Titel:
Abschiebungsverbot wegen Niereninsuffizienz - Armenien
Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Einzelfall (Armenien, Auswirkungen der Kämpfe um Berg-Karabach und der Corona-Pandemie; Hämodialyse bei terminaler Niereninsuffizienz u. Bluthochdruckmedikation);, zwar Ermessenseröffnung wegen zielgerichteten Missbrauchs des Asylverfahrens zur Erlangung eines Aufenthalts zu aufwändiger Krankheitsbehandlung in den hiesigen Gesundheits-/Sozialsystemen;, jedoch im Einzelfall Ermessensreduzierung auf Null zugunsten des Asylbewerbers;, Aufhebung der Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung und der Entscheidung zu § 11 Abs. 1 AufenthG, Armenien, Dialyse, Niereninsuffizienz, medizinische Behandlung, Corona-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2020, 41166
Tenor
1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26. Juli 2017 verpflichtet, bei dem Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Armeniens festzustellen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Bei dem Kläger handelt es sich nach dessen Angaben um einen 1986 geborenen armenischen Staatsangehörigen armenischer Volkszugehörigkeit und armenisch-orthodoxer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach seinen Angaben Ende Juli 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 2. November 2015 niederschriftlich bei der Außenstelle Zirndorf des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylantrag.
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Bei seiner Anhörung am 5. Juli 2016 machte der Kläger laut Niederschrift im Wesentlichen folgende Angaben:
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Er habe bis zu seiner Ausreise in … gewohnt; die Wohnung habe seiner Mutter gehört. Er sei im Juli 2015 mit dem Auto nach Georgien gefahren und von dort nach … geflogen. Er sei eigentlich mit einem Pass nach Deutschland gekommen. Ihm sei gesagt worden, dass es nicht gut sei, mit einem Pass nach Deutschland zu kommen. Er habe diesen nach Armenien zurückgeschickt. Gesagt hätten ihm dies Leute, die ebenfalls Asylsuchende gewesen seien. Er sei alleine gereist. Die Reise habe insgesamt ca. 3.800,00 EUR gekostet. Er habe das Geld von seiner Mutter und von seinen Bekannten geliehen. Außerdem habe er einen Kredit bei der Bank aufgenommen. Er sei längere Zeit, von 2008 bis 2014, in … gewesen, weil er dort im Baugewerbe habe arbeiten wollen. Er habe … wegen seiner gesundheitlichen Probleme verlassen, er habe bereits ab 2006 Probleme gehabt und es sei immer schlechter geworden. Sein Vater sei bereits verstorben, seine Mutter wohne in …, er habe regelmäßigen Kontakt zu ihr. Außerdem lebe im Heimatland noch seine Schwester. Schulisch sei er bis zur 10. Klasse in der Mittelschule gewesen; einen Beruf habe er nicht erlernt. (Auf Frage, wie er seinen Lebensunterhalt in Armenien finanziert habe:) Er habe gearbeitet und seine Mutter habe in einem Krankenhaus gearbeitet. Er habe ca. 60.000 Dram pro Monat verdient und seine Mutter ca. 70.000 Dram.
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Er sei nach Deutschland in erster Linie wegen seiner gesundheitlichen Lage gekommen; er möchte sich medizinisch behandeln lassen und sich in Deutschland niederlassen, hier habe man bessere Möglichkeiten, sich medizinisch versorgen zu lassen. Bei der Musterung zum Militärdienst sei festgestellt worden, dass er Probleme mit der Niere habe. Er sei zweimal im Krankenhaus gewesen, 2003 und 2004, dann noch einmal 2005. Die Krankenhausbesuche hätten keine positiven Auswirkungen gehabt, die Krankenhäuser hätten ihm Medikamente verschrieben, aber es habe nicht geholfen. Er sei in Armenien schon bei der Dialyse gewesen. In Armenien sei es ihm durch die Behandlung nur kurzzeitig besser gegangen, dann wieder schlechter. Seine Blutwerte seien schlecht geblieben, die Medikamente in Deutschland hülfen ihm besser als in Armenien. (Auf Frage, ob er sich die medizinische Behandlung damals in Armenien habe leisten können:) Er habe seine Behandlung mit Schulden finanziert. Er befürchte bei Rückkehr die Perspektivlosigkeit in Armenien. 1. gebe es nicht die entsprechenden Dialysetaschen in Armenien, 2. gebe es nicht diese Vielzahl an effizienten Medikamenten und 3. werde er Hepatitis C bekommen. Er sei in einem Dialysezentrum in … gewesen und der Chefarzt habe gemeint, dass, wenn er seine Leberbeschwerden nicht behandeln lasse, er zudem Hepatitis C bekomme; andere Patienten hätten diese Aussage bestätigt. Hier in Deutschland fühle er sich wohl, er lebe gut. Als er in Armenien gewesen sei, habe er nicht schlafen können. Während der Dialysebehandlung habe er sich nicht wohl gefühlt, in Deutschland werde er gut medizinisch behandelt.
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Vorgelegt wurden vom Antragsteller dazu unter anderem:
- Arztbrief des Evangelischen Krankenhauses … vom 29. Juli 2015, worin es unter anderem heißt: Die stationäre Aufnahme sei aufgrund eines akut-auf-chronischen Nierenversagens bei bekannter chronischer Niereninsuffizienz erfolgt. Der Patient sei seit drei Monaten dialysepflichtig. Am Aufnahmetag habe er über Kopfschmerzen, Schwächegefühl sowie Schmerzen in beiden Nierenbecken geklagt. Sie hätten die Dialyse über den Shaldonkatheter, den er seit drei Monaten gehabt habe, durchgeführt. Bei der Indikation einer Dauerdialyse und nach Rücksprache mit dem Gefäßchirurgen sei bei dem Patienten eine AV-Fistel am linken Arm angelegt worden, die sie bereits mit einer Nadel punktiert hätten. Während des stationären Aufenthaltes seien bei dem Patienten hypertensive Werte gemessen worden, sie hätten die antihypertensive Therapie mit Ramipril und Amlodiplin durchgeführt, darunter seien die Blutdruckwerte gut eingestellt gewesen. Am 1. August 2015 habe der Antragsteller in gutem AZ entlassen werden können.
- Befundbericht des Klinikums … vom 1. März 2016 mit den Diagnosen terminale Niereninsuffizienz (Hämodialyse Montag, Mittwoch, Freitag; liegender Cimonoshunt linker Unterarm; normochrom-normozytäre Anämie, a.e. renaler Genese; Schrumpfnieren beidseits) und Skabies. Die stationäre Einweisung sei aufgrund von Bauchkrämpfen nach Nahrungsaufnahme sowie einem einmaligen galligen Erbrechen erfolgt. Diesbezüglich habe sich der Kläger im weiteren Verlauf beschwerdefrei gezeigt. Aufgrund der bekannten terminalen chronischen Niereninsuffizienz sei die Hämodialyse auf fünfmal wöchentlich intensiviert worden. Das Fortführen der Hämodialyse sei nach Rücksprache mit dem Dialysezentrum … derzeit dreimal wöchentlich sinnvoll; eine Intensivierung sei bei Verschlechterung der Nierenretentionsparameter jederzeit möglich. Die normochrom-normozytäre Anämie werde am ehesten im Rahmen der Niereninsuffizienz gesehen. Weiterhin berichte der Kläger über einen generalisierten Pruritus. Nach ambulanter dermatologischer Sichtung habe der Verdacht auf eine Skabies-Infektion geäußert werden können. Der Patient habe bereits im Vorfeld eine Permethrincreme erhalten. Stationär habe eine tägliche effiziente Therapie durch Permethrin durchgeführt werden können. Bei ausbleibender Besserung sei eine erneute dermatologische Sichtung sinnvoll.
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Als letzte Medikation/ Therapieempfehlung war dort genannt: Pantoprazol 1-0-0-0 vorübergehend; Ramipril 1-0-0-1; Metoprololsuccinat 1-0-0-1; Amlodipin 5 mg derzeit pausiert; Calciumsubstitution 950 mg 2-2-2; Vitaminsubstitution; Lactulose 1 MB, vorübergehend; lokale Anwendung durch Natrium-Bicarbonat, Erythropoetin-Substitution, Vitamin D, Eisensubstitution, Permethrin.
- Ärztliche Bescheinigung des Dialysezentrums … vom 7. März 2016: Der Kläger leide an einer terminalen Niereninsuffizienz und werde als lebenserhaltende Maßnahme dreimal pro Woche mit der künstlichen Niere behandelt. Eine Unterbrechung dieser Behandlung für nur wenige Tage werde unweigerlich zur Kumulation der harnpflichtigen Substanzen im Blut führen (Urämie/ Harnvergiftung) und eine lebensbedrohliche Situation heraufbeschwören. Die dialysepflichtigen Patienten seien in ihrem täglichen Leben mit massiven Einschränkungen und Problemen konfrontiert, die sich aus der Erkrankung selbst und ihrer Behandlung sowie aus den häufigen Begleitkrankheiten (u. a. arterielle Hypertonie, Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose sowie Immunschwäche) ergäben.
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Mit Bescheid vom 26. Juli 2017 lehnte das BAMF die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab, versagte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG und forderte den Antragsteller unter Wochenfristsetzung und Androhung der Abschiebung - zuvorderst nach Armenien - zur Ausreise auf; außerdem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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In der Begründung war zum Vorbringen des Antragstellers hinsichtlich des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG ausgeführt:
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Die medizinische Grundversorgung sei in Armenien flächendeckend gewährleistet. Grundsätzlich seien alle Krankheiten behandelbar, es könne jedoch zu Versorgungsengpässen bei bestimmten Medikamenten kommen. Nicht immer seien alle Präparate vorhanden, obwohl viele Medikamente in Armenien in guter Qualität hergestellt und zu einem Bruchteil der in Deutschland üblichen Preise verkauft würden. Importierte Medikamente seien überall erhältlich und ebenfalls erheblich billiger als in Deutschland; für die Einfuhr sei eine Genehmigung durch das Gesundheitsministerium erforderlich. Phasenweise sei auch ein Anstieg der Medikamentenpreise in Armenien zu verzeichnen gewesen. Das Gesetz über die kostenlose medizinische Behandlung regele den Umfang der kostenlosen ambulanten oder stationären Behandlung bei bestimmten Krankheiten und Medikamenten sowie zusätzlich für bestimmte sozialbedürftige Gruppen (z. B. Kinder, Flüchtlinge, Behinderte, Kriegsversehrte). Dennoch sei die Qualität der medizinischen Dienstleistung weiterhin häufig von „freiwilligen Zuzahlungen“ bzw. „Zuwendungen“ an den behandelnden Arzt abhängig, auch bei Abschluss einer privaten Krankenversicherung. Die Behandlung in der Poliklinik des Wohnbezirkes sei grundsätzlich kostenlos. Untersuchungen, die über die medizinische Grundversorgung hinausgehen, seien zum Teil nur in Privatkliniken möglich. Das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung erschwere den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung sehr schwierig geworden sei. Die staatlichen Kliniken seien oftmals finanziell unzureichend ausgestattet, um ihren Betrieb und die Ausgabe von Medikamenten sicherzustellen. Daher seien die Kliniken auch in Fällen, in denen sie eigentlich zu kostenloser Behandlung verpflichtet seien, gezwungen, von den Patienten Geld zu nehmen. Dies könne dazu führen, dass persönliche Kontakte und genügend finanzielle Mittel erforderlich seien, um schnell und ausreichend medizinische Leistungen zu erhalten. Insbesondere für Geringverdiener sei der Zugang zum modernen Gesundheitswesen in Armenien schwierig geworden. Die Behandlung von Krankheiten in Armenien sei daher mit Blick auf die für die vorgetragene Krankheit erforderlichen Therapiemaßnahmen und die Möglichkeiten des Antragstellers, Zugang zu diesen zu erhalten, individuell zu prüfen. Ein Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge sei die verbreitete Korruption und die schlechte Bezahlung des medizinischen Personals. Dies führe dazu, dass die Qualität der medizinischen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens in vielen Bereichen unzureichend sei. Der Ausbildungsstand des medizinischen Personals sei zufriedenstellend. Die Ausstattung der staatlichen Krankenhäuser und das technische Gerät seien teilweise mangelhaft. In einzelnen klinischen Einrichtungen - meist Privatkliniken - stünden auch moderne Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, Mammographie sowie Computer- und Kernspintomographie zur Verfügung. Die größeren Krankenhäuser sowie einige Krankenhäuser in den Regionen verfügten über psychiatrische Abteilungen und Fachpersonal. Die technischen Untersuchungsmöglichkeiten hätten sich durch neue Geräte verbessert. Die Behandlung des posttraumatischen Belastungssyndroms und von Depressionen sei auf gutem Standard gewährleistet und erfolge kostenlos.
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Insulinabgabe und Dialysebehandlung erfolgten im Prinzip kostenlos: Die Anzahl der kostenlosen Behandlungsplätze sei zwar beschränkt, aber gegen Zahlung sei eine Behandlung jederzeit möglich. Die Dialysebehandlung koste ca. 35 US-Dollar pro Sitzung. Selbst Inhaber kostenloser Behandlungsplätze müssten aber noch in geringem Umfang zuzahlen. Derzeit sei die Dialysebehandlung in fünf Krankenhäusern in der Hauptstadt Eriwan möglich, auch in den Städten Vanadzor und Gyumari seien die Krankenhäuser entsprechend ausgestattet (Lagebericht Armenien des Auswärtigen Amtes vom 21.6.2017). Die medizinischen Zentren in Eriwan, in denen Hämodialyse nach Informationen des Bundesamtes verfügbar sei, seien die medizinischen Zentren „Surb Grogor Lusavorich“, „Erebuni“, „Arabkir“, „Armenia“ und „Astghik“ (vgl. Anfragenbeantwortung der Deutschen Botschaft vom 10.3.2017). Nach aktuellen Informationen gebe es in Eriwan seit 2014 zusätzlich das „Republican Medical Center“, das gut ausgestattet sei und in dem auch Hämodialyse durchgeführt werde (MedCOI - Information vom 23.1.2017).
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Insbesondere sei den am 10. März 2017 zugegangenen Informationen von der Deutschen Botschaft in Eriwan Folgendes zu entnehmen: Jeder Patient, der Dialyse benötigt, sei berechtigt, diese auf privater Basis, sobald sie erforderlich ist, zu erhalten, wenn er sich direkt an die Krankenhausverwaltung wende. Im Bedarfsfall könne also jeder zumindest über die (vorübergehende) Zahlung von Eigenleistungen sofort versorgt werden. Armenische Staatsangehörige könnten auch bei einer Rückkehr nach Armenien einen kostenfreien Dialyseplatz erhalten. Jedes Krankenhaus, das Hämodialyse durchführe, habe eine Quote für eine Patientenzahl, die eine kostenlose Behandlung erhalten könne. Diese Quote werde vom Gesundheitsministerium genehmigt, das das Krankenhaus nur für diese festgelegte Anzahl an Patienten finanziere. Die Kosten dafür seien also im jährlichen Budget des Krankenhauses enthalten. Das bedeute, dass das Krankenhaus ausreichend Geld zur Verfügung habe, um die Leistungen für den neuen Patienten abzudecken. Zum Beispiel liege die Quote des medizinischen Zentrums „Surb Grogor Lusavorich“ bei 130 Patienten. Ein Patient müsste sich in einem wohnortnahen Krankenhaus mit einer funktionierenden Hämodialyseabteilung vorstellen und medizinische Dokumente über seine Nierenprobleme sowie frühere Dialysen einem Facharzt der Hämodialyseabteilung vorlegen. Wenn in der Hämodialyseabteilung, in der der Patient vorstellig wird, ein Quotenplatz frei sei, werde ein Patient automatisch nach der Anweisung des Krankenhausdirektors auf der Grundlage der Einschätzung des Facharztes in die programmierte, also kostenfreie, Hämodialyse des Krankenhauses aufgenommen. Wenn eine bestimmte Hämodialyseabteilung ihre eigenen Quoten erfüllt habe, könne die Krankenhausverwaltung aufgrund der Einschätzung des Facharztes ihrer Abteilung ein Genehmigungsersuchen an das Gesundheitsministerium stellen zur Aufnahme eines neuen Patienten. Eine Anweisung des Gesundheitsministeriums stelle eine rechtliche Grundlage dar, die die „programmierte“ Hämodialyse im Rahmen des Basisleistungspaketes, das eine kostenfreie und regelmäßige Behandlung sichere und für das Krankenhaus eine Kostendeckung der Ausgaben für den neuen Patienten sichere. Stünden keine freien Plätze zur Verfügung, die Quote sei also zu 100% erfüllt, müsse sich der Patient an eine andere Einrichtung wenden und dort versuchen, für das kostenfreie Hämodialyseprojekt aufgenommen zu werden. Die Wartezeit für einen kostenfreien Dialyseplatz sei unterschiedlich. Wenn eine Hämodialyseabteilung einen freien Quotenplatz habe, müsse der Patient nicht warten, weil dem Krankenhaus die Gelder für alle Fälle und Plätze innerhalb der vorhandenen Quote garantiert würden. Die Dialyse sei damit sofort innerhalb von ein bis zwei Tagen möglich. Müsse die Abteilung erst noch die Genehmigung für einen neuen Quotenplatz beim Gesundheitsministerium einholen, seien für das Verfahren zur Erlangung einer Anweisung/ Genehmigung vom Gesundheitsministerium mehrere Tage erforderlich.
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Der Kläger habe auch einen Anspruch auf eine kostenlose Behandlung. Nach einem dem Bundesamt vorgelegten Gutachten vom 12. Mai 2016 seien nach einem Regierungserlass vom 23. November 2006 berechtigt zur vollständigen oder teilweisen staatlichen Kostenübernahme u. a. Behinderte 1., 2. und 3. Grades. Bei einer Behinderung 1. und 2. Grades würden die Kosten für die Behandlung und erforderlichen Medikamente voll, bei einer Behinderung 3. Grades würden die Kosten zu 50% vom armenischen Staat übernommen. Der Kläger sei nach seinem Vortrag wegen seiner Erkrankung zumindest vom Militärdienst freigestellt worden. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger - wenn er es nicht bereits sei - aufgrund seiner schweren Erkrankung als Schwerbehinderter anerkannt werde. Zudem sei der Fall der kostenfreien Behandlung bei chronischem Nierenversagen separat aufgeführt (vgl. MedCOI, Country fact sheet access to healthcare - Armenia, 24.12.2013), so dass der Kläger auf jeden Fall Anspruch auf einen kostenfreien Platz in Armenien habe. Dem Kläger könne zugemutet werden, sich die Leistung aus diesem Anspruch einzufordern. Der Erhalt von Dialyse über eine private Finanzierung sei jederzeit möglich. Eine Dialysesitzung koste derzeit 18.100 AMD (= ca. 35,00 EUR). Da der Kläger zumindest Familie in Armenien habe und sich für seine Ausreise Geld von Bekannten habe leihen können, sei davon auszugehen, dass der Kläger im Notfall die Zahlung seiner Dialysebehandlung bis zur Aufnahme in das kostenlose Programm werde überbrücken können. Der Kläger stamme aus …, das etwa 20 km vom Stadtzentrum … entfernt liege; die Fahrtzeit betrage eine halbe Stunde. In … gebe es - wie schon aufgeführt - mindestens fünf medizinische Abteilungen, in denen eine Dialysebehandlung möglich sei. Zudem habe der Kläger vorgetragen, dass er bereits im Dialysezentrum in … in Behandlung gewesen sei. Vor diesem Hintergrund sei nicht erkennbar, dass für die vorgetragene Krankheit in Armenien eine erforderliche medizinische Behandlung nicht gewährleistet sei oder aus finanziellen Gründen scheitern könnte. Da die Behandlung im Bedarfsfall gegen Zahlung von ca. 35,00 EUR in … in fünf Krankenhäusern jederzeit verfügbar sei, sei eine Sofortbehandlung des Klägers gewährleistet und die Gefahr einer gesundheitlichen Schädigung nicht gegeben. Die empfohlenen Medikamente seien in Armenien zumindest ihren Wirkstoffen nach erhältlich. Blutdruckregulierende Mittel seien auf dem Markt, vgl. Country fact sheet access to healthcare - Armenia, MedCOI II., Stand 24.12.2013).
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Soweit der Kläger vorgetragen habe, in Armenien Hepatitis C zu bekommen, begründe dies ebenfalls kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Nach einer Studie von 2016 hätten 29,4% der Dialysepatienten in Armenien Hepatitis C und 3,6% der eigentlich gesunden Bevölkerung, also Nicht-Dialysepatienten. Dies lasse darauf schließen, dass eine Ansteckungsgefahr bei der Dialysebehandlung gegeben sei, diese sei jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich. Die Gefahr gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG müsse dem Einzelnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, wobei im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der „konkreten“ Gefahr für „diesen“ Ausländer als zusätzliches Erfordernis eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefahrensituation hinzutreten müsse, die überdies landesweit drohe. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG könne sich im Einzelfall zwar auch daraus ergeben, dass die Gefahr der Verschlimmerung einer Krankheit, unter welcher der Ausländer bereits in Deutschland leide, im Heimatstaat bestehe, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend seien. Für die Bestimmung der Gefahr gelte der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung dürfe nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern müsse mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten seien. Sollten tatsächlich etwa 30% aller Dialysepatienten mit Hepatitis C infiziert sein, dann bestehe rein rechnerisch mindestens zu 70% die Wahrscheinlichkeit, sich nicht zu infizieren. So sei nicht erkennbar, dass sich der Kläger bei einer Dialysebehandlung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit Hepatitis C infizieren werde. Der Eintritt dieser Befürchtung sei ein ungewisses, in der Zukunft liegendes Ereignis, dem noch dazu vorgebeugt werden könne. Eine Ansteckung sei grundsätzlich ausgeschlossen, wenn mit sterilen Geräten gearbeitet werde und die Filter bei jeder neuen Dialysebehandlung ausgetauscht würden. Der Kläger werde in Zukunft mit darauf zu achten haben. Da zumindest die Dialysezentren in … mit den neuesten Dialysegeräten von Fresenius und B. Braun ausgestattet seien (MedCOI - Information vom 23.1.2017), sei von einer sterilen Versorgung des Klägers auszugehen.
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Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 1. August 2017 erhob der Kläger bei Gericht Klage mit dem Antrag,
den Bescheid des BAMF vom 26. Juli 2017 in Ziffer 4 - soweit dort die Gewährung von humanitärem Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt worden ist - und in Ziffern 5 und 6 aufzuheben sowie das BAMF zu verpflichten, festzustellen, dass der Kläger humanitären Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG genießt.
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Darüber hinaus ließ der Kläger beantragen, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den angefochtenen Bescheid des BAMF gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen (AN 6 S 17.34984).
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Der Kläger habe sein Heimatland wegen seiner lebensbedrohlichen Erkrankung (dialysepflichtige Niereninsuffizienz) verlassen, wozu zunächst auf die Angaben des Klägers im Rahmen der Vorprüfung verwiesen werde. Dem Kläger werde aufgrund seiner lebensbedrohlichen Erkrankung Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG zu gewähren sein. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Asylantrag offensichtlich unbegründet seien. Jedenfalls liege ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, weil eine Abschiebung zu einer konkreten unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben des Klägers führen würde. Hierzu werde auf die bereits im Bundesamtsverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen verwiesen sowie auf ein beigefügtes aktuelles ärztliches Attest des Dialysezentrums … vom 31. Juli 2017; der Kläger habe seit August 2016 einen GdB von 100. Die Abschiebungsandrohung - und insbesondere deren sofortige Vollziehbarkeit - sei deshalb rechtswidrig. Der Kläger habe entgegen der Auffassung des BAMF in Armenien keine Möglichkeit gehabt und habe auch in Zukunft keine Möglichkeit, seine Erkrankung adäquat zu behandeln und die Lebensgefahr zu beseitigen. Diese Möglichkeit bestehe jedoch in der Bundesrepublik Deutschland. Die begonnene Dialyse müsse fortgeführt werden, um unmittelbaren Schaden von Leib und Leben des Klägers abzuwenden.
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Bei dem beigefügten ärztlichen Attest handelt es sich um eine ärztliche Bescheinigung des Dialysezentrums … vom 31. Juli 2017, wonach der Kläger an einer terminalen Niereninsuffizienz leide und seit 5. April 2015 als lebenserhaltende Maßnahme dreimal pro Woche mit der künstlichen Niere in ihrem Dialysezentrum behandelt werde. Eine Unterbrechung dieser Behandlung für nur wenige Tage werde unweigerlich zu Kumulation der harnpflichtigen Substanzen im Blut führen (Urämie/ Harnvergiftung) und für den Patienten eine lebensbedrohliche Situation heraufbeschwören.
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Für die Beklagte beantragte das BAMF unter Bezugnahme auf den ergangenen Bescheid sowohl Antragsablehnung als auch
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Mit Beschluss vom 6. September 2017 ist im Verfahren AN 6 S 17.34984 der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt worden; ebenso sind zwei Anträge des Klägers nach § 80 Abs. 7 VwGO auf Abänderung dieses Beschlusses mit Beschlüssen vom 18. Oktober 2017 (AN 6 S 17.35744) und 7. November 2017 (AN 6 S 17.35906) abgelehnt worden. Für die Einzelheiten wird auf die jeweiligen Beschlüsse Bezug genommen.
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In der mündlichen Verhandlung am 26. Oktober 2017 machte der Kläger geltend, dass es in Armenien nicht die Medikamente gebe, die er hier bekomme, er nehme hier 22 Medikamente am Tag ein. Er habe unter anderem sehr hohe Phosphorwerte, wofür er sechs Medikamente verschrieben bekomme; er habe deswegen dauernd Wunden und Juckreiz am Körper.
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Gemäß einem im Nachgang dazu eingeholten Attest des Dialysezentrums … vom 1. Dezember 2017 lagen beim Kläger sehr hohe Phosphatwerte vor; bei Niereninsuffizienz sei eine ausreichende Phosphatausscheidung nicht mehr gegeben, somit kumuliere Phosphat im Körper, was Auswirkungen auf den Knochenstoffwechsel habe und zu einer starken Verkalkung der Weichteile und Gefäße führen könne. Dies habe zur Folge, dass ein hohes Frakturrisiko bestehe und ein stark erhöhtes kardiovaskuläres Risiko mit Herzinfarkt und Schlaganfallfolge oder auch einer tödlichen Weichteilverkalkung. Beim Kläger seien diese Werte stark erhöht im Vergleich zu dem Durchschnittsdialysepatienten. Eine Behandlung finde medikamentös mit mehreren ganz spezifischen Präparaten statt (Renagel, Calcet, Mimpara). Diese Therapie sei dauerhaft notwendig; wenn keine weitere Therapie stattfinde, werde der Patient die bereits geschilderten Folgen erleiden. Beim Kläger sei des Weiteren eine Bluthochdruckerkrankung bekannt, auch hier sei eine medikamentöse Mehrfachtherapie nötig, um kardiovaskuläre Folgen zu verhindern. Eine engmaschige Kontrolle und Therapie sei dringend erforderlich, um eine Verschlechterung des Krankheitszustands bis zum Tod zu verhindern.
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Daraufhin hat das erkennende Gericht mit Beschluss vom 27. Dezember 2017 gemäß § 80 Abs. 7 VwGO unter Aufhebung der entgegenstehenden Ziffer des Beschlusses vom 6. September 2017 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des BAMF im Bescheid vom 26. Juli 2017 angeordnet (AN 6 S 17.36198). Aus dem Attest vom 1. Dezember 2017 lasse sich hinreichend substantiiert entnehmen, dass es beim Kläger nicht (mehr) um eine erforderliche durchschnittliche Dialyse-Behandlung gehe, sondern dass die zusätzliche Komplikation sehr hoher Phosphatwerte eingetreten sei und beim Ausbleiben einer diesbezüglichen ergänzenden spezifischen Therapie trotz Dialyse ein erhebliches Verschlechterungsrisiko bei der vorliegenden Niereninsuffizienz bis hin zu lebensbedrohlichen Folgen bestehe. Dabei wögen die Zweifel an der Versagung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG so schwer, dass sie im Rahmen von § 36 Abs. 4 AsylG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bezüglich der angefochtenen Abschiebungsandrohung nach Armenien geböten.
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Für den Kläger wurde im Klageverfahren im Weiteren noch vorgelegt ein Attest des Dialysezentrums … vom 12. Oktober 2020. Demnach werde der Kläger seit 5. April 2015 als lebenserhaltende Maßnahme dreimal pro Woche über mindestens 4 Stunden dort mit der Hämodialyse behandelt; ein Ende dieser Dauerbehandlung sei zu Lebzeiten nicht zu erwarten. Eine Unterbrechung dieser Behandlung für nur wenige Tage führe unweigerlich zur Anhäufung toxischer, harnpflichtigen Substanzen sowie Kalium im Blut und würde für den Patienten eine lebensbedrohliche Situation heraufbeschwören. Aus diesen Gründen sei auch eine ausschließlich medikamentöse oder diätetische Behandlung dieses Endstadiums der chronischen Niereninsuffizienz nicht möglich. Eine Alternative stelle eine Nierentransplantation dar, die durchschnittliche Wartezeit für eine postmortale Spende betrage in Deutschland derzeit ca. sechs Jahre. Danach müsse eine lebenslange Immunsuppressivtherapie mit verschiedenen, die Abstoßung verhindernden Medikamenten eingeleitet und fortgeführt werden. Ob diese Medikamente regelmäßig über Jahre in ausreichender Menge in Armenien für den Patienten verfügbar wären, sei nicht bekannt. Die Fortführung der regelmäßigen, chronisch-intermittierenden Hämodialysebehandlung sei in Armenien nicht sicher gewährleistet. Eine Abschiebung ohne Gewährung einer Hämodialyse vor Ort würde innerhalb einer Woche den sicheren Tod bedeuten.
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Auf gerichtliche Nachfrage ergänzte das Dialysezentrum … mit Schreiben vom 22. Oktober 2020 unter Beifügung des Laborverlaufs, dass der Kläger im letzten Jahr seine Ernährung umgestellt habe, sodass sich die Phosphat-Blutwerte gegenüber dem Vorjahr deutlich gebessert hätten und nur marginal gegenüber einem Dialyse-Durchschnittspatienten erhöht seien, bei einem ebenfalls durchschnittlichen medikamentösen Aufwand. Die Blutdrucktherapie sei gegenüber dem Jahr 2017 um ein Medikament erweitert worden; aktuell lägen überwiegend normotensive Blutdruckwerte vor. Der Kläger sei derzeit klinisch stabil und werde in einem Limited-Care-Hämodialyseregime (in der reduzierten ärztlichen Betreuung) dialysiert.
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Dazu führte das BAMF mit Schreiben vom 28. Oktober 2020 noch aus, dass an der angefochtenen Entscheidung festgehalten werde, insbesondere lägen die Voraussetzungen für ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor. Der Stellungnahme des Dialysezentrums sei zu entnehmen, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers inzwischen deutlich stabilisiert habe, so seien die Phosphat-Blutwerte gegenüber dem Vorjahr deutlich gebessert und gegenüber einem Dialyse-Durchschnittspatienten nur marginal erhöht. Somit habe sich das Krankheitsbild des Klägers im Vergleich zu der Situation, die dem Eilbeschluss vom 27. Dezember 2017 zugrunde gelegen habe, grundlegend geändert. Die Beklagte gehe davon aus, dass der Kläger die erforderliche Behandlung nunmehr auch wieder im Heimatland werde erhalten können.
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Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 5. November 2020 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der beigezogenen elektronischen BAMF-Akte und auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die vorliegende Klage, mit der der Kläger den Bundesamtsbescheid vom 26. Juli 2017 lediglich in Ziffern 4-6 angreift und nebst entsprechender Bescheidsaufhebung die Verpflichtung des BAMF zur Feststellung humanitären Abschiebungsschutzes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger begehrt, ist sowohl zulässig als auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) bezogen auf sein Heimatland Armenien begründet.
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Die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind vorliegend erfüllt und das Rest-Ermessen des BAMF hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes im Rahmen dieser Bestimmung ist zugleich auf Null zu Gunsten des Klägers reduziert.
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie für den Kläger hier ausschließlich geltend gemacht wird, liegt nach Satz 2 dieser Vorschrift nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG Augsburg, U.v. 1.10.2018 - Au 5 K 17.32950). Eine entsprechende Gefahr kann sich auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung dort tatsächlich nicht erlangen kann. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation dem betroffenen Ausländer aus finanziellen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, U.v. 29.10.2002 - 1 C 1.02). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Heimatland vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (OVG NW, B.v. 14.6.2005 - 11 A 4518/02.A). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Armenien) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich (§ 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG).
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Gemessen an diesen Maßstäben ist im Fall des Klägers entgegen der Auffassung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt bei Zugrundelegung seiner Erkrankungen und der Verhältnisse in seinem Heimatland Armenien - unter Berücksichtigung der Folgen der laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um Berg-Karabach und der Corona-Pandemie - vom Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen bei Rückführung in das Heimatland auszugehen.
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Der Kläger ist nach den vorgelegten ärztlichen Attesten überlebensnotwendig auf eine ununterbrochene Hämodialysebehandlung (seit längerem durchgeführt in der Frequenz von 3-mal wöchentlich bei jeweils mindestens 4 Stunden Dauer) angewiesen, die neben der üblichen diesbezüglichen Medikation u.a. auch noch durch die Verabreichung zweier blutdrucksenkender Medikamente begleitet wird; bereits eine Unterbrechung der Hämodialyse von nur wenigen Tagen führt bei ihm zu lebensbedrohlichen Konsequenzen. Eine theoretisch zur Behebung seiner terminalen Niereninsuffizienz auch noch mögliche Nierentransplantation steht zur Zeit weder hier in Deutschland noch geschweige denn in Armenien zur Debatte. In seiner durch die Dialysebedürftigkeit geschwächten allgemeinen körperlichen Verfassung ist er zusätzlich bei ununterbrochener, mehrfach pro Woche bestehender Behandlungsnotwendigkeit in einem Dialysezentrum besonders bedroht durch eine etwaige Covid-19-Infektion und deren potenziell schweren Folgen bis hin zum Tod.
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In Armenien würde er nunmehr folgende wesentliche Verhältnisse antreffen:
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Wie aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Berichten der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung, eines WIKIPEDIA-Artikels über die Covid-19-Pandemie in Armenien und der Verlautbarung der WKO Österreich zu entnehmen ist, ist auch Armenien heftig von einer ersten Welle der COVID-19-Pandemie erfasst worden. Das bereits vorher finanziell unterversorgte Gesundheitssystem versagte, nur noch Infizierte mit erheblichen Symptomen konnten in die Krankenhäuser aufgenommen werden. Die Pandemie hatte außerdem auch massive Auswirkungen auf das dortige gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben und die Infrastruktur des schwachen Gesundheitssystems. Die Corona-Pandemie hat in Armenien zu Einkommenseinbußen, Entlassungen und Betriebsschließungen geführt. Nach der obligatorischen Schließung sahen sich Tausende von Menschen in Armenien, die entweder im Ausland - hauptsächlich in Russland - oder als Tagelöhner im Dienstleistungs- und Bausektor, arbeiten, ernsthaften finanziellen Einbußen ausgesetzt (Heinrich-Böll-Stiftung: „Das Coronavirus hat Armenien den Krieg erklärt“ vom 15.6.2020). Schon in Folge der ersten Infektionswelle war die Erkrankungsrate erheblich (z. B. am 7.7.2020: 17.064 Infizierte und 285 Tote bei einer Bevölkerung von knapp 3 Millionen Menschen). Nach einer Abschwächung der Zahl der täglichen Neu-Infektionen über die Sommermonate ist es aber nunmehr wieder zu einem starken Anstieg der Infektionszahlen gekommen. Am 30. Oktober 2020 war nunmehr eine Zahl von 89.813 Fällen seit Beginn der Pandemie in Armenien erfasst, davon allein 25.039 erst in den letzten 14 Tagen vom 16. bis 29. Oktober 2020; die Zahl der erfassten Todesfälle in Zusammenhang mit der Virusinfektion wird zu diesem Zeitpunkt schon mit 1.341 angegeben (Wikipedia-Statistik zu Corona-Fällen in Armenien Stand 30. Oktober 2020).
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Zugleich werden die armenische Gesellschaft und Wirtschaft und insbesondere die öffentliche Infrastruktur Armeniens aktuell heftig von den Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach getroffen, die Armenien zu einer Mobilisierung seiner Bevölkerung und Ressourcen für die offen entflammten Kampfhandlungen in der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region gezwungen haben und die zuletzt einen für Armenien ungünstigen Verlauf genommen haben. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Kaukasus-Region war Ende September 2020 wieder voll entbrannt. Seit Beginn der Kämpfe wurden nach offiziellen Angaben beider Konfliktparteien mehr als 1.200 Menschen getötet. Tatsächlich dürfte allein die Zahl der Toten aber deutlich höher liegen, so hatte Russlands Präsident Putin schon von fast 5.000 Toten durch die Gefechte gesprochen. Nachdem sich Armenien und Aserbaidschan auch am 30. Oktober 2020 bei Gesprächen nicht auf eine Feuerpause einigen konnten, musste der armenische Regierungschef Paschinjan den russischen Präsidenten Putin offiziell um Hilfe im Konflikt bitten; Paschinjan habe Putin um den Beginn dringender Konsultation gebeten, es solle über Art und Umfang der Hilfe gesprochen werden, die die Russische Föderation Armenien zur Verfügung stellen kann, um seine Sicherheit zu gewährleisten (vgl. faz.net „Armenien bittet Russland um Hilfe“ vom 31.10.2020).
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In Konsequenz dieser Entwicklungen muss für den Fall des Klägers, der nicht zur armenischen Oberschicht gehört, durch seine Erkrankung schwer gehandicapt ist und auch glaubhaft nicht über ganz besondere einsetzbare finanzielle Ressourcen verfügt, mit mehr als beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass er gegenwärtig und in nächster Zukunft bei Rückführung nach Armenien als neu aus dem Ausland zurückkehrende Person in den Turbulenzen, in die das ohnehin unterentwickelte armenische Gesundheitssystem durch die Pandemie und durch die Versorgung der Opfer des Berg-Karabachkonflikts geraten ist, nicht mit der für ihn überlebensnotwendigen Kontinuität seiner Dialysebehandlung rechnen kann (deren Sicherstellung auch schon zu „normalen“ Zeiten doch erhebliche Anstrengungen bedeutet hätte), zumal auch noch das zusätzliche Erfordernis seiner Bluthochdruckmedikation in Betracht zu ziehen ist. Die Gefährdungslage des Klägers wird weiter noch dadurch gesteigert, dass er, wie bereits erwähnt, in seinem geschwächten Gesundheitszustand als Hämodialyse-Patient den Gefahren der Covid-19-Pandemie besonders ausgesetzt ist, wobei einleuchtendermaßen bei ihm die Gefahr einer solchen Infektion dadurch erheblich erhöht ist, dass er für sein Überleben einer dreimal wöchentlichen Aufnahme und Behandlung in einem Dialysezentrum mit all den damit verbundenen potentiellen Infektionsquellen bedarf. Damit droht dem Kläger zur Überzeugung der Kammer aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Abschiebung nach Armenien gegenwärtig und in nächster Zukunft eine zumindest wesentliche Verschlechterung einer zumindest schwerwiegenden Erkrankung und damit eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG.
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Der mit der Klage begehrten Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebehindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Armeniens im Fall des Klägers steht dabei auch nicht das bei dieser Vorschrift auf der Rechtsfolgenseite bestehende Rest-Ermessen des Bundesamtes entgegen, obwohl der Kläger offenkundig das Asylverfahren lediglich dazu benutzt hat, um sich Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zur Behandlung seiner Niereninsuffizienz zu verschaffen.
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Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, zugewiesene Ermessen greift nach ständiger Rechtsprechung der Kammer jedenfalls dann Platz, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind (vgl. dazu zuletzt näher U.v. 9.7.2020 - AN 6 K 17. 35831 - juris).
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Diese Voraussetzungen für die Ermessenseröffnung liegen beim Kläger auch ohne weiteres vor, nachdem er schon in Armenien - nach seinem Empfinden unzureichend effizient - dialysiert wurde und hier in Deutschland fortwährender Hämo-Dialyse mit Begleitbehandlung bedarf und er nach seinen eigenen Angaben bei seiner Anhörung zu seinem Asylantrag in erster Linie wegen seiner gesundheitlichen Lage nach Deutschland gekommen ist, er möchte sich medizinisch behandeln lassen und sich in Deutschland niederlassen, hier habe man bessere Möglichkeiten, sich medizinisch versorgen zu lassen.
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Jedoch ist ausnahmsweise im Fall des Klägers das in der skizzierten Missbrauchskonstellation eröffnete Ermessen des Bundesamtes zu seinen Gunsten auf Null reduziert. Das Gericht schätzt, wie dargelegt, die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei den gegenwärtigen Verhältnissen in Armenien als Rückkehrer nicht in der gebotenen Kontinuität und Qualität die Hämodialysebehandlung erhalten wird, als sehr hoch ein. Die Nicht-Gewährung einer Hämodialyse würde aber für den Kläger innerhalb einer Woche den sicheren Tod bedeuten (Attest des Dialysezentrums … vom 12. Oktober 2020), während bei fortlaufender Hämodialyse die Lebenserwartung des Klägers - bei unter den gegebenen Umständen aus Sicht des Klägers guter Lebensqualität - auf absehbare Zeit nicht begrenzt erscheint. Unter diesen Umständen ist vor dem Hintergrund von Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten.
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Da dem Kläger mithin der Anspruch auf Zuerkennung des Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich seines Heimatlandes Armenien zukommt, können aus dem streitgegenständlichen Bescheid auch die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung (Nr. 5) und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG (Nr. 6) keinen Bestand haben. Diese sind mit aufzuheben, weil entgegen Nr. 5 das zuzuerkennende Abschiebungsverbot der Androhung der Abschiebung in das betreffende Land gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG zwingend entgegensteht und weil im Ausspruch in Nr. 6 überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 - juris, LS 1, Rn. 70 ff), die aber wiederum eine Abschiebungsandrohung voraussetzen würde.
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Da somit der hier zur Entscheidung stehenden Klage uneingeschränkt stattgegeben wird, erfolgt die Kostenentscheidung nach § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO zu Lasten der Beklagten.
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Gerichtskosten fallen nicht an, da das Verfahren gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei ist.
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Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.