweise auf eine posttraumatische Belastungsstörung, welche einer weiteren Exploration bedürften.
28
Die Klägerin erklärte in der mündlichen Verhandlung, dass es ihr ganz schlecht gehe, aber sie schaue mit ärztlicher Kontrolle positiv weiter. Insbesondere nehme sie wegen ihrer Schmerzen Tapentadol ein, die Dosis richte sich nach dem Bedarf, wenn sie das Haus verlasse, auf alle Fälle früh 50 mg. Es sei schon anderes probiert worden, aber sie nehme das, weil sie nur eine Niere habe. Außerdem nehme sie noch Novalgin und gegen Stress Opipramol sowie noch weitere Medikamente. Ihr Ehemann führte ergänzend aus, dass sie diese Anfälle vor allem beim Duschen, aber nicht nur dort, habe. Erstmals sei das in Deutschland nach einer Operation aufgetreten. Sie sei von ihm bewusstlos in der Dusche nach Hinweis von Sicherheitsleuten gefunden worden; sie sei damals ca. 10 Minuten bewusstlos gewesen. Sie könne nicht alleine duschen, sie bekomme Spasmen, er begleite sie daher immer beim Duschen. Es gebe aber auch Anfälle im sonstigen Leben außerhalb. Nach seiner Erinnerung sei das ca. 20-30 Mal in diesem Jahr gewesen, ca. 10-15 mal mit Bewusstlosigkeit.
29
In der damaligen mündlichen Verhandlung nahm dann die Klägerbevollmächtigte die Klage der Klägerin, ihres Ehemannes und der beiden Kinder insoweit zurück, als mit ihr die Verpflichtung der Beklagten zur Asylanerkennung, zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes beantragt worden war. Aufrechterhalten blieb die Klage mit dem Antrag,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass die nationalen Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
30
Wegen weiterer Einzelheiten des Ablaufs der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2018, insbesondere noch die Ablehnung eines von Klägerseite gestellten Beweisantrages, wird auf die diesbezügliche Sitzungsniederschrift verwiesen.
31
Daraufhin hat das erkennende Gericht vom Verfahren AN 6 K 17.30565 das Verfahren, soweit mit der Klage die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, sowie die entsprechende Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 begehrt wird, unter dem Aktenzeichen AN 6 K 18.31278 abgetrennt. Das verbleibende Verfahren AN 6 K 17.30565 hat es aufgrund der erklärten Klagerücknahme eingestellt.
32
Weiter hat das erkennende Gericht vom Verfahren AN 6 K 18.31278 das Verfahren der Klägerin unter dem neuen Aktenzeichen AN 6 K 18.31284 abgetrennt und zu weiterer Sachaufklärung vertagt. Im Verfahren AN 6 K 18.31278 hat es die verbliebene Klage des Ehemannes der Klägerin und der beiden Kinder mit Urteil vom 25. Oktober 2018 abgewiesen. Für Einzelheiten dieser Klagabweisung und deren Gründe wird auf das den Beteiligten bekannte Urteil verwiesen.
33
Im anhängig gebliebenen Verfahren der Klägerin (AN 6 K 18.31284) gab die Klägerin sodann vorsorglich eine vom Gericht erbetene Schweigepflichtentbindungserklärung gegenüber den sie behandelnden Ärzten ab.
34
Außerdem beantragte die Klägerin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, wofür sie allerdings nur eine unvollständige Erklärung zu den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen abgab.
35
In der Sache machte die Klägerin im Weiteren geltend, dass sie unter einem chronischen Anfallsleiden erkrankt sei und es immer wieder zu Anfällen mit Bewusstseinsverlust komme. Es bestehe der Bedarf an der Einnahme von Lamotrigin, Mirtazapin, Lorazepam und Opipramol. Eine adäquate Behandlung mit diesen Medikamenten sei für die Klägerin in Armenien nicht möglich.
36
Dazu legte die Klägerin zur Entwicklung ihres Gesundheitszustandes ein neues Attest der Fachärztin Dr. … vom 3. November 2020 folgenden wesentlichen Inhalts vor: Die Klägerin leide unter einem Anfallsleiden. In Situationen psychischer Belastung und bei Stress komme es zu dissoziativen Anfällen mit Bewusstseinsverlust. Daneben bestehe eine depressive Erkrankung, eine rezidivierende depressive Störung mit einer derzeit mittelschwer ausgeprägten depressiven Episode. Es erfolge eine Medikation mit Lamotrigin, das sowohl antiepileptisch als auch psychisch stabilisierend wirke, sowie eine Medikation mit Mirtazapin. Daneben bestehe eine Bedarfsmedikation mit Lorazepam und Opipramol. Aufgrund des Anfallsleidens mit schweren, zum Teil mehrmals täglichen Anfällen mit Bewusstseinsverlust sei die Klägerin nicht in der Lage, über lange Strecken zu verreisen oder gar Flugreisen zu absolvieren. Für den Fall, dass ein Anfall mit Bewusstseinsverlust auftrete, drohe die Gefahr des Erstickens. Die Klägerin sei, sowohl was die depressive Erkrankung betreffe als auch was das Anfallsleiden betreffe, auf eine dauernde medikamentöse Behandlung angewiesen. Bei Unterbrechung oder Abbruch der medikamentösen Behandlung sei mit einer Häufung der Anfälle mit Bewusstseinsverlust zu rechnen mit den entsprechenden Folgen, dem Risiko zu ersticken, sich beim Sturz zu verletzen, sich gar eine Kopfverletzung oder einen Wirbelbruch zuzuziehen. Ein Pausieren oder Abbruch der antidepressiven Medikation würde zu einer Verschlechterung der depressiven Erkrankung führen mit schwerer depressiver Symptomatik und Suizidalität. Somit sei sowohl aus Sicht des Anfallsleidens mit dem Risiko des Erstickens oder einer schweren körperlichen oder Kopfverletzung als auch aus Sicht der depressiven Erkrankung bei einem Abbruch der Erkrankung (Anm. des Gerichts: gemeint wohl „Behandlung“) Lebensgefahr zu befürchten.
37
Außerdem wurde ein Attest der die Klägerin behandelnden Fachärzte für Allgemeinmedizin vom 4. November 2020 mit den Diagnosen „dissoziative Anfälle, chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren, chronische Koprostase und abdominelles Schmerzsyndrom bei Z.n. multiplen Bauchoperationen mit Z.n. Nephrektomie, art. Hypertonie, chronisches Kopfschmerzsyndrom, rez. depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode“ eingereicht. Es sei eine weitere langfristige, sowohl medikamentöse als auch psychotherapeutische und fachärztliche Behandlung erforderlich. Ohne die notwendige Medikation werde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Verschlimmerung des Beschwerdebildes (vor allem der Schmerzen und der Koprostase) und eine Häufung der Anfälle zu erwarten sein. Eine regelmäßige ärztliche Behandlung und Anpassung der Medikation sei aus ärztlicher Sicht unbedingt erforderlich. Beigefügt war dazu der Medikationsplan für die Klägerin vom 4. November 2020:
Dauermedikation: Metoprolol 1-0-1-0, Mebeverin 1-1-1-0, Natrium Ion Klistier, Prucaloprid 1-0-0-0 bis 2 × 1 bei Verstopfung, Metamizol 1-0-0-0 bei Schmerzen bis 4 × 1-2 Tabletten, Esomeprazol 1-0-0-0, Tapentadol 1-0-1-0, Lamotrigin 1/2-0-1-0;
Bedarfsmedikation: Lorazepam bei akuter Unruhe, Angst eine Tablette, Natrium Ion Supp. bei Verstopfung, Bisacodyl bei Verstopfung bis 3 × 1.
38
Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 17. November 2020 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Bundesamtsakte Gz. … Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
40
Ausweislich des zuletzt gestellten Klageantrags wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage nur gegen Ziffer 4 bis 6 des Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 und begehrt nebst entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheides die Verpflichtung des Bundesamtes, bei der Klägerin nationalen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
41
Diese Klage ist zulässig und teilweise begründet.
42
Diesem Klageantrag ist insoweit stattzugeben, als die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 zu verpflichten ist, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen - soweit die Klägerin eine darüber hinaus gehende Verpflichtung der Beklagten begehrt - ist die Klage jedoch mangels Begründetheit abzuweisen.
43
Vorliegend sind die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Armeniens bei der Klägerin erfüllt. Aufgrund dessen ist ihre Klage insoweit begründet, als die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf ermessensfehler-freie Neuverbescheidung hat. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes besteht vorliegend jedoch nicht. Damit ist das Verpflichtungsbegehren der Klägerin nur teilweise erfolgreich.
44
1. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.10.2018 - Au 5 K 17.32950). Eine entsprechende Gefahr kann sich auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung dort tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 - 1 C 1.02). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (OVG NW, B.v. 14.6.2005 - 11 A 4518/02.A). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Armenien) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
45
Gemessen an diesen Maßstäben ist im Fall der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) bei Zugrundelegung ihrer Erkrankungen und der Verhältnisse in ihrem Heimatland Armenien - unter Berücksichtigung der Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um Berg-Karabach und der Corona-Pandemie - vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückführung in das Heimatland auszugehen.
46
Die Klägerin, deren Schilderung ihrer medizinischen Leidensgeschichte bei Auswertung der vorliegenden vielfältigen ärztlichen Unterlagen im Gegensatz zu den ungereimten Behauptungen von ihr und ihrem Ehemann zu sonstigen Gefährdungen in Armenien glaubhaft ist und deren Gesundheitszustand auch weiterhin gemäß den vorgelegten aktuellen ärztlichen Attesten sowohl in physischer (in direkter Folge der bei ihr vorgenommenen Operationen) als auch v.a. in psychisch-somatischer Hinsicht massiv beeinträchtigt ist, ist zur Aufrechterhaltung des in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Gesundheitszustands auf eine regelmäßige Medikation mit mehreren Präparaten, die sich in ihrer Kombination in ihrem Fall mit den multiplen Verwachsungen im Bauchbereich bei Vorhandensein nur noch einer Niere als ausreichend wirksam und verträglich herauskristallisiert haben, angewiesen. Bei Unterbrechung oder Abbruch dieser Medikation ist bei der Klägerin neben Verstärkung der Schmerzen und der Verdauungs-/Verstopfungsbeschwerden nach den nachvollziehbaren fachärztlichen Attesten insbesondere mit einer Häufung der Anfälle mit Bewusstseinsverlust, die wiederum das Risiko in sich tragen, dabei zu ersticken oder sich beim Sturz (schwerer) zu verletzen, und mit einer Verschlechterung der depressiven Erkrankung hin zu schwerer depressiver Symptomatik und Suizidalität zu rechnen.
47
In Armenien würde die Klägerin nunmehr folgende wesentliche Verhältnisse antreffen:
48
Wie aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Berichten der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, eines WIKIPEDIA-Artikels über die Covid-19-Pandemie in Armenien und der Verlautbarung der WKO Österreich zu entnehmen ist, ist auch Armenien heftig von einer ersten Welle der COVID-19-Pandemie erfasst worden. Das bereits vorher finanziell unterversorgte Gesundheitssystem versagte, nur noch Infizierte mit erheblichen Symptomen konnten in die Krankenhäuser aufgenommen werden. Die Pandemie hatte außerdem auch massive Auswirkungen auf das dortige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und die Infrastruktur des schwachen Gesundheitssystems. Die Corona-Pandemie hat in Armenien zu Einkommenseinbußen, Entlassungen und Betriebsschließungen geführt. Nach der obligatorischen Schließung sahen sich Tausende von Menschen in Armenien, die entweder im Ausland - hauptsächlich in Russland - oder als Tagelöhner im Dienstleistungs- und Bausektor, arbeiten, ernsthaften finanziellen Einbußen ausgesetzt (Heinrich-Böll-Stiftung: „Das Coronavirus hat Armenien den Krieg erklärt“ vom 15.6.2020). Schon in Folge der ersten Infektionswelle war die Erkrankungsrate erheblich (z. B. am 7.7.2020: 17.064 Infizierte und 285 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 3 Millionen Menschen). Nach einer Abschwächung der Zahl der täglichen Neu-Infektionen über die Sommermonate ist es aber wieder zu einem starken Anstieg der Infektionszahlen gekommen. Am 6. November 2020 war nunmehr eine Zahl von 110.548 Fällen seit Beginn der Pandemie in Armenien erfasst, davon allein 28.727 erst in den letzten 14 Tagen vom 23. Oktober bis 5. November 2020; die Zahl der erfassten Todesfälle in Zusammenhang mit der Virusinfektion wird zu diesem Zeitpunkt schon mit 1.636 angegeben (Wikipedia-Statistik zu Corona-Fällen in Armenien, abgerufen 11.11.2020).
49
Zugleich ist nach den allgemeinkundigen Berichten in den Massenmedien die armenische Gesellschaft und Wirtschaft und insbesondere die öffentliche Infrastruktur Armeniens aktuell heftig von den Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach getroffen worden, die Armenien zu einer Mobilisierung seiner Bevölkerung und Ressourcen für die offen entflammten Kampfhandlungen in der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region gezwungen haben und die zuletzt einen für Armenien ungünstigen Verlauf genommen haben. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Kaukasus-Region war Ende September 2020 wieder voll entbrannt. Seit Beginn der Kämpfe wurden nach offiziellen Angaben beider Konfliktparteien mehr als 1.200 Menschen getötet. Tatsächlich dürfte allein die Zahl der Toten aber deutlich höher liegen, so hatte Russlands Präsident Putin schon von fast 5.000 Toten durch die Gefechte gesprochen. Nachdem sich Armenien und Aserbaidschan auch am 30. Oktober 2020 bei Gesprächen nicht auf eine Feuerpause einigen konnten, musste der armenische Regierungschef Paschinjan den russischen Präsidenten Putin offiziell um Hilfe im Konflikt bitten; Paschinjan habe Putin um den Beginn dringender Konsultation gebeten, es solle über Art und Umfang der Hilfe gesprochen werden, die die Russische Föderation Armenien zur Verfügung stellen kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten (vgl. dazu etwa faz.net „Armenien bittet Russland um Hilfe“ vom 31.10.2020). Am 9. November 2020 erklärte Paschinjan dann de facto die Kapitulation Armeniens, der Krieg sei zu Ende. Nach Einschätzung des Präsidenten von Berg-Karabach, Harutjunjan, waren die armenischen Streitkräfte nach 43 Tagen ununterbrochener Kämpfe nicht mehr in der Lage gewesen, Widerstand zu leisten. Der Status der Region Berg-Karabach ist dabei momentan noch nicht geklärt, eine Vertreibung der Armenier von dort noch nicht abgewendet, auch wenn russische Friedenssoldaten einen Korridor zu den Armeniern in Berg-Karabach und die Frontlinie sichern sollen. Bisher schon sind etwa 100.000 Menschen aus Berg-Karabach geflohen, sie fanden Unterkunft in Häusern der Regierung, in Hotels und privat bei Freunden und Verwandten. Dem relativ schnellen Handeln der Regierung und der enormen Solidarität unter den Armenien ist es zu verdanken, dass sich die sozialen Folgen derzeit noch in Grenzen halten. Die Leiterin des Frauenhilfszentrums in …, die als eine von vielen seit Wochen Hilfe für die Geflüchteten organisiert, und viele andere sorgen sich jedoch, dass die Versorgung der Flüchtlinge auf Dauer über ihre Kräfte gehen könnte, zumal die Corona-Pandemie fast ungehindert im Land wütet. Das Virus schwächt nicht nur die Soldaten in Berg-Karabach, es verbreitet sich unter den Flüchtlingen und bei den Beerdigungen für die gefallenen Soldaten und verstorbenen Zivilisten. Die Krankenhäuser können derzeit hunderte Schwerkranke nicht aufnehmen. Die Regierung appelliert mit Plakaten an die Bevölkerung, Masken zu tragen - sie will jedoch nicht die geschwächte Wirtschaft ein zweites Mal mit Einschränkungen drosseln. Die Friedensvereinbarung bringt Armenien auch nur an einer Front etwas Ruhe. Es bleiben enorme Herausforderungen, die das Land allein kaum stemmen kann (so gemäß tagesschau.de, 11.11.2020, „Armenien am Rande des Kollaps“).
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In Konsequenz dieser Entwicklungen muss für den Fall der Klägerin, die nicht zur armenischen Oberschicht gehört, durch ihre Erkrankungen schwer gehandicapt ist und auch glaubhaft nicht über ganz besondere einsetzbare finanzielle Ressourcen verfügt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass für sie gegenwärtig und in nächster Zukunft bei Rückführung nach Armenien als neu aus dem Ausland zurückkehrende Person in den Turbulenzen, in die das ohnehin unterentwickelte armenische Gesundheitssystem durch die Pandemie und durch die Versorgung der Opfer des Berg-Karabach-Konflikts geraten ist, die kontinuierliche Versorgung mit der für sie notwendigen Mehrfach-Medikation nicht erfolgt. Schon zu „normalen“ Zeiten hätten die Klägerin und ihre Familie nach der Auskunftslage bei der Sicherstellung ihrer Behandlung damit, dass im armenischen staatlichen Gesundheitssystem nicht alle zugelassenen Präparate immer vorhanden sind, und mit der Erforderlichkeit „inoffizieller“ Zuzahlungen im öffentlichen Gesundheitssektor oder von Zahlungen bei Ersatzbeschaffungen im privaten Sektor zur Erlangung adäquater Behandlung für sie zu kämpfen gehabt. Diese Situation hat sich nunmehr gravierend verschlechtert. Noch abgesehen davon, dass offenbar von vorneherein nicht alle der von der Klägerin in Deutschland eingenommenen Medikamente in Armenien verfügbar sind und es zweifelhaft ist, ob speziell bei ihr mit ihren besonderen körperlichen Einschränkungen wirkungsgleiche Präparate eingesetzt werden können und zu vergleichbaren Behandlungserfolgen führen, ist angesichts der zuletzt eingetretenen krisenhaften Entwicklung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Klägerin die kontinuierliche Versorgung mit einer ihr adäquaten Medikation in Armenien verliert und damit zumindest den ärztlicherseits beschriebenen Folgen und Risiken ausgesetzt wird, die wiederum das Erfordernis einer wesentlichen Verschlechterung einer schweren Erkrankung i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllen. Ob die Klägerin mit ihren körperlichen Vorerkrankungen und ihrer Behandlungsnotwendigkeit zudem einer gesteigerten direkten Gefährdung im Rahmen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt wäre, kann dabei noch dahinstehen.
51
2. Allerdings bedeuten die beschriebenen Gefahren, nachdem kein umfassender Zusammenbruch der öffentlichen und privaten Versorgungsinfrastruktur in Armenien - auch nicht in medizinischer Hinsicht - zu konstatieren ist, angesichts der vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten aus ihrer (Groß-)Familie mit Sicherheit zugleich keine unmittelbar lebensbedrohliche oder sonst schwerst beeinträchtigende Situation für die erkrankte Klägerin oder ihr bloßes „Dahinvegetieren“ nach einer Abschiebung oder den Eintritt humanitärer Ausnahmegründe, die zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprächen, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass auch die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
52
Abschiebeschutz nach dieser Vorschrift hat das Bundesamt daher rechtsfehlerfrei verneint.
53
3. Damit sind zwar - wie dargelegt - (allein) die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Annahme der Beklagten hier gegeben. Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich jedoch gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte Ermessen ist bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Jahr 2007 auch nicht mehr der Ausländerbehörde, sondern dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugewiesen (vgl. etwa Bodenbender in GK-AsylG § 24 Rn. 12 f., m.w.N.). Das Bundesamt darf bei seiner Entscheidung zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Regel dementsprechend in solchen Fällen abweichen, in denen die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht mehr gefordert wird (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, 18. Auflage 2017, § 40 Rn. 64 m.w.N.).
54
Von einer solchen Fallgestaltung ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach der Auffassung des Gerichts (anders: BayVGH vom 18.5.2020 - 2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) aber nunmehr jedenfalls grundsätzlich dann auszugehen, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind. Der Gesetzgeber hat die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern unter Berücksichtigung des jeweiligen Aufenthaltszwecks einer differenzierten gesetzlichen Regelung unterzogen, wobei insbesondere auf den Schutz der Sozial- und Gesundheitssysteme vor etwaigen Belastungen ein besonderes Augenmerk gelegt wird (vgl. etwa § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009). Vor diesem Hintergrund ist gerade nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für solche Konstellationen einen Abschiebeschutz als gesetzlichen Regelfall vorsehen wollte, in denen Ausländer (rechtsmissbräuchlich) über das Asylverfahren eigentlich eine Krankenbehandlung im Bundesgebiet - unter Umgehung des insofern vorgesehenen aufenthaltsrechtlichen Verfahrens - erstreben.
55
Für die Eröffnung des Verwaltungsermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei derartigen Fällen spricht im Übrigen zugleich die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Sie fallen demnach grundsätzlich nicht unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe im Zielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a AufenthG befunden wird (BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - Rn. 13 m.w.N.).
56
Zwar sind die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen hier nicht erfüllt, die Regelung bestätigt jedoch die Annahme einer Aktivierung des Rest-Ermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der oben dargestellten Missbrauchskonstellation, denn der in Satz 6 als Ausnahme von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausformulierte Tatbestand ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass wegen der nicht durch den individuellen Einzelfall geprägten Umstände, wegen der erheblichen Zahl der in gleicher Weise „Betroffenen“ und wegen der daraus folgenden Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat gerade keine gebundenen Einzelfallentscheidungen erfolgen sollen. Eine vergleichbare Situation, die der Gesetzgeber so nicht bei der erstmaligen Einführung dieser Regelung in das Ausländerrecht und auch nicht bei deren Übernahme in das AufenthG im Jahr 2004 im Blick hatte, sondern sich vielmehr erst danach entwickelt hat, ergibt sich aus dem gehäuften, zielgerichteten, erfolgreichen Missbrauch des Asylverfahrens, allein um sich so wegen des (schwer) defizitären Sozial- und Gesundheitssystems im Herkunftsland Zugang zu den Gesundheits-/Sozialsystemen der Bundesrepublik Deutschland für eine aufwändige Betreuung und Behandlung bei Erkrankungen zu verschaffen. Dieses Phänomen, das bezogen auf das Herkunftsland Armenien nach den Erfahrungen der Kammer schon systematische Züge angenommen hat, ist auch keineswegs auf dieses Herkunftsland beschränkt, sondern hat gerade in den letzten Jahren - mit einem Schwerpunkt bei den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aber beileibe nicht nur dort - immer weiter um sich gegriffen, so dass sich die Vergleichbarkeit mit einer Bevölkerungsgruppe in diesem Sinn aufdrängt (vgl. zu einer direkten Anwendung des damaligen § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG wegen der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in einem Herkunftsland BayVGH, B.v. 21.9.2016 - 10 C 16.1164 - juris). Mithin führen diese Überlegungen ebenso dazu, dass es bei Tatbestandserfüllung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in derartigen (Rechtsmissbrauchs-)Fällen vor der Feststellung eines Abschiebehindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des dort in atypischen Fällen eröffneten Ermessens - ggf. aufgrund ermessenslenkender Vorga ben - von Seiten der Exekutive bedarf, die das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. § 114 VwGO).
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An dieser Rechtsauffassung hält die Kammer auch in Ansehung der Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichthofs vom 18. Mai 2020 (2 B 19.34078 und 2 B 19.34090) fest. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG enthält ausdrücklich eine bloße Soll-Regelung, d.h. wenn die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind, tritt nur im Regelfall die dort genannte Rechtsfolge ein. Dementsprechend ist unter Heranziehung der Gesetzessystematik und des Gesetzeszwecks zu bestimmen, wann bzw. ob konkret für den zu entscheidenden Fall ein vom Regelfall abweichender atypischer Fall besteht, der die im Gesetz vorgegebene Rechtsfolge ausnahmsweise in das Ermessen der entscheidenden Behörde stellt. In diesem Rahmen ist zur Überzeugung der Kammer entgegen der in den oben genannten Beschlüssen des 2. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vertretenen Auffassung darauf abzustellen, ob der/die betreffende Ausländer/in - wie hier die Klägerin - sich den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland lediglich mittels eines rechtsmissbräuchlichen Asylantrags verschafft hat. Denn die Rechtsstellung, die die Klägerin hier geltend macht - ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und damit die weitere Aufenthaltnahme in der Bundesrepublik Deutschland - kann nur dann erlangt werden, wenn sich der/die Betreffende in der Bundesrepublik Deutschland aufhält; denn das Vorliegen oder Geltendmachen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verleiht - anders als bei den asylrechtlichen Tatbeständen - gerade kein direktes Recht auf Einreise und Aufenthaltnahme in der Bundesrepublik Deutschland. Diese behält sich außerhalb des Asylrechts ausländerrechtlich grundsätzlich vor, in einem gesonderten (Visum-)-Verfahren über die Berechtigung zur Aufenthaltnahme anhand des tatsächlichen Aufenthaltszweckes zu entscheiden, bevor der/die Ausländer/in überhaupt in die Bundesrepublik Deutschland einreist. Mithin darf jedenfalls dann, wenn - wie hier - mit diesem Aufenthalt ganz erhebliche Belastungen der Allgemeinheit einhergehen, bei der Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht außer Acht bleiben, auf welche Weise der/die Ausländer/in den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erlangt hat. Wenn dies - wie hier - mittels eines rechtsmissbräuchlich gestellten Asylantrages erfolgt ist, also eines Asylantrages, bei dem offensichtlich der Zweck der asylrechtlichen Schutzgewährung verfehlt wird, sei es durch eine völlig fehlende Berufung auf potentielle derartige Gründe, sei es durch eindeutig nur vorgeschobene Asylantragsgründe, die den wahren Einreisegrund (Krankheitsbehandlung) verschleiern sollen, verlangen Gesetzeszweck und Gesetzessystematik sowie der Gedanke der Gleichbehandlung mit denen, die bei Erkrankungen nicht den Weg der rechtsmissbräuchlichen Asylantragstellung einschlagen, die Berücksichtigung dessen bei der Entscheidung nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Es liegt so ein atypischer Fall vor, das Rest-Ermessen der Soll-Bestimmung ist eröffnet. Die Exekutive hat dann in Ausübung dieses Ermessens zu prüfen und zu entscheiden, ob die grundsätzlich vorgesehene Rechtsfolge der Bestimmung auch in diesem atypischen Fall eintreten soll. Es ist nicht Sache der Rechtsprechung vorzugeben, wie bei derartigen Konstellationen das Ermessen - sinnvollerweise mittels allgemeiner ermessenslenkender Vorgaben der ministeriellen Ebene - auszuüben wäre; die Ausübung anhand des Gesetzeszweckes und der Gesetzessystematik wird sich jedenfalls wohl grundsätzlich an der Schwere der Folgen der Rückführung für den/die Betroffene/n, die sonstigen Gegebenheiten der Person und deren Verhalten und an den mit der Fortdauer des Aufenthalts des/der Betreffenden verknüpften Folgen für die Belange der Bundesrepublik Deutschland zu orientieren haben. Dies erhellt sich insbesondere auch daraus, worauf die Kammer ebenfalls bei ihrer Rechtsprechung zur Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG unterstützend abstellt (vgl. oben), dass Verhältnisse eingetreten sind, die bei dieser Konstellation der Aufenthaltnahme mittels rechtsmissbräuchlich gestellten Asylantrages die Heranziehung des hinter § 60 Abs. 7 Satz 6 i.V.m. § 60a Abs. 1 AufenthG stehenden Rechtsgedankens im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nahelegen.
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Die Klägerin ist hier mit ihrer Familie zur Überzeugung der Kammer nur aus medizinischen Gründen wegen der als unzulänglich erlebten Versorgungssituation im Heimatland in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat gerade deshalb die Aufenthaltnahme bezweckt und dafür das Mittel des Asylantrages - rechtsmissbräuchlich - eingesetzt. Bei den ungereimt und unsubstantiert angedeuteten Umständen einer sonstigen Gefährdung handelt es sich hier nur um ersichtliche Schutzbehauptungen, um die alleinigen Absichten zu bemänteln. Diese Aufenthaltnahme wäre so bei Einhaltung der Vorgaben des ausländerrechtlichen Visum-Verfahrens nicht möglich gewesen. Die Kammer ist davon überzeugt, dass es sich hierbei um einen atypischen Fall der Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt und es daher grundsätzlich der Ausübung des in diesen Fällen eingeräumten Ermessens durch die Exekutive bedarf.
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4. Ausnahmsweise ist allerdings - wie auch zu § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG - das Ermessen des Bundesamtes in der skizzierten Missbrauchskonstellation dann zu Gunsten des Asylbewerbers auf Null reduziert, wenn seine Gefährdung nach Abschiebung im Zielstaat das Ausmaß der sogenannten extremen Gefahr (die seit der grundlegenden Entscheidung des BVerwG v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - juris mit der Formel „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ umschrieben wird) erreicht. Denn dann ist von Verfassung wegen (Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten. Vorstellbar ist andererseits außerdem, dass im Einzelfall das Ermessen auf Null in Richtung auf die Versagung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reduziert ist.
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Im Fall der Klägerin liegen hier aber die oben genannten Voraussetzungen für die Eröffnung des Ermessens auf Rechtsfolgenseite vor, ohne dass dieses in der einen oder anderen Richtung auf Null reduziert wäre. Denn zum einen sind hier keine zwingend für die Versagung des Abschiebungsschutzes sprechenden Gründe ersichtlich. Zum anderen erreicht der Gesundheitszustand der Klägerin insbesondere nicht das Stadium der gerade benannten extremen Gefahr (siehe dazu bereits die Ausführungen oben zu § 60 Abs. 5 AufenthG, der sogar nur eine im Vergleich dazu noch etwas geminderte Gefahrenprognose voraussetzt).
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5. Mithin ist hier zwar die Verneinung eines Abschiebehindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017 bezüglich der Klägerin aufzuheben. Ihr Verpflichtungsbegehren führt jedoch nur zusätzlich dazu, das Bundesamt dazu zu verpflichten, bei ihr über das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (nämlich dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Auffassung des Bundesamtes erfüllt sind) erneut zu entscheiden. Mangels Erfolgs des weitergehenden Verpflichtungsbegehrens auf Feststellung eines Abschiebeverbots ist dabei insoweit aber die Klage im Übrigen abzuweisen.
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6. Von Rechts wegen allerdings nicht bestehen bleiben können gegenüber der Klägerin außerdem noch die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 25. Januar 2017. Diese sind für ihre Person mit aufzuheben, weil - bezüglich Nr. 5 - der Klägerin damit bereits die Abschiebung angedroht ist, obwohl die gemäß § 31 Abs. 5, § 34 Abs. 1 AsylG zwingend vorrangige Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst noch zu treffen ist, und weil - bezüglich Nr. 6 - darin trotz des vordergründigen gesetzlichen Wortlauts in § 11 AufenthG a.F. überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 - juris, LS 1, Rn. 70 ff), die wiederum maßgeblich vom Bestehen einer Abschiebungsandrohung abhängt.
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Da somit der hier zur Entscheidung stehenden Klage teilweise stattgegeben wird, erfolgt die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 1, § 155 Abs. 1 VwGO unter Berücksichtigung des Umfangs des Obsiegens hälftig zu Lasten der Beteiligten.
64
Gerichtskosten fallen nicht an, da das Verfahren gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei ist.
65
Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.