Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 28.09.2020 – B 10 K 18.31484
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei homosexueller Orientierung – Somalia

Normenkette:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 4
Leitsätze:
1. Homosexualität stellt als sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal iSd § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a AsylG dar, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine bestimmte soziale Gruppe stellen Homosexuelle dann dar, wenn sie in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgrenzbare Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Somalia, Homosexualität, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, bestimmte soziale Gruppe, Flüchtlingseigenschaft, soziale Gruppe
Fundstelle:
BeckRS 2020, 40885

Tenor

1.    Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20.08.2020 wird in den Ziffern 1 und 3 bis 6 des Tenors aufgehoben.  Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. 
2.    Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens. 
3.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Der Kläger, ein nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, dem Clan der …zugehörig und muslimischen Glaubens, reiste nach seinen Angaben im August 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 07.03.2018 stellte er beim Bundesamt für Asyl und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. Bei seiner persönlichen Anhörung nach § 25 AsylG am 20.06.2018 gab er im Wesentlichen an, er habe im Herkunftsland zuletzt in … (Region Jubbada Dhexe) gelebt. Seine Mutter und seine Geschwister würden weiterhin dort leben. Sein Vater sei bereits verstorben. Im Herkunftsland habe er noch eine Tante väterlicherseits, die in Mogadischu lebe. Er selbst habe in Somalia sechs Monate lang eine Englischschule besucht; eine andere Schule habe er nicht besucht. Er könne sehr gut lesen und schreiben, auch auf Somali. Selbst gearbeitet habe er in Somalia nie. Er sei mit seinem Vater mitgegangen, wenn dieser auf dem Feld gearbeitet habe. Die Familie habe eigene Felder gehabt in Liimoole, was etwas außerhalb von … liege. Zu seinen Fluchtgründen befragt, trug der Kläger vor, das schlimmste, was ihm in Somalia passiert sei, sei es gewesen, dass sein Vater gestorben sei. Die Familie habe Felder besessen, auf denen sein Vater gearbeitet habe. Eines Tages seien die Al-Shabaab zu ihnen gekommen. Sie hätten von seinem Vater verlangt, das, was er von den Feldern bekomme, zu spenden und so den Islam zu stärken. Sein Vater habe gesagt, dass er nichts spenden könne. Daraufhin sei ein riesen Streit zwischen diesen Männern und seinem Vater ausgebrochen. Dann seien die Al-Shabaab weggegangen. Eines Tages seien Jugendliche, die zu den Al-Shabaab gehört hätten, gekommen und hätten seinen Vater angeschossen. Er habe stark geblutet. Leute, die in der Nähe gewesen seien, hätten seinen Vater nach Hause gebracht, wo er verstorben sei. Nach dem Tod des Vaters seien sechs Monate vergangen. Dann sei der älteste Bruder des Klägers in den Norden Somalias gegangen. Er, der Kläger, und sein anderer Bruder hätten auf dem Feld gearbeitet und versucht, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Eines Tages seien die Al-Shabaab wiedergekommen. Sie hätten alle Jugendlichen, die auf dem Feld gearbeitet hätten, mitgenommen. Sie hätten ihn und die anderen zu einem Ort außerhalb der Stadt gebracht, wo sie zu Soldaten ausgebildet worden seien. Zwei Tage lang seien sie ohne Essen gefangen gehalten worden und hätten trainieren sollen. Ein anderer Junge und er, der Kläger, hätten es geschafft, zu fliehen. Er sei dann zurück nach … gegangen zu seiner Mutter. Noch in derselben Nacht habe seine Mutter ihm gesagt, er solle sich in Sicherheit bringen und ihn in ein Auto gesetzt, mit dem er bis nach Afmodow fahren sollte. Dort sei er wieder in ein anderes Auto gestiegen, das ihn aus dem Land Richtung Kenia gebracht habe. Später sei er in Libyen gewesen, wo er ausgepeitscht und geschlagen worden sei. Er sei dort neun Monate gefangen gewesen, bis schließlich seine Stammesmitglieder das Geld für seine Freilassung zusammengelegt hätten.
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Auf die Frage, was er zu dem Zeitpunkt gemacht habe, als die Al-Shabaab zu ihm ins Dorf gekommen seien und ihn dann mitgenommen hätten, trug der Kläger vor, er sei mit einigen anderen Jugendlichen zum Beten in der Moschee gewesen. Als er herausgekommen sei, habe ein Auto vor der Moschee gestanden. Sie seien mit Gewalt mitgenommen worden. Dies sei ca. um 15:45 Uhr gewesen, da man das Gebet ungefähr um diese Zeit bete. Sie seien dann in einen Ort außerhalb von … gebracht worden. Bis zu diesem Ort seien sie ungefähr eine Viertelstunde unterwegs gewesen. Man habe ihnen dort gesagt, dass sie jetzt für den Islam trainieren und arbeiten würden. Sie sollten Laufen trainieren. Darum gebeten, seine Flucht aus dem Lager näher zu schildern, trug der Kläger vor, zunächst sei Nacht gewesen und sie hätten trainieren müssen, genauso wie am nächsten Tag auch. Sie hätten kein Essen bekommen; ihnen sei gesagt worden, das werde sie stärken. Als die Sonne untergegangen sei, hätten er und der andere Junge sich weggeschlichen. Gefragt, ob sie verfolgt worden seien, antwortete der Kläger, das könne er nicht sagen, er denke aber, das sei der Fall gewesen. Er sei geflohen und direkt zu seiner Mutter gegangen. Die habe dann gesagt, dass er weiter fliehen müsse. Gefragt, wie lange er von dem Camp der Al-Shabaab zu seiner Mutter unterwegs gewesen sei, gab der Kläger an, er sei ca. eine Stunde lang ununterbrochen gelaufen. Näher zu dem Training im Lager der Al-Shabaab befragt, gab der Kläger an, man habe ihnen gesagt, sie müssten lernen, wie ein Soldat zu kämpfen. Dazu müssten sie zunächst ein Lauftraining absolvieren. Ihnen sei gesagt worden, dass man sie zu Soldaten machen werde. Das Training habe auf einer offenen Fläche ohne Bäume stattgefunden. Dabei seien sie bewacht worden. Darum gebeten, näher zu schildern, wie er den Aufpassern entkommen sei, trug der Kläger vor, die Wachen seien selbst müde gewesen, was sie am ersten Tag schon bemerkt hätten. Er und der andere Jugendliche hätten gewartet, bis die Wachen sich hingesetzt und sich ausgeruht hätten. Als sie gemerkt hätten, dass die Wachen nicht auf sie achteten, hätten sie die Chance genutzt. Darum gebeten, genauer zu beschreiben, was passiert sei, nachdem er zuhause bei seiner Mutter angekommen sei, trug der Kläger vor, seine Mutter sei sehr traurig gewesen als sie erfahren habe, dass er entführt worden sei. Sie habe die ganze Zeit für ihn gebetet und sei erleichtert gewesen, als er zuhause angekommen sei. Sie habe ihn weggeschickt, damit so etwas nicht noch einmal passieren würde. Danach gefragt, ob er im Moment noch Kontakt zu seiner Mutter habe, gab der Kläger an, er frage seine Tante, wie es seiner Mutter gehe. Mit seiner Mutter könne er nicht telefonieren. Seine Tante sage ihm, dass seine Mutter immer wieder krank werde. Gefragt, ob er regelmäßigen Kontakt zu seiner Tante in Mogadischu habe, antwortete der Kläger, das Telefonieren sei schwer. Er versuche es fast täglich, aber es klappe nur etwa alle zwei Monate und sei teuer. Auf die Frage, ob sich, seitdem er von zuhause weggegangen sei, dort noch einmal etwas ereignet habe, gab der Kläger an, die Gesundheit seiner Mutter habe sich sehr verschlechtert. Sein Bruder sei jetzt auch krank. Es gebe niemanden, der sich um die Familie kümmern könne. Danach gefragt, warum er nach Kenia gegangen sei und nicht nach Mogadischu, was viel näher gewesen wäre, antwortete der Kläger, die Al-Shabaab seien überall, auch in Mogadischu. Deshalb habe er woanders hingehen wollen, wo es sicherer sei. Gefragt, was die Ausreise aus Somalia gekostet habe, gab der Kläger an, das nicht zu wissen. Möglicherweise habe seine Mutter etwas für das Auto gezahlt, aber er habe kein Geld gehabt. In Kenia habe er Leute getroffen, die ihm gesagt hätten, ihr Schlepper würde kein Geld nehmen und sie müssten erst in Libyen etwas bezahlen. Danach gefragt, was er bei einer Rückkehr nach Somalia befürchte, gab der Kläger an, er käme zu dem Problem und den Leuten zurück, vor denen er geflohen sei. Er würde zum Tod zurückkehren. Mit Bescheid vom 20.08.2018 wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Nr. 1). Der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt (Nr. 2). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, widrigenfalls er nach Somalia abgeschoben werde (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Zur Begründung des Bescheids wurde insbesondere ausgeführt, der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Soweit er erklärt habe, aus Somalia geflohen zu sein, weil die Al-Shabaab ihn habe als Soldat rekrutieren wollen, lasse sich damit der Flüchtlingsschutz nicht begründen. Der Kläger habe die behauptete Verfolgung nicht glaubhaft machen können. Seine Angaben seien arm an Details und das Verhalten der handelnden Personen nicht nachvollziehbar gewesen. Auch unabhängig von der Glaubhaftigkeit des Vorgetragenen sei der Vortrag nicht geeignet, die Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Der Kläger könne in Mogadischu Schutz im Sinne des § 3e AsylG finden. Mogadischu könne er sicher erreichen, da es zahlreiche Flugverbindungen dorthin gebe. Auch bei Wahrunterstellung seines Vortrags sei es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Al-Shabaab den Kläger in Mogadischu suchen würden. Gemäß aktuellen Informationen müsse die wirtschaftlich prosperierende Stadt Mogadischu als verhältnismäßig sicher eingestuft werden. Der Kläger habe keine persönlichen Umstände vorgetragen, die die Gefahr erhöhen würden, dass im Falle seiner Rückkehr nach Mogadischu von individuellen konfliktbedingten Gefahren gesprochen werden könne. Er habe in Mogadischu eine Tante, mit der er regelmäßig Kontakt habe und die bereits einmal in der Lage gewesen sei, Geld zusammenzutragen, um ihn aus der libyschen Geiselhaft freizukaufen. Insofern sei auch von einer künftigen finanziellen Unterstützung bei seiner Rückkehr in sein Heimatland zu rechnen. Auch die Voraussetzungen für die Anerkennung des subsidiären Schutzstatus würden nicht vorliegen. Insbesondere bestehe für den Kläger bei einer Rückkehr nach Mogadischu nicht die Gefahr, als Zivilperson Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen oder internationalen bewaffneten Konflikts zu werden.
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Abschiebungsverbote würden ebenfalls nicht vorliegen. Insbesondere sei davon auszugehen, dass der Kläger das Existenzminimum im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG in Mogadischu mit Hilfe seiner Tante und seiner Stammesangehörigen erreichen werde.
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Mit Schriftsatz seines ehemaligen gesetzlichen Vertreters vom 24.08.2018, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhob der Kläger Klage gegen den Bescheid. In der mündlichen Verhandlung beantragte er zuletzt:
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.02.2018 (gemeint ist offenbar der 20.08.2018) wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung ließ er vortragen, die Ablehnung des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stütze sich einerseits auf die mangelnde Glaubwürdigkeit des Sachvortrags des Klägers sowie darauf, dass innerstaatliche Fluchtalternativen bestünden. Beide Argumente seien zurückzuweisen. Bezüglich der Glaubwürdigkeit lasse die Beklagte außer Acht, dass es sich bei dem Kläger um einen Minderjährigen aus einfachen Verhältnissen ohne nennenswerte Schulbildung handle, der zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse, die sich 2,5 Jahre vor seiner Anhörung ereignet hätten, erst 14 Jahre alt gewesen sei. Als solcher habe er nie gelernt, längere Vorträge schlüssig und detailreich zu halten, was zu Vereinfachungen im Sachvortrag geführt habe. Zudem habe der Kläger damals auf gewaltsame Weise seinen Vater verloren und sei ebenfalls gewaltsam in die fluchtauslösende Situation, die Gefangenschaft in einem Ausbildungslager der Al-Shabaab, gebracht worden. Bei sachgerechter Würdigung dieser Umstände könne der Maßstab, der an den Detailreichtum des Sachvortrages angelegt werde, nicht so hoch sein, zumal der Kläger die ungefähre Uhrzeit der Entführung sowie die Dauer des An- bzw. Rückmarsches angegeben habe. Der anhörende Entscheider habe zu keiner Zeit erkennen lassen, dass es dem Sachvortrag an Einzelheiten mangele. Nachfragen seien allgemein gehalten gewesen. Angesichts der geschilderten Umstände hätte der Kläger gezielt nach Details gefragt werden müssen. Auch habe das Bundesamt in ähnlich gelagerten Fällen bereits bei deutlich dürftigeren Vorträgen einen Schutzstatus gewährt. Um die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes werde ersucht. Bezüglich der innerstaatlichen Fluchtalternativen sei zu entgegnen, dass Mogadischu im konkreten Fall des Klägers mittlerweile nicht mehr geeignet sei, diesem eine Lebensgrundlage zu bieten. Die Tante, die den Kläger bei der Flucht unterstützt habe, sei vor kurzem verstorben, worüber der Kläger über einen Messenger-Dienst informiert worden sei. Zudem werde nunmehr mitgeteilt, dass der Kläger inzwischen den Mut gefunden habe, seine Homosexualität zu offenbaren. Diese in seinem Kulturkreis sehr problematische Orientierung habe er bislang verschwiegen, weil er sich geschämt habe und negative Reaktionen in seinem Wohnumfeld gefürchtet habe. Auch jetzt habe er sich nur einigen wenigen Personen anvertraut. Bei einer Rückkehr nach Somalia drohe dem Kläger bei Bekanntwerden seiner sexuellen Orientierung selbst nach offiziellen Gesetzen eine Freiheitsstrafe. Der Kläger wolle seine sexuelle Orientierung ausleben und sehe sich außer Stande, sie zeitlebens zu unterdrücken.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 30.08.2018,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 25.08.2020 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 18.09.2020 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht kann trotz des Nichterscheinens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 1 und 2 VwGO).
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist die Verpflichtung der Beklagten auszusprechen, dem Kläger gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil die Ablehnung seines entsprechenden Antrags rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Soweit der Bescheid vom 20.08.2018 dem entgegensteht (Ziffern 1, 5 und 6), ist er gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Ziffer 2 des Bescheides vom 20.08.2018 ist nicht klagegegenständlich, weil die Verpflichtung der Beklagten, den Kläger gemäß Art. 16a Abs. 1 GG als Asylberechtigten anzuerkennen, nicht beantragt wurde. Die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG und zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG war entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 19.04.2018 - 1 C 29/17, juris Rn. 45) nur hilfsweise zu beantragen, sodass eine Entscheidung über Ziffern 3 und 4 des Bescheides vom 20.08.2018 nicht zu treffen ist.
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1. Dem Kläger steht ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 bis 3e AsylG zu.
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Nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt.
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Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b); als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 lit. d Qualifikationsrichtlinie gefunden hat.
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Eine Verfolgung i. S. v. § 3 Abs. 1 AsylG liegt nach § 3a AsylG bei Handlungen vor, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1959 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des Abs. 1 können unter anderem gemäß § 3a Abs. 2 AsylG die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Dabei muss zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen.
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Eine solche Verfolgung kann nach § 3c AsylG nicht nur vom Staat ausgehen (Nr. 1), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
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In Bezug auf eine Verfolgung wegen Homosexualität hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Homosexualität als sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a AsylG darstellt, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Eine bestimmte soziale Gruppe stellen Homosexuelle dann dar, wenn sie in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgrenzbare Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG (vgl. EuGH, U. v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - juris Rn. 41 ff., und vom 25.1.2018 - C-473/16 - juris Rn. 30).
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Dabei erlaubt das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung, dass diese Personen von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Zwar stellt allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung dar. Sind hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafe bedroht und werden diese Strafen auch tatsächlich verhängt, so ist dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar.
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Die für die Prüfung des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuständigen Behörden können nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, U. v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - juris Rn. 41 ff.).
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Gemessen an diesen Grundsätzen befindet sich der Kläger gemäß § 3 Abs. 1 AsylG aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes Somalia und kann dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen, weil er zur sozialen Gruppe der Homosexuellen gehört, die in Somalia eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden und, wenn sie ihre Homosexualität nicht geheim halten, Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 und Abs. 2, insbesondere Nrn. 1 und 3 AsylG seitens des somalischen Staates und nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c AsylG ausgesetzt sind.
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Der Kläger hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung, seine sexuelle Orientierung als Homosexueller glaubhaft geschildert. Das Gericht hat bei der gebotenen richterlichen Beweiswürdigung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger tatsächlich homosexuell veranlagt ist und seine homosexuelle Ausrichtung zwischenzeitlich in Deutschland auch auslebt. Seine homosexuelle Ausrichtung ist für den Kläger auch so bedeutsam, dass er nicht gezwungen werden kann, sie künftig geheim zu halten. Der Kläger hat in Somalia auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit mit Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG zu rechnen.
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a. Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung anschaulich und glaubhaft seine Homosexualität dargelegt. Dabei konnte sich die Einzelrichterin gerade auch aufgrund der nicht verbalen Elemente während der informatorischen Anhörung des Klägers, wie seiner Körpersprache, Gestik und Mimik, davon überzeugen, dass der Kläger die Homosexualität nicht lediglich aus asyltaktischen Gründen vorgebracht hat.
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Zwar konnte der Kläger zunächst nicht anschaulich darlegen, wann und wie er erstmals bemerkt hatte, auf Männer zu stehen, sondern gab lediglich relativ knapp an, schon seit seiner Kindheit auf Männer zu stehen; bemerkt habe er dies im Alter von ca. 14 Jahren. Jedoch wurden seine Angaben im Laufe der mündlichen Verhandlung - wohl auch aufgrund des zwischenzeitlich zu der Einzelrichterin und dem somalischen Dolmetscher gefassten Vertrauens - deutlich klarer und überzeugender. So konkretisierte er etwa seine Angaben zu seiner Gefühlswelt in Somalia dahingehend, dass es bereits dort einen Jungen gegeben habe, zu dem er sich besonders hingezogen gefühlt habe. Das Thema Sexualität sei zwar allgemein stark tabuisiert gewesen, gelegentlich habe es aber unter Freunden schon entsprechende Gespräche gegeben. Wirklich gewusst, dass er homosexuell ist, habe er damals noch nicht. Wenn er sich allerdings vorgestellt habe, Geschlechtsverkehr zu haben, so sei das - anders als bei seinen Freunden - immer mit einem Mann gewesen. Er habe niemanden gehabt, dem er sich habe anvertrauen können, und deshalb seine Homosexualität versteckt. Dass noch weitergehende Ausführungen des Klägers zu seiner Situation im Heimatland nicht erfolgten, erscheint vor dem Hintergrund, dass er bereits im Februar 2016, und damit im Alter von nur etwas über 14 Jahren, Somalia verließ, nachvollziehbar. Seine Sexualität dürfte für ihn dort wohl aufgrund seines Alters noch nicht die Bedeutung gehabt haben, die sie bei dem inzwischen erwachsenen Kläger nun einnimmt, zumal er angab, erst vor ca. zwei Jahren in Deutschland gemerkt zu haben, wirklich ausschließlich auf Männer zu stehen. Auch letzteres erscheint angesichts dessen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt erst 16 Jahre alt war, durchaus plausibel.
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Sehr stringente und lebensnahe Ausführungen machte der Kläger zu seinen Erfahrungen in Bezug auf seine Homosexualität hier in Deutschland. So schilderte er, dass es ihm, als er bemerkt habe, homosexuell zu sein, zunächst nicht gut gegangen sei. Dies sei seinem ehrenamtlichen Betreuer aufgefallen, woraufhin ihm der Kläger von seiner Homosexualität erzählt habe. Mit Begeisterung sprach der Kläger davon, wie positiv sein Betreuer reagiert und wie er ihn ermutigt habe, sodass er sich schließlich auch seinem Vormund anvertraut habe. Allerdings habe er keinen weiteren Personen in seinem Umfeld von seiner Homosexualität erzählt, da er nach wie vor Angst vor einer schlechten Reaktion habe. Auch dies erscheint angesichts des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung sehr plausibel. Denn auch während des Gesprächs mit der Einzelrichterin war zu spüren, wie der Kläger sich bei der Beantwortung einzelner Fragen häufig zunächst offenbar schämte und nur zögerlich antwortete, obwohl er die Antworten (beispielsweise zu der Frage, wie die Website heißt, über die er seinen aktuellen Freund kennengelernt hatte) ganz offensichtlich ohne nachdenken zu müssen kannte.
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Glaubhaft, da sehr lebensnah, waren auch die Erzählungen des Klägers zu dem Mann, mit dem er sich aktuell häufiger trifft. So war es ihm etwa wichtig, zu betonen, dass zwischen den beiden noch keine richtige Beziehung bestehe, er sich eine solche aber vorstellen könnte und er mit seinem Freund auch schon darüber gesprochen habe. Der Kläger schilderte gemeinsame Aktivitäten mit dem Freund, wie Spaziergänge und Cafébesuche, wie sie den normalen Unternehmungen eines Paares in der Kennenlernphase entsprechen. Zum Geschlechtsverkehr sei es bisher einmal gekommen. Er selbst wünsche sich grundsätzlich auch Kinder und könne sich vorstellen, später einmal gemeinsam mit seinem Partner eines zu adoptieren. Hierüber habe er mit seinem Freund jedoch noch nicht gesprochen. All diese Angaben wirkten schlüssig; insbesondere übertrieb der Kläger hinsichtlich seines Beziehungsstatus und seiner sexuellen Aktivitäten nicht, sondern schilderte vielmehr realistisch eine für einen knapp 19-jährigen jungen Mann altersentsprechende beginnende Partnerschaft.
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Der Kläger konnte darüber hinaus Auskunft geben über die Lage für Homosexuelle in seinem Heimatland, wobei er Kenntnisse auch zu aktuellen politischen Entwicklungen diesbezüglich aufwies. Er zeigte sich ferner darüber informiert, wo er in seiner Umgebung Kontakt zu Homosexuellen aufnehmen kann, wobei es angesichts der Affinität Jugendlicher zu sozialen Netzwerken etc. plausibel erscheint, dass der Kläger hier primär das Datingportal „Romeo“ nannte, über das er schon mit mehreren Personen in … geschrieben habe.
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Dem Kläger gelang es in der mündlichen Verhandlung auch, nachvollziehbar zu erläutern, warum er in seiner Anhörung vor dem Bundesamt im Juni 2018 noch nicht über seine Homosexualität gesprochen hatte. Er gab hierzu an, damals noch Angst gehabt und seine Homosexualität versteckt zu haben. Erst später habe er den Mut gefunden, seinem ehrenamtlichen Betreuer und - nachdem dieser sehr positiv reagiert hatte - auch seinem Vormund davon zu erzählen. In Anbetracht des Umstands, dass der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt erst 16 Jahre alt war, verwundert dieses Verhalten in der Tat nicht. So stellt es schon für in Deutschland aufgewachsene Jugendliche häufig eine Herausforderung dar, über ihre eigene Sexualität in ernsthafter und offener Art und Weise zu sprechen, zumal wenn sich diese außerhalb der - vermeintlichen - „Norm“ befindet. Entsprechend dürfte dies für einen Jugendlichen aus einem Land, in dem Sexualität im Allgemeinen eher ein Tabuthema darstellt, erst recht schwierig sein, zumal der Kläger, der zu diesem Zeitpunkt erst seit ca. einem Jahr in Deutschland lebte, wohl auch noch keine besonderen Erfahrungen mit dem Umgang der deutschen Gesellschaft gegenüber Homosexuellen gemacht haben dürfte. Hinzu kommt, dass der Kläger nach seinen Angaben auch erst etwa in diesem Zeitraum für sich selbst die Sicherheit erlangte, homosexuell zu sein, was es nachvollziehbar macht, dass es zum Zeitpunkt seiner Anhörung beim Bundesamt auch gegenüber seinem Vormund noch nicht zu einem „Outing“ gekommen war. Die Erläuterung des Klägers erscheint darüber hinaus auch deshalb plausibel, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt angab, sein Heimatland wegen seiner sexuellen Orientierung verlassen zu haben. Vielmehr gab er an, erst in Deutschland die endgültige Überzeugung gewonnen zu haben, homosexuell zu sein und seine Neigung in Somalia vor Freunden und Familie geheim gehalten zu haben. Vor diesem Hintergrund dürfte es aus Sicht des Klägers auch keine konkrete Veranlassung gegeben haben, über seine gerade erst entdeckte Sexualität zu sprechen.
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b. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit repressiven Maßnahmen von Vertretern des somalischen Staates, Mitgliedern der Al-Shabaab bzw. von Privatpersonen zu rechnen hätte, sofern er seine Homosexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger nicht zuzumuten, in sein Heimatland zurückzukehren.
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Homosexuellen droht in Somalia nach den überzeugenden Angaben des Klägers, die mit den Informationen aus den vorliegenden Erkenntnisquellen übereinstimmen, flüchtlingsrelevante Verfolgung.
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Das Auswärtige Amt führte hierzu im Lagebericht zu Somalia vom 02.04.2020, Seite 17, folgendes aus: „LGBTI-Fragen sind in ganz Somalia tabuisiert. Gleichgeschlechtlicher Verkehr wird nach § 409 des somalischen Strafgesetzbuches mit Gefängnisstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren bestraft; die Scharia und das Gewohnheitsrecht sehen hierfür sogar die Todesstrafe vor. Da das staatliche Rechtssystem nicht funktioniert, viele strafrechtliche Fragen durch Clan-Entscheidungen geregelt werden und es sich um ein gefährliches Tabuthema handelt, liegen keiner Erkenntnisse über die tatsächliche strafrechtliche Verfolgungspraxis vor. Die Betroffenen sind unter diesen Umständen dazu gezwungen, ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität geheim zu halten.“
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Diese Erkenntnisse decken sich auch mit den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, der angab, seiner Familie in Somalia bis heute nichts von seiner Homosexualität erzählt zu haben, da diese dann von ihm Abstand nehmen würde. Er gehe zudem davon aus, dass er in Somalia, hätten die Nachbarn oder die nähere Umgebung von seiner Homosexualität erfahren, getötet worden wäre. Nach seinen Kenntnissen gebe es keine Homosexuellen in Somalia, die über ihre sexuelle Identität offen sprechen würden, da dies zu gefährlich sei. Er habe gehört, dass ein homosexueller Mann, der von Al-Shabaab erwischt worden sei, mitgenommen worden und seitdem verschollen sei.
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Tatsächlich werden auch nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten Urteile häufig nach traditionellem Recht von Clan-Ältesten gesprochen. In von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig grausame Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt wie Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebe, Hinrichtungen für Ehebruch sowie der Opfer von Vergewaltigungen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Somalia vom 02.04.2020, Seite 13). Homosexualität ist ein Tabuthema, das damit einhergehende soziale Stigma hindert Angehörige sexueller Minderheiten, ihre sexuelle Identität öffentlich zu machen. Homosexuelle leben unter ständiger Angst, im Falle der Entdeckung geächtet, ausgepeitscht oder sogar getötet zu werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 17.09.2019, Seite 102).
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Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner sexuellen Identität in Somalia zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gehört und ihm aufgrund dessen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 und Abs. 2, insbesondere Nrn. 1 und 3 AsylG seitens des somalischen Staates und nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c AsylG drohen. Er hat glaubhaft gemacht, homosexuell zu sein und seine Homosexualität aktuell auch auszuleben. Ihm kann nicht zugemutet werden, bei einer Rückkehr seine sexuelle Identität zu verheimlichen oder Zurückhaltung zu üben.
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Ob dem Kläger darüber hinaus auch aus den bereits vor dem Bundesamt sowie auch erneut in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Gründen - insbesondere wegen seiner Flucht nach einer versuchten Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Herkunftsland drohen würde, kann angesichts dessen hier dahinstehen.
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Dem Kläger ist nach alledem die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und der angefochtene Bescheid in seinen Ziffern 1 und 3 bis 6 aufzuheben. Die Ausreiseaufforderung nach § 38 Abs. 1 AsylG und die Abschiebungsandrohung waren aufzuheben, weil sie aufgrund der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen. Ziffer 3, 4 und 6 des Bundesamtsbescheides sind aus Gründen der Klarstellung aufzuheben.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.