Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 18.02.2020 – Au 9 K 19.30586
Titel:

Prüfung Abschiebungsverbot nach Nigeria

Normenketten:
EMRK Art. 3
VwGO § 92, § 113 Abs. 5 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 3, § 76 Abs. 1
Leitsätze:
1. Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Behandlung einer Tuberkulose gehört in Nigeria zur medizinischen Routine. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, teilweise Klagerücknahme, Abschiebungsverbote (verneint), Tuberkulose-Erkrankung nicht ärztlich nachgewiesen, keine hinreichende Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung (FGM), Abschiebungsverbot, Erkrankung, Asylverfahren, Existenzminimum, Schutzstatus, Unterstützungsleistungen
Fundstelle:
BeckRS 2020, 4089

Tenor

I. Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Die Kläger begehren mit ihrer Klage zuletzt die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat.
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Die am ... 1978 in ... (Nigeria) geborene Klägerin zu 1, die am ... 2002 in ... (Nigeria) geborene Klägerin zu 2, der am ... 2004 in ... (Elfenbeinküste) geborene Kläger zu 3, der am ... 2011 in ... (Nigeria) geborene Kläger zu 4 und die am ... 2016 in ... (Elfenbeinküste) geborene Klägerin zu 5 sind sämtlich nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit der Yoruba und muslimischem Glauben.
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Ihren Angaben zufolge reisten die Kläger am 7. September 2018 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 25. September 2018 Asylerstanträge stellten. Eine Beschränkung der Asylanträge gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
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Die persönliche Anhörung der Klägerin zu 1 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 27. September 2018. Die Klägerin zu 1 trug hierbei im Wesentlichen vor, sie habe Nigeria bereits im Jahr 1999 verlassen und seitdem in ... in der Elfenbeinküste gelebt. In Nigeria habe sie nur die Grundschule besucht. Nachdem die Mutter der Klägerin zu 1 gestorben sei, habe sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Zuletzt habe sie in ... als Verkäuferin bei einem Mann gearbeitet, wo sie ca. 60.000 CFA monatlich verdient habe. Die wirtschaftliche Situation in der Elfenbeinküste sei ebenfalls schlecht gewesen. In Nigeria lebten weiterhin ihr Vater, zwei Schwestern, ein Onkel und zwei Tanten. Ihre erste Tochter habe sie im Jahr 2002 in Nigeria bekommen. 2009 und 2011 sei sie extrem für die Geburt der Kinder nach Nigeria gereist und habe sich dort bei der Schwiegermutter aufgehalten. Sie habe für sich und die Kinder ein Touristenvisum für die Bundesrepublik Deutschland beantragt, für einen Urlaub mit den Kindern. Die Elfenbeinküste habe sie wegen den Problemen mit der Familie ihres Mannes verlassen. Seit der Geburt ihrer ersten Tochter, der Klägerin zu 2, gebe es diese Probleme. Die Klägerin zu 2 sei gegen ihren Willen beschnitten worden. Nachdem sie ihr letztes Kind, die Klägerin zu 5, bekommen habe, seien die Probleme erneut aktuell geworden. Man habe das Kind beschneiden wollen und sie selbst habe dies abgelehnt. Deswegen sei sie mit den Kindern geflohen, nachdem sie das Visum erhalten habe. Das Kind habe am 29. September 2018 beschnitten werden sollen. Im August 2018 habe die Klägerin zu 1 von der geplanten Beschneidung ihrer jüngsten Tochter, der Klägerin zu 5, erfahren. Die Klägerin zu 1 sei in Nigeria bereits beschnitten worden, als sie selbst noch ein Kind gewesen sei. Sie selbst habe keine Probleme wegen des Eingriffs, aber ihre Tochter, die Klägerin zu 2, habe immer noch Beschwerden im Genitalbereich. Die Familie des Mannes entscheide, ob eine Beschneidung durchgeführt werde. Zur Polizei oder den Behörden in der Elfenbeinküste habe die Klägerin zu 1 nicht gehen können, weil sie dann Probleme mit der Familie ihres Mannes bekommen hätte. In Nigeria habe sie keine Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Organen gehabt. Bei einer Rückkehr nach Nigeria befürchte sie, sie müsse dort leiden, da sie in Nigeria keine Unterstützung habe. Ihr Mann habe auch Familienmitglieder in Nigeria, weshalb sie nicht dorthin zurückkehren könne. Die Flucht aus der Elfenbeinküste sei ausschließlich wegen der drohenden Beschneidung ihrer jüngsten Tochter erfolgt. Ihr Ehemann lebe mit einem Kind in Nigeria und ein weiteres Kind halte sich in der Elfenbeinküste auf.
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Hinsichtlich der weiteren Angaben der Klägerin zu 1 bei der persönlichen Anhörung wird auf die Niederschrift des Bundesamts verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 23. April 2019 (Gz.: ...) wurden die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Asylanerkennung abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids bestimmt, dass den Klägern auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 werden die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Folgeleistung wurde den Klägern die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 setzt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass bei den Klägern die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Die Kläger seien keine Flüchtlinge im Sinne des § 3 AsylG. Auch die Voraussetzungen der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) lägen nicht vor. Insbesondere bestehe in Nigeria kein landesweiter innerstaatlicher oder internationaler bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Auch Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Eine Abschiebung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG sei unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Alleinstehende Frauen in Nigeria seien von besonderen Schwierigkeiten betroffen. Grundsätzlich sei jedoch davon auszugehen, dass für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig alleine zu leben und auch ohne Hilfe Dritter zu überleben. Bei den Klägern läge kein Ausnahmefall vor. Auch die vielfältig vorhandenen NGOs erleichterten es, das Existenzminimum in Nigeria zu erreichen. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 auch ohne familiäres Netzwerk für sich und ihre Kinder bei einer Rückkehr nach Nigeria unter Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen zumindest das Existenzminimum erlangen könne. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe den Klägern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG sei vorliegend angemessen. Die Kläger verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 23. April 2019 wird ergänzend verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde der Klägerin zu 1 mit Postzustellungsurkunde am 27. April 2019 bekanntgegeben.
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Die Klägerin zu 1 hat gegen den vorbezeichneten Bescheid am 30. April 2019 Klage zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und zunächst beantragt,
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1. Die Beklagte wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen, hilfsweise ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass sie die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus erfüllen, hilfsweise festzustellen, dass für sie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen.
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2. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. April 2019 wird aufgehoben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
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Zur Begründung wurde zunächst auf die gestellten Asylanträge und auf die persönliche Anhörung vor dem Bundesamt am 27. September 2018 verwiesen.
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Mit Schriftsatz vom 29. Mai 2019 wurde die Klage auf die Feststellung von nationalen Abschiebehindernissen beschränkt. Es wurde beantragt,
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1. Der Bescheid vom 23. Oktober 2019 wird in Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet, bei den Klägern das Vorliegen von Abschiebehindernissen gemäß § 60 Abs. 5 bis § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.
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Zur Begründung der Klage ist mit Schriftsatz vom 28. Januar 2020 ausgeführt, dass die Klägerin zu 1 angebe, dass sie nicht nach Nigeria zurückkehren könne, weil sie nicht in der Lage sein werde, ihre Kinder zu ernähren und ihre jüngere Tochter, die Klägerin zu 5, vor einer Beschneidung zu schützen. Die Klägerin sei gegen eine Beschneidung. Sie habe bereits nicht gewollt, dass ihre älteste Tochter, die Klägerin zu 2, beschnitten werde. Die Klägerin zu 2 habe sehr lange unter den körperlichen und seelischen Folgen der Beschneidung gelitten. Die Klägerin zu 1 sehe sich nicht in der Lage, eine Beschneidung zu verhindern. Es drohe daher der Klägerin zu 5 bei einer Rückkehr in Nigeria durch die Beschneidung Folter und schwerste gesundheitliche Schäden im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Die Klägerin zu 1 sei durch den Tod ihres Sohnes psychisch sehr angeschlagen. Sie werde bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht in der Lage sein, die Familie ausreichend ernähren zu können. Sie könne in ihrem Heimatland keine Unterstützung erwarten. Ihre Familienangehörigen seien entweder gestorben oder nicht in der Lage, sich und die eigene Familie ausreichend zu versorgen. Somit drohe der Familie eine existenzbedrohende Armut, die menschenrechtswidrig sei.
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Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 2. Dezember 2019 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Am 17. Februar 2020 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die Klägerinnen zu 1 und zu 2 informatorisch angehört wurden, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Kläger verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2020 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2020 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die Klage bleibt, soweit sie mit Schriftsatz vom 29. Mai 2019 (Gerichtsakte Bl. 24) und in der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2020 noch aufrechterhalten wurde, ohne Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
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1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 29. Mai 2019 und in der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2020 teilweise zurückgenommen wurde - dies betrifft die ursprünglich gestellten Anträge der Kläger auf Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16a Grundgesetz (GG), auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG und auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) - war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch der Kläger auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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2. Die im Schriftsatz vom 29. Mai 2019 und in der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2020 noch aufrechterhaltene Klage auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zwar zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg. Den Klägern steht kein diesbezüglicher Anspruch zur Seite.
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Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der EMRK oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen zu Gunsten der Kläger nicht vor.
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a) Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria - hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria - Lagebericht - a.a.O. Nr. I.2.) - ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht a.a.O. Nr. II.2. und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Kläger drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
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Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - a.a.O. - juris Rn. 22, 36).
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Dies gilt auch unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung dargestellten Situation der Klägerin mit aktuell fünf minderjährigen Kindern. So ist darauf zu verweisen, dass im liberaleren Südwesten Nigerias - und dort vor allem in den Städten - alleinstehende oder alleinlebende Frauen eher akzeptiert werden. Im Allgemeinen ist eine interne Relokation insbesondere für alleinstehende Frauen nicht übermäßig hart. Diese sind darauf angewiesen, spezifische Hilfsorganisationen für Frauen in Anspruch zu nehmen. Diese sind in Nigeria insbesondere in den größeren Städten zahlreich vertreten. Auf die ins Verfahren eingeführte Aufstellung im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - BFA - Nigeria - Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 18.2, S. 41) wird verwiesen. Weiter ist auf das in Afrika herrschende Prinzip der wechselseitigen Solidarität (Ubuntu) zu verweisen. Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA - Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 20, S. 50). Für eine zumutbare Rückkehr der Klägerin zu 1 trotz der vorhandenen Kinderzahl spricht aus Sicht des Gerichts weiter, dass die Klägerin zu 1 trotz mehrerer zu diesem Zeitpunkt bereits vorhandener Kinder auch in der Elfenbeinküste (Abidjan) zumindest einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen ist. So hat die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass sie in der Elfenbeinküste als Haushaltshilfe tätig geworden sei. Weiter spricht für eine zumutbare Rückkehr nach Nigeria, dass die Klägerin zu 2 im Jahr 2020 bereits volljährig wird und insoweit auch in der Lage ist, zu einem Grundeinkommen der Familie beizutragen. Dass dies für die Klägerin zu 2 unmöglich ist, ist für das Gericht nicht erkennbar. Ebenso ist es möglich, dass sich die Klägerin zu 1 und die Klägerin zu 2 im Hinblick auf eine erforderliche Erwerbstätigkeit bzw. Kinderbetreuung abwechseln und so wechselseitig zum Familienunterhalt beitragen. Das Gericht ist daher der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass sich aus dem Umstand, dass die Klägerin zu 1 den aktuellen Aufenthalt ihres Ehemannes nicht kennt und der Zahl der aktuell vorhandenen Kinder kein nationales Abschiebungsverbot zu Gunsten der Kläger ableiten lässt. Insoweit fehlt es auch unter Berücksichtigung der in Nigeria insbesondere in großen Städten vorhandenen spezifischen Hilfsorganisationen für Frauen an der erforderlichen zu befürchtenden Extremgefahr im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
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b) Auch die für die Klägerin zu 5 geltend gemachte Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) ist nicht geeignet, ein nationales Abschiebungsverbot zu Gunsten der Klägerin zu 5 auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu begründen.
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Für die Klägerin zu 5 besteht aus den nachfolgenden Gründen keine hinreichende Gefahr einer geschlechtsbezogenen Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG.
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Zwar stellt die geltend gemachte zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. ein nationales Abschiebungsverbot begründen kann.
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Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% bis zu 50% bis 60% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria - Lagebericht - vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. II.1.8).
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Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw. einem Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Verhinderung von Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Allerdings weist das Gericht auch darauf hin, dass selbst nach der allgemein zugänglichen Stellungnahme „The Epidemiology of Female Genital Mutilation in Nigeria - A Twelve Year Review“ die Beschneidungspraxis selbst innerhalb der Ethnie der Yoruba von 2013 bis 2016 stark rückläufig ist (von 54,5% auf 45,4%).
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Aufgrund dieser Erkenntnislage in Zusammenschau mit dem Vortrag der Klägerin zu 1 beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung steht zur vollen Überzeugung des Einzelrichters (§ 108 Abs. 1 VwGO) fest, dass bei der Klägerin zu 5 eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintretende Gefahr hinsichtlich der Durchführung einer Genitalverstümmelung nicht besteht. Dies gilt ungeachtet der Volkszugehörigkeit der Klägerin zu 5 zur Volksgruppe der Yoruba.
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Zwar verhält es sich nach der Information des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration - Weibliche Genitalverstümmelung - Formen - Auswirkungen - Verbreitung - Asylverfahren vom April 2010 bei der Ethnie der Yoruba so, dass Beschneidungen innerhalt der ersten Lebenswoche, im Kleinkindalter oder der Kindheit vorgenommen werden. Dies schließt es aus Sicht des erkennenden Gerichts zunächst nicht aus, dass - abgestellt auf das Lebensalter - für die Klägerin zu 5 die Gefahr einer zwangsweisen Beschneidung (FGM) bei einer Rückkehr nach Nigeria besteht. Das Gericht ist andererseits aber auch der Auffassung, dass es der Klägerin zu 1 unschwer möglich ist, einer Gefahr einer Beschneidung bei einer Rückkehr nach Nigeria zu entgehen. Dies insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass eine Gefahr einer Beschneidung allenfalls von der Familie ihres Ehemannes ausgehen würde. Insoweit bleibt aber festzuhalten, dass die Klägerin zu 1 weder den genauen Aufenthaltsort ihres Ehemannes noch von dessen Familie kennt. So hat die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung lediglich ausgeführt, dass Familienangehörige ihres Ehemannes sowohl in der Elfenbeinküste (...), als auch in ... (Nigeria) bzw. in ... (Nigeria) lebten. Die Klägerin zu 1 ist jedoch mit ihren Kindern bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht darauf verwiesen, an die früheren Aufenthaltsorte der Familie ihres Ehemannes zurückzukehren. Dies erscheint auch nicht zwingend, zumal die Klägerin zu 1 den Aufenthaltsort ihres Ehemannes nicht kennt. Weiter spricht gegen eine bestehende Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung die Tatsache, dass, obwohl die Klägerin zu 5 bereits Ende des Jahres 2016 geboren wurde, die Klägerin zu 1 aber noch bis zu ihrer Ausreise aus der Elfenbeinküste im Jahr 2018 zusammen mit ihrem Ehemann und der Klägerin zu 5 in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Vor diesem Hintergrund wäre es für den Ehemann der Klägerin zu 1 während des gemeinsamen Aufenthaltes in der Elfenbeinküste unschwer möglich gewesen, die Klägerin zu 5 zu seiner sich noch in Nigeria aufhaltenden Familie zu verbringen und dort das Beschneidungsritual durchführen zu lassen. Dies umso mehr, als die Klägerin zu 1 auch ausgeführt hat, dass ihr Ehemann häufig zwischen Nigeria und der Elfenbeinküste gependelt ist. Nach Nigeria sei er immer wieder für die Dauer von etwa einem Monat zurückgekehrt, um dort seine Familie zu besuchen. Die Tatsache, dass eine Beschneidung der Klägerin zu 5 offensichtlich während des noch gemeinsamen Aufenthaltes in der Elfenbeinküste bis zur Ausreise im Jahr 2018 unterblieben ist, lässt für das Gericht nur den Schluss zu, dass keine reale Gefahr einer Beschneidung für die Klägerin zu 5 bei einer Rückkehr nach Nigeria besteht. Insoweit ist die Klägerin zu 1 mit ihren Kindern jedenfalls darauf zu verweisen, eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG zu ergreifen.
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c) Schließlich vermag das Gericht auch kein gesundheitsbedingtes Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG insbesondere zu Gunsten des Klägers zu 3 zu erkennen. Bezüglich der Klägerinnen zu 1, zu 2, zu 4 und zu 5 wurden bereits keine nennenswerten gesundheitlichen Einschränkungen geltend gemacht.
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Bei der Geltendmachung eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes muss die Erkrankung durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG und BayVGH, B.v. 24.1.2018 - 10 ZB 18.30105 - juris). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat, welche Art von Befunderhebung stattgefunden hat und ob die von dem Patienten geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte ein fachärztliches Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2012 - 10 B 21.12 - juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 22.8.2014 - 5 C 14.1664 - juris Rn. 5).
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Für den Kläger zu 3 wurde lediglich vorgetragen, dass dieser an einer Tuberkulose-Erkrankung leide. Ärztliche Nachweise über das Vorliegen und die Schwere der Erkrankung wurden im Verfahren nicht beigebracht. Überdies bleibt zu berücksichtigen, dass die Behandlung einer Tuberkulose in Nigeria zur medizinischen Routine gehört (vgl. VG Cottbus, B.v. 29.8.2019 - 5 L 120/19.A - juris Rn. 13). Auch ist die Behandlung von Tuberkulose in ganz Nigeria in speziellen Tuberkulosezentren kostenfrei möglich. Die Kosten einer Behandlung werden insoweit vom Staat übernommen (vgl. VG Cottbus, B.v. 29.8.2019, a.a.O., juris Rn. 11 m.w.N.). Rückkehrer nach Nigeria finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, allerdings in der Regel unter europäischem Standard. Die meisten Landeshauptstädte in Nigeria haben öffentliche und private Krankenhäuser sowie Fachkliniken, und jede Stadt hat darüber hinaus eine Universitätsklinik, die vom Bundesgesundheitsministerium finanziert wird (vgl. VG Düsseldorf, U.v. 27.3.2018 - 27 K 9093/17.A - juris Rn. 44). Vorliegend bedarf die Behandlungsmöglichkeit von Tuberkulose in Nigeria keiner weitergehenden Vertiefung, da es bereits an der Vorlage von aussagekräftigen ärztlichen Attesten im Verfahren fehlt. Beweisanträge wurden nicht gestellt.
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3. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig, da die Voraussetzungen dieser Bestimmungen vorliegen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
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Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Befristung der Einreise- und Aufenthaltsverbote nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt nicht. Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen erkannt und im Rahmen der gerichtlich gemäß § 114 Satz 2 VwGO beschränkten Prüfung ordnungsgemäß ausgeübt.
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4. Die Klage war mithin mit der Kostenfolge aus § 155 Abs. 2, § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Für den zurückgenommenen Teil der Klage tragen die Kläger gemäß §§ 155 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO die Kosten als Gesamtschuldner. Soweit sie ihre Klage in der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2020 noch aufrechterhalten haben, sind die Kläger im Verfahren unterlegen, so dass sie die Kosten des Verfahrens gemäß §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO als Gesamtschuldner zu tragen haben. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.