Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 22.10.2020 – AN 17 K 19.51146
Titel:

zur Durchbrechung der Rechtskraft eines Urteils durch neue, erhebliche Tatsachen

Normenketten:
VwGO § 121
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 lit. a
Leitsatz:
Die Rechtskraftwirkung eines Urteils nach § 121 VwGO endet, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den damals gegebenen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
begründete Anfechtungsklage gegen Unzulässigkeitsbescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG mit dem Zielland, Ungarn wegen entgegenstehender Rechtskraft eines sachgleichen verwaltungsgerichtlichen Urteils, materielle Rechtskraft, Streitgegenstand, Abschiebungsanordnung, Abschiebungsverbot, Ungarn, sicherer Drittstaat
Fundstelle:
BeckRS 2020, 40014

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. November 2019 wird aufgehoben.
2.Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 22. November 2019, der als Unzulässigkeitsbescheid mit dem Rückführungszielland Ungarn ergangen ist.
2
Die am … 1994 in … … geborene Klägerin ist äthiopische Staatsangehörige amharischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste eigenen Angaben zufolge am 14. Dezember 2012 in die Bundesrepublik Deutschland auf dem Landweg aus Ungarn kommend ein und stellte sodann am 27. Dezember 2012 einen Asylantrag. Der Antrag wurde unbeschränkt gestellt (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Persönliche Dokumente konnte die Klägerin nicht vorlegen. Sie gab an, in ihrem Heimatland eine Geburtsurkunde und einige Schulzeugnisse zu besitzen, ihr Heimatland jedoch als Minderjährige ohne Personaldokumente verlassen zu haben. Mit ihrem Lebensgefährten (dem Kläger im Verfahren AN 17 K 19.51160) habe sie Mitte April 2012 einen Asylantrag in Ungarn gestellt. Weiter gab die Klägerin zum Zeitpunkt der damaligen Befragung an, im sechsten Monat schwanger zu sein. Sie habe in ihrem Heimatland elf Jahre lang die Grund- und Hauptschule besucht und spreche neben Amharisch auch Englisch. Sie sei erwerbslos gewesen und habe auch keinen Beruf erlernt. In Ungarn habe sie sich von Anfang April bis ca. Mitte November 2012 aufgehalten.
3
Mit Schriftsatz vom 10. September 2013 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin dem Bundesamt mit, die Klägerin sei Mutter eines Kindes und der Kindsvater sei inzwischen ebenfalls nach Deutschland gekommen und habe hier einen Asylantrag gestellt (Kläger im Verfahren AN 17 K 19.51160). Am 17. September 2013 erreichte das Bundesamt ein Schreiben der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. … aus …, das Bezug nimmt auf den Antrag der Klägerin auf Familienzusammenführung. Die Ärztin führt aus, sie sei seit dem 10. Juli 2013 die behandelnde Ärztin der Klägerin. Die Klägerin leide an einer sehr schweren depressiven Erkrankung. Sie habe ihre gesamte Familie in Äthiopien verloren und leide unter der Einsamkeit und der Sprachbarriere. Die Klägerin habe große Probleme, ihr Kind ohne Hilfe einer Bezugsperson großzuziehen. Die Klägerin benötige dringend Beistand und die persönliche Anwesenheit des Kindsvaters. Es werde aus dringender medizinischer Indikation appelliert, die Familie alsbald in … zusammenzuführen. Anderenfalls wären die eintretenden psychischen Folgen u.U. irreversibel. Die Regierung von Mittelfranken wies die Klägerin mit Bescheid vom 22. Oktober 2013 der Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in … zu.
4
Am 5. Dezember 2013 stellte das Bundesamt an Ungarn ein Wiederaufnahmeersuchen aufgrund einer EURODAC-Treffermeldung für die Klägerin nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO). Zugleich teilte es dem Bevollmächtigten der Klägerin mit, dass ein Dublin-Verfahren eingeleitet worden sei. Am 13. Februar 2014 erinnerte das Bundesamt die ungarischen Behörden an die Beantwortung des Wiederaufnahmegesuchs. Daraufhin übersandten die ungarischen Behörden ein unter dem 16. Dezember 2013 verfasstes Schreiben, das nachweislich am 18. Dezember 2013 auf dem Email-Server der deutschen Dublin-Einheit eingegangen war, worin die Übernahme der Klägerin abgelehnt wurde. Die ungarischen Behörden teilten mit, der Klägerin sei bereits am 4. September 2012 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und ein Reisedokument ausgestellt worden. Das Ergebnis der Anfrage teilte das Bundesamt der zuständigen Ausländerbehörde mit und bat darum, von dort das Einverständnis Ungarns für eine Rücküberstellung einzuholen. Es wurde sodann der Erlass einer Abschiebungsanordnung nach Ungarn auf Grundlage des § 34a AsylVfG in Aussicht gestellt.
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Am 8. April 2014 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin dem Bundesamt mit, die Klägerin habe Ungarn verlassen, weil es für sie nicht sicher gewesen sei, in hochschwangerem Zustand auf der Straße in Obdachlosigkeit zu leben. Im Übrigen leide die Klägerin an psychischen Problemen. Die Klägerin habe massive Angst vor sexueller Gewalt in Ungarn. Die Klägerin befinde sich in fachärztlicher Behandlung bei Frau Dr. … in … Ein entsprechendes Attest der Ärztin legte der Bevollmächtigte dem Bundesamt vor.
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Mit Schreiben vom 23. Juli 2014 teilte die zuständige Ausländerbehörde mit, die Zustimmung Ungarns zur Rücküberstellung der Klägerin liege vor.
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Erstmals stellte das Bundesamt in der Folge mit Bescheid vom 24. Oktober 2014 fest, dass der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zustehe und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. In den Gründen dieses Bescheids führt das Bundesamt aus, die Klägerin sei aus Ungarn, einem sicheren Drittstaat, eingereist und könne sich daher nicht auf das Asylrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG berufen. Ausnahmen nach § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG lägen nicht vor. Da der Asylantrag nur nach § 26a Abs. 1 AsylVfG abgelehnt und die Abschiebung in den sicheren Drittstaat angeordnet werde, sei gemäß § 31 Abs. 4 AsylVfG lediglich festzustellen, dass der Klägerin kein Asylrecht zustehe. Über Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG sei nicht zu entscheiden.
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Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten am 30. Oktober 2014 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach (Verfahren AN 14 K 14.50179, später AN 3 K 14.30866) und stellte einen Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Verfahren AN 14 S 14.50178, später AN 3 S 14.30865). Im Verfahren legte der Bevollmächtigte der Klägerin ein weiteres fachärztliches Attest der Ärztin Frau Dr. … vor (Bl. 144 f. d. Bundesamtsakte). Die Ärztin bescheinigte der Klägerin zum aktuellen psychischen Befund ein ausgeprägtes depressives Syndrom nach der Kategorie ICD F32.2 und F53.0 sowie eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen, depressiven und narzisstischen Zügen nach der Kategorie ICD F61. Es bestehe eine latente Suizidalität.
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Mit Beschluss vom 19. November 2014 im Verfahren AN 3 S 14.30865 (betreffend die Klägerin) und AN 3 S 14.30873 (betreffend das Kind der Klägerin) ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die Abschiebungsanordnung an. In den Gründen wird ausgeführt, dass das Bundesamt wohl zu Recht hinsichtlich der Antragsteller festgestellt habe, dass diesen in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zustehe. Als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Abschiebungsanordnung sei jedoch zu prüfen, ob die Abschiebung durchgeführt werden könne. Daran fehle es nach summarischer Prüfung, weil für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf deren seit Längerem bestehende psychische Erkrankung vorliege, wegen der sich die Klägerin auch in fortdauernder Behandlung befinde. Für die Klägerin ergebe sich eine Transport- und Reiseunfähigkeit. Es sei schwer vorstellbar, dass der Klägerin in Ungarn eine entsprechende Behandlungsmöglichkeit im notwendigen Rahmen offenstehe. Jedenfalls würde eine Abschiebung zum derzeitigen Beurteilungszeitpunkt zu einer ernsthaften Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin nach dem vorgelegten fachärztlichen Gutachten führen. Für das Kind der Klägerin sei Abschiebungsschutz bereits deshalb zu gewähren, weil der im … 2013 geborene Antragsteller nicht ohne seine Mutter nach Ungarn abgeschoben werden könne.
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In den Hauptsacheverfahren gab die damals zuständige Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach den Klagen mit Urteil vom 10. November 2015 statt und hob die Bescheide des Bundesamtes auf. In den Entscheidungsgründen führt die Kammer aus, dass die gesundheitliche Einschätzung für die Klägerin sich unter Berücksichtigung eines in der mündlichen Verhandlung vorgelegten weiteren Attestes gegenüber dem Entscheidungszeitpunkt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht verbessert habe. Darüber hinaus lägen im Fall der Klägerin auch systemische Mängel des seit 1. Juli 2013 gültigen Asylsystems in Ungarn zugrunde. Das ungarische Asylsystem sehe eine umfassende Begründung für die Inhaftierung von Asylbewerbern vor. Dies treffe vor allem erwachsene Personen mit minderjährigen Kindern bzw. Kleinkindern. Von der Inhaftierungsmöglichkeit werde in Ungarn nahezu flächendeckend Gebrauch gemacht. In der Haft bestünden unzureichende hygienische Verhältnisse. Vorführungen zu Krankenhäusern oder zur Post würden oft im gefesselten Zustand realisiert. Anhaltspunkte, dass solche Haftbedingungen bei der Inhaftierung von Kindern signifikant anders gehandhabt würden, seien derzeit nicht erkennbar. Nach Auffassung des Gerichts bestehe daher ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Die Abschiebungsanordnungen seien somit aufzuheben gewesen. Auch die feststellende Regelung des Bundesamtes, wonach den Klägern in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zustehe, sei aufzuheben gewesen. Jedoch greife der in Ungarn gewährte Schutzstatus für die Klägerin aufgrund des bestehenden Abschiebungsverbotes nicht, so dass sich ein Verfahren ähnlich wie im Fall von § 27a AsylVfG/AsylG anschließen müsse, um den Schutzstatus der Kläger zu überprüfen.
11
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil wurde durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 24. November 2016 abgelehnt. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wurde unter Bezugnahme auf § 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG nicht weiter begründet.
12
Am 21. November 2017 beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin beim Bundesamt, einen Termin zur Anhörung der Klägerin anzuberaumen. Die Anhörung der Klägerin nach § 25 AsylG erfolgte am 21. März 2018. Hierbei gab sie im Wesentlichen an, mit Hilfe von Schleppern von Kenia nach Ungarn gekommen zu sein. Es sei alles ganz neu für sie gewesen und sie habe Angst gehabt. In Ungarn sei sie im April 2012 angekommen. Dort sei sie aufgegriffen worden. Es sei ihr nicht viel von den dortigen Behörden erklärt worden. Eine Anhörung habe es aber gegeben. Nach einem halben Jahr in Ungarn sei sie aufgefordert worden, das Camp zu verlassen. Da sei sie im vierten oder fünften Monat schwanger gewesen. Eine Gerichtsverhandlung habe sie in Ungarn nicht gehabt. Im Camp habe sie ihren Koffer mit verschiedenen Unterlagen zurückgelassen. Ihren Lebensgefährten habe sie in Ungarn kennengelernt. Weiter gab die Klägerin an, ihr Kind sei gesund. Nach Ungarn könne sie mit ihrem Kind nicht zurückkehren. Dort sei die Lage so schlimm gewesen, dass sie damals auch über Abtreibung nachgedacht habe. Ihre eigene Erkrankung habe sich schon in Äthiopien gezeigt. Sie befinde sich noch immer in ärztlicher Behandlung. In Deutschland bemühe sie sich um Integration und lege zur Bestätigung ihrer Leistungen entsprechende Schulzeugnisse und Zertifikate vor.
13
Am 31. Oktober 2019 stellte das Bundesamt an die ungarischen Behörden ein Informationsersuchen nach Art. 34 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Hierauf antworteten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 8. November 2019 und teilten mit, der Asylrechtsstatus der Klägerin in Ungarn sei unverändert und bestehe fort.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 22. November 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.), drohte die Abschiebung - in erster Linie - nach Ungarn an und forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen einer Frist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und stellte fest, dass die Klägerin nicht nach Äthiopien abgeschoben werden dürfe (Ziffer 3.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt erstmals auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Schließlich setzte das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aus (Ziffer 5.). Zu den Gründen führt die Beklagte im Wesentlichen aus, die Unzulässigkeit des Asylantrages ergebe sich aus § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, da der Klägerin bereits in Ungarn internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Abschiebungsverbote lägen unter Beachtung des neuesten ärztlichen Attestes für die Klägerin vom 15. März 2018 nicht vor. Zum einen seien die Umstände für anerkannt Schutzberechtigte in Ungarn mit denen von ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. Integrationsunterstützung werde im Rahmen eines Integrationsvertrages gewährt. Dabei sei ein Grundeinkommen für den Schutzberechtigten vorgesehen und weitere Unterstützungsleistungen durch Sozialarbeiter des örtlich zuständigen Sozialdienstes für Familien und auch kirchlicher Einrichtungen. Die Unterbringungsbedingungen hätten sich verbessert und erfolgten nunmehr dezentral. Es werde ein Aufenthaltstitel mit Gültigkeit für die Dauer von zehn Jahren ausgestellt. Die Beschäftigungsquote habe in Ungarn zur Jahresmitte 2017 den höchsten Stand seit Anfang der 1990er Jahre erreicht. Der Trend zeige in Richtung einer weiter sinkenden Arbeitslosenzahl. Für Kinder werde Kindergeld und Kindergartenunterstützung gewährleistet. Es gebe für sozial Schwache auch Naturalleistungen (kostenlose Schulverpflegung, Hilfe zum Kauf von Schulmaterialien etc.). Bei entsprechender Eigeninitiative der Klägerin könne diese somit eine Situation extremer materieller Not vermeiden und die elementarsten Bedürfnisse befriedigen. Soweit das Verwaltungsgericht Ansbach in seinem rechtskräftigen Urteil vom 10. November 2015 noch davon ausgegangen sei, die Klägerin könne bei einer Rückkehr nach Ungarn inhaftiert werden, sei diese Feststellung durch aktuelle Erkenntnisse widerlegt. Insoweit sei die Bindungswirkung der Rechtskraft des Urteils überwunden. Die im ungarischen Asylgesetz vorgesehenen Inhaftierungsmöglichkeiten zielten allein auf Asylbewerber. Dass Haft auch bei anerkannt Schutzberechtigten, die nach Ungarn zurückkehren, angewandt würde, ergebe sich aus den Erkenntnismitteln nicht. Die Klägerin sei jung und arbeitsfähig. Es sei zu vermuten, dass ihr die Sicherung ihres Lebensunterhaltes auch bei einer unterstellten gemeinsamen Rückkehr mit ihrem Kind und ihrem Lebensgefährten gelingt. Darüber hinaus drohe der Klägerin keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine psychische Erkrankung habe die Klägerin bereits nicht ausreichend nachgewiesen. Eine solche liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung verschlechtern würden. Das vorgelegte ärztliche Attest genüge insoweit nicht den Anforderungen an eine entsprechende Darlegung, da es die Methoden der Tatsachenerhebung nicht benenne und vermuten lasse, dass die Angaben der Klägerin lediglich unhinterfragt wiedergegeben werden. Jedoch sei bei einer Wahrunterstellung einer gravierenden psychischen Erkrankung von einer Behandlungsfähigkeit in Ungarn auszugehen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die den Bescheid tragenden Feststellungen und Gründe Bezug genommen. Dem Bescheid beigegeben war eine Rechtsbehelfsbelehrung:mit der Möglichkeit der Klageerhebung binnen zwei Wochen ab Zustellung des Bescheids. Ein Nachweis über die Zustellung des Bescheides ist der Bundesamtsakte nicht zu entnehmen.
15
Mit Telefaxschreiben vom 29. November 2019 erhob der Bevollmächtigte der Klägerin gegen diesen Bescheid, der am 28. November 2019 in der Kanzlei eingegangen war, Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Er trägt zur Begründung vor, die Beklagte habe bereits einen inhaltlich identischen Bescheid am 24. Oktober 2014 erlassen, der mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. November 2015 aufgehoben worden sei. Das benannte Urteil führe aus, dass im Falle der Klägerin sowohl zielstaatsbezogene als auch inlandsbezogene Abschiebungsverbote vorlägen. Die Rechtskraft des Urteils stehe dem nunmehr angefochtenen Bescheid entgegen.
16
Der Klägerbevollmächtigte trug mit Schriftsatz vom 24. März 2020 noch zur Klagebegründung vor und legte ein weiteres fachärztliches Attest der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. … aus … mit Datum vom 24. Januar 2020 sowie eine Kopie des Mutterpasses der Klägerin vor, aus dem sich eine Schwangerschaft mit berechnetem Entbindungstermin am 4. Juli 2020 entnehmen lässt. Ergänzend wird für die Klägerin vorgetragen, sie lebe mit ihrem Lebensgefährten und dem gemeinsamen Kind auch in Deutschland zusammen und sei erneut schwanger. Die Klägerin sei trotz ihrer psychischen Erkrankung ausweislich der vorgelegten Zeugnisse bereits gut integriert. Das Bundesamt habe in einem Aktenvermerk den Selbsteintritt empfohlen, was aber wohl ausgeblieben sei. Es liege für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor. Es bestehe ein ernsthaftes Risiko, dass die Klägerin in Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werde. Auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-163/17 (Urteil vom 19. März 2019) werde Bezuge genommen. Die Klägerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Somatisierungsstörung und wenigstens an einer mittelgradigen, zeitweise schweren depressiven Episode und Anpassungsstörung. Außerdem habe sie eine Form der multiplen Sklerose mit schubförmigen Verlauf. Diese Erkrankungen seien im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG zu beachten. Die Klägerin sei besonders verletzlich. Eine Bewältigung des Alltages sei der Klägerin nur bei der durch Frau Dr. … empfohlenen Behandlung möglich. Die Klägerin habe in Ungarn keinen Anspruch auf eine staatliche Basisgesundheitsversorgung, da sie bereits im Jahr 2012 als Flüchtling anerkannt worden sei. Die Basisgesundheitsversorgung bestehe jedoch nur für sechs Monate nach der Anerkennung. Auch sei höchst fraglich, ob eine solche Basisversorgung eine psychologische Behandlung abdecke. Die vom Bundesamt vorgetragene Regelung zum Integrationsvertrag existiere nicht mehr. Die Klägerin wäre auch nicht anspruchsberechtigt. Ungarn habe mit Gesetz vom 1. April 2016 und vom 1. Juni 2016 sämtliche Unterstützungsleistungen für anerkannt Schutzberechtigte eingestellt. Der Erhalt einer Gesundheitskarte in Ungarn sei vom Bestehen einer Meldeadresse abhängig, die in der Praxis bei Betroffenen nur mit erschwert überwindbaren Hürden zu erhalten sei. Die Klägerin sei mittellos und zum heutigen Zeitpunkt nicht arbeitsfähig. Sie werde schon aufgrund ihrer Erkrankung keine Arbeit finden. Es bedürfe überdies einer Wohnung für eine bald vierköpfige Familie, die nicht zu finden sei. Es drohe daher Obdachlosigkeit und Verelendung. Es werde auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 12. September 2019 zum Verfahren AN 17 K 18.50263 Bezug genommen. Es gebe für Rückkehrer in Ungarn keine staatlichen Unterstützungsleistungen bzw. werden soziale Leistungen erst nach mindestens einem Jahr sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit gewährt. Der Klägerin drohe eine schwere Retraumatisierung. Es liege für die Klägerin im Ergebnis auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor. Die psychische Erkrankung der Klägerin erweise sich als lebensbedrohlich und schwerwiegend, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Eine Abschiebung sei ferner rechtlich wegen des Rückübernahmeabkommens zwischen Ungarn und der Beklagten (BGBl. II 1999, S. 90) nicht möglich, da die Übernahmefrist von drei Monaten nach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 des Abkommens abgelaufen und nicht verlängert worden sei. Schließlich habe das Bundesamt öffentlich mitgeteilt, dass coronabedingt keine Überstellungen aufgrund der Dublin III-VO mehr stattfänden.
17
Der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung beantragt,
1. Der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2019 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für die Klägerin festzustellen.
18
Die Beklagte erwiderte mit Schriftsatz vom 5. Dezember 2019 und beantragte,
die Klage abzuweisen.
19
Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid unter Bezugnahme auf dessen Gründe.
20
Der Klägerbevollmächtigte hat für die Klägerin mit bei Gericht am 31. August 2020 eingegangenem Schriftsatz einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung gestellt und formgerecht die Erklärung der Klägerin zu ihren persönlichen und wirtschaftlichen Unterlagen nebst Berechungsbogen für den Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beigefügt. Aus der Erklärung der Klägerin geht hervor, dass diese am … 2020 Mutter eines weiteren Kindes geworden ist.
21
Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die in Papierform vorgelegte Behördenakte sowie für den Gang der am 22. Oktober 2020 stattgefundenen mündlichen Verhandlung auf die dazu gefertigte Niederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet, denn der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2019 ist im maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Bescheid war daher aufzuheben.
23
1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO gegen Ziffer 1. des Bescheids vom 22. November 2019 sowie gegen die Abschiebungsandrohung (Ziffer 3.) und die Festsetzung und Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 4.) sowie als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf Zuerkennung von nationalen Abschiebungsverboten (Ziffer 2. des Bescheids) statthaft. Dabei legt das Gericht den Klageantrag zu 2. als Hilfsantrag zum Klageantrag zu 1. aus (§ 88 VwGO).
24
Nicht statthaft wäre in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation eine Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzstatus, mithin ein „Durchentscheiden“ des Gerichts über das Asylbegehren (so auch: BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 34/19 - BeckRS 2020, 15388 Rn. 10 ff., sowie dazu auch die ständige Kammerrechtsprechung, bspw. VG Ansbach, U.v. 5.3.2020 - 17 K 18.50411 - BeckRS 2020, 16127 Rn. 22 ff.). Einen solchen Antrag hat die Klägerin jedoch vorliegend nicht gestellt, so dass hierauf nicht vertiefend einzugehen ist.
25
Die Klägerin hat die Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 u. Abs. 1 AsylG mit der Klageerhebung gewahrt, was trotz des nicht aktenkundigen Zustellzeitpunktes aufgrund der Daten des Bescheids und seiner Übermittlung an den Klägerbevollmächtigten mit Schreiben vom 25. November 2019 feststeht. Dass die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung:aufgrund der Vollzugsaussetzung in Ziffer 5. des beklagten Bescheids die Klägerin auf die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG hinwies, die - ungeachtet der Frage ihrer Richtigkeit - jedenfalls auch eingehalten wurde, ist daher unerheblich. In jedem Fall eingehalten ist auch die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO, soweit man von einer unrichtig erteilten Rechtsbehelfsbelehrung:ausgeht (vgl. VG Ansbach, U.v. 7.9.2020 - AN 17 K 18.50545 - BeckRS 2020, 24951 Rn. 23).
26
Der Klägerin ermangelt es auch nicht am Rechtschutzbedürfnis für ihre Klage. Soweit die Klägerin selbst vortragen lässt, aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. November 2015 stehe einer (erneuten) Unzulässigkeitsentscheidung ihres Asylantrages jedenfalls die Rechtskraft jenes Urteils entgegen, sieht dies die Beklagte anders und hat insbesondere den hier streitgegenständlichen Bescheid mit der ausdrücklichen Begründung erlassen, die Rechtskraft des vorangegangenen Urteils binde sie im Einzelfall nicht mehr. Ob dies zutreffend ist, ist nach Auffassung der Kammer keine Frage des Rechtschutzbedürfnisses der Klage gegen einen weiteren Bescheid aufgrund desselben Lebenssachverhaltes (vgl. auch: NK-VwGO/Michael Kilian/Daniel Hissnauer, 5. Aufl. 2018, VwGO § 121 Rn. 75). Denn einerseits muss es der Klägerin aufgrund des verfassungsrechtlichen Gebots des effektiven Rechtsschutzes unbenommen bleiben, erneute rechtsgestaltende, belastende Verwaltungsakte „in derselben Sache“ auch im Klagewege einer Überprüfung zuführen zu können. Zum anderen ist die missbräuchliche Inanspruchnahme der Gerichte im vorliegenden Fall fernliegend. Die Klägerin hatte über ihren Bevollmächtigten nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 10. November 2015 um Durchführung ihres Asylverfahrens mit Anberaumung einer Anhörung ersucht und hat die Beklagte dem auch entsprochen - wenngleich auch mit der Folge des Erlasses eines Unzulässigkeitsbescheids nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, was nicht der Intention der Klägerin entsprochen haben dürfte. Da aber dieser weitere Bescheid unter Zugrundelegung einer Unzulässigkeitsnorm begründet wurde, die es im Zeitpunkt der Asylantragstellung der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland (nämlich am 27. Dezember 2012) und auch zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung und des verwaltungsgerichtlichen Urteils aus November 2015 noch nicht gab, erweisen sich der ursprüngliche Bescheid vom 24. Oktober 2014 - dessen Inhalt Grundlage des rechtskräftigen Urteils aus November 2015 war - und der nunmehr streitgegenständliche Bescheid nicht als in jeder Hinsicht offenkundig identisch. Damit im Zusammenhang stehende Rechtsfragen sind somit einer gerichtlichen Klärung vorbehalten und ist eine erneute Inanspruchnahme der Verwaltungsgerichte nicht missbräuchlich.
27
2. Der Bescheid der Beklagten ist in seiner Ziffer 1. bereits aufgrund der entgegenstehenden Rechtskraft des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. November 2015 im Verfahren AN 3 K 14.30866 aufzuheben. Die Beklagte war deswegen gehindert, bezüglich Ungarn einen auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützten Unzulässigkeitsbescheid zu erlassen.
28
a) Nach § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. In diesem Umfang tritt damit materielle Rechtskraft ein, d.h. der durch das Urteil ausgesprochene Inhalt ist in jedem Verfahren zwischen den Beteiligten bindend. Das Institut der materiellen Rechtskraft dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Es bezweckt, dass in einem neuen Verfahren keine dem rechtskräftigen Urteil widersprechende Entscheidung ergehen kann. Deshalb sind in einem späteren Prozess nicht nur die Beteiligten, sondern auch die Gerichte an das rechtskräftige Urteil gebunden (BVerwG, U.v. 22.9.2016 - 2 C 17/15 - NVwZ-RR 2017, 148 Rn. 9 m.w.N.).
29
Von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung der Rechtskraft und ihrer Reichweite ist der Streitgegenstand. Der Streitgegenstand besteht aus der erstrebten Rechtsfolge, die im Klageantrag zum Ausdruck kommt und dem Klagegrund, d.h. dem Sachverhalt, aus dem sie sich ergeben soll (zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff). Die Rechtskraft bindet deshalb auch, wenn und soweit sich die entschiedene Frage in einem späteren Verfahren mit einem anderen Streitgegenstand als (präjudizielle) Vorfrage stellt. Allerdings erfasst die inhaltliche Bindungswirkung aus § 121 VwGO nur die Entscheidung über den Streitgegenstand selbst, nicht aber die hierzu vorgreiflichen Rechtsverhältnisse oder Vorfragen. Diese können nur durch ein Zwischenfeststellungsurteil materielle Bindungswirkung erlangen (vgl. BVerwG, a.a.O.).
30
Ist eine Anfechtungsklage aus materiell-rechtlichen Gründen erfolgreich, wird mit der verbindlichen Feststellung des Nichtbestehens einer Befugnis der Behörde zum Erlass des Verwaltungsakts zugleich das generelle Verbot an die Behörde ausgesprochen, einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt bei unveränderter Sach- und Rechtslage zu erlassen, sog. Verwaltungsaktwiederholungsverbot (NK-VwGO/Michael Kilian/Daniel Hissnauer, 5. Aufl. 2018, VwGO § 121 Rn. 73). Das Gestaltungsurteil der Anfechtungsklage beinhaltet damit stets auch einen feststellenden Teil. Einer Zwischenfeststellung bedarf es dafür nicht. Die in dem Anfechtungsurteil enthaltene Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nimmt an der präjudiziellen Wirkung des Urteils teil (BVerwG, U.v. 7.8.2008 - 7 C 7/08 - NVwZ 2009, 120 Rn. 18). Für die Bestimmung der Reichweite der Rechtskraft eines Urteils, das aufgrund einer Anfechtungsklage ergeht, sind die Urteilsgründe maßgeblich (BayVGH, B.v. 10.03.2017 - 10 C 17.214 - BeckRS 2017, 105550).
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Die Rechtskraftwirkung eines Urteils nach § 121 VwGO endet, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den damals gegebenen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eine erneute Sachentscheidung gerechtfertigt ist. Der Zeitablauf allein stellt keine wesentliche Änderung der Sachlage dar. Mit zunehmender Dauer der seit dem rechtskräftigen Urteil verstrichenen Zeit besteht in asylrechtlichen Streitigkeiten zwar Grund für die Annahme, dass sich die entscheidungserhebliche Sachlage geändert haben könnte (BVerwG, U.v. 23.11.1999 - 9 C 16/99 - NVwZ 2000, 575; U.v. 18.9.2001 - 1 C 7/01 - NVwZ 2002, 345). Aber nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse lässt die Rechtskraftwirkung eines Urteils entfallen, da sonst gerade im Asylrecht die Rechtskraftwirkung nach § 121 VwGO weitgehend leerliefe (BVerwG, U.v. 18.9.2001, a.a.O.).
32
b) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes erkennt die Kammer eine Bindungswirkung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. November 2015, die auch nicht durch die seit Rechtskraft jenes Urteils neue, erhebliche Tatsachen durchbrochen wurde.
33
Zwar ist zunächst festzuhalten, dass eine Änderung der Rechtslage eingetreten ist, aufgrund derer es dem Bundesamt nun überhaupt erst möglich war, einen Unzulässigkeitsbescheid unter Heranziehung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu erlassen. Gemäß dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Rechtsnorm setzt dabei Art. 33 Abs. 2 lit. a der RL 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) in nationales Recht um und trat am 6. August 2016 in Kraft (vgl. BGBl. I 2016 S. 1939). Der Gesetzgeber wollte mit der Neufassung des § 29 AsylG erreichen, dass in Anpassung an europäisches Recht und aus Gründen der Übersichtlichkeit Asylanträge künftig nur noch als unzulässig oder (offensichtlich) unbegründet abgelehnt werden können. In Wegfall geraten war damit zugleich die Kategorie der unbeachtlichen Asylanträge (so: BT-Dr. 18/8615 S. 52). Vor der Neufassung des Asylgesetzes durch das Integrationsgesetz 2016 blieb dem Bundesamt für Fälle der vorliegenden Art daher nur die Möglichkeit, auf Asylanträge von Schutzsuchenden, die bereits in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union internationalen Schutz erhalten hatten, über die Anwendung des § 26a AsylVfG bzw. § 26a AsylG i.d.F. bis zum Inkrafttreten von Art. 6 des Integrationsgesetzes 2016 zu reagieren. Nach jener Vorschrift konnte sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Artikels 16a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (sicherer Drittstaat) eingereist war, nicht auf Artikel 16a Abs. 1 des Grundgesetzes berufen. Er wurde nicht als Asylberechtigter anerkannt, soweit keine Ausnahme nach § 26a Abs. 1 Satz 3 AsylVfG/AsylG a.F. zu seinen Gunsten eingriff. Dieses Vorschriftenregime setzte jedoch nicht Art. 33 Abs. 2 lit. a) der RL 2013/32/EU sowie die entsprechende Vorschrift der Vorgängerrichtlinie 2005/85/EG in nationales Recht um, da die Drittstaatenregelung selbst aus einer Zeit weit vor Erlass der Verfahrensrichtlinien stammte und sich in der Folge gesetzlicher Änderungen nach Inkrafttreten der Verfahrensrichtlinien keine Anhaltspunkte dafür finden lassen, dass der deutsche Gesetzgeber der Regelung des § 26a AsylVfG/AsylG a.F. die Funktion zugedacht hatte, damit die Unzulässigkeitstatbestände der Verfahrensrichtlinien in nationales Recht umsetzen zu wollen (vgl. BVerwG, B.v. 23.03.2017 - 1 C 17.16 - EZAR NF 96 Nr. 9). Dies erfolgte vielmehr erst mit dem Integrationsgesetz 2016 und der Neufassung des § 29 AsylG. Die Rechtsfolgen der Anwendung des § 26a AsylVfG/AsylG a.F. waren in den §§ 31 Abs. 1, 34a AsylVfG/AsylG a.F. geregelt. Diese Bestimmungen waren allerdings nur anwendbar, wenn eine Rückkehr in den sicheren Drittstaat tatsächlich erfolgen konnte (NK-AuslR/Stefan Keßler, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 26a Rn. 27). Aus § 31 Abs. 4 AsylVfG/AsylG a.F. ergab sich, dass im Falle der Ablehnung eines Asylantrags nur nach § 26a nur festzustellen war, dass dem Ausländer auf Grund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht. So ist die Beklagte auch im vorliegenden Fall mit ihrem Bescheid vom 24. Oktober 2014 verfahren. Ungarn ist bereits seit dem Jahr 2004 Mitgliedsstaat der Europäischen Union und war daher der Anwendungsbereich des § 26a Abs. 1 AsylVfG/AsylG a.F. im Hinblick auf den Asylantrag der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland im Dezember 2012 prinzipiell eröffnet.
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Mit Urteil vom 10. November 2015 hob das Verwaltungsgericht Ansbach den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2014 auf und führte dazu in seinen Urteilsgründen aus, eine Abschiebung nach Ungarn erweise sich als nicht zulässig, da im Falle der Klägerin sowohl zielstaats- als auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse vorlägen. Zur weiteren Begründung zog das Gericht das Ergebnis des für die Klägerin vorgelegten fachärztlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Attestes zur Begründung einer Reise- und Transportunfähigkeit heran und schlussfolgerte, dass es schwerlich vorstellbar sei, dass die Klägerin in Ungarn eine ausreichende Behandlungsmöglichkeit im notwendigen Rahmen erhalte, um einer Retraumatisierung entgegenzuwirken. Im Weiteren stützte das Gericht sein klagestattgebendes Urteil auch auf das Bestehen systemischer Mängel in dem seit 1. Juli 2013 bestehenden ungarischen Asylsystem, wobei es explizit ausführte, dass solche Mängel jedenfalls im Falle von minderjährigen Kindern bzw. Kleinkindern relevant seien. Vordergründig führte das Gericht hinsichtlich der Mängellage zur bestehenden Gefahr einer Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern sowie schlechten hygienischen Bedingungen in der Haft aus. Schließlich begründete das Gericht die Aufhebung des feststellenden Teils des Bescheids vom 24. Oktober 2014 (Ziffer 1. dieses Bescheids) damit, dass sich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin durch Ungarn jedenfalls nicht auf das seinerzeit ebenfalls als Kläger auftretende Kind der Klägerin erstrecke und eine Rücküberstellung der Kläger aufgrund der ausgeführten Mängel im ungarischen Asylsystem nicht in Betracht komme, so dass letztlich auch der durch Ungarn gewährte Flüchtlingsschutz für die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland nicht greife. Der Klägerin müsse daher ein Verfahren ähnlich wie im Fall von § 27a AsylVfG/AsylG a.F. zugutekommen, um den Schutzstatus der Kläger zu überprüfen.
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Die hier zur Entscheidung berufene Kammer erkennt dahingehend, dass sich die materielle Rechtskraft des vorgenannten Urteils vom 10. November 2015 auch auf den nunmehr gegenständlichen Sachverhalt erstreckt und die Beklagte daher gehindert war, einen Unzulässigkeitsbescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ohne eine wesentliche Änderung der Sachlage zu erlassen. Dies ergibt sich daraus, dass der Bescheid vom 24. Oktober 2014, der noch nach alter Rechtslage vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes 2016 erging, nach der aktuell gültigen Rechtslage in einen Bescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umzudeuten wäre und das Verwaltungsgericht mit seinem rechtskräftigen Urteil im November 2015 diesen Bescheid jedenfalls auch mit der inhaltlichen Begründung aufgehoben hat, dass die Klägerin sich im Falle einer Rücküberstellung nach Ungarn erfolgreich auf eine Verletzung von Art. 3 EMRK berufen kann. Dass eine solche Verletzung zuvorderst auf die Möglichkeit einer Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern gestützt war, die nach neueren Erkenntnismitteln sowohl des Bundesamtes als auch des Gerichts nicht mehr ernsthaft zu befürchten steht, zumal es sich gerade bei der Klägerin nicht um eine Dublin-Rückkehrerin handelt, erweist sich als rechtlich unbeachtlich. Abzustellen ist nach Auffassung der Kammer bei der Bestimmung der Rechtskraftwirkung vielmehr darauf, ob die seinerzeit gegebene Begründung des klagestattgebenden Urteils im Kern auch der heutigen Begründungslage eines klagestattgebenden Urteils gegen einen Bescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hinsichtlich Ungarns vergleichbar wäre. Das ist nach Überzeugung der Kammer hier der Fall.
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Zur Frage der Umdeutungsmöglichkeit eines nach alter Rechtslage ergangenen Bescheids auf Grundlage der §§ 26a, 31 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG/AsylG a.F. in einen Bescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der derzeit gültigen Fassung hat sich bereits das Bundesverwaltungsgericht verhalten (vgl. BVerwG, U.v. 4.5.2020 - 1 C 7.19 - BeckRS 2020, 13322). Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass eine rechtswidrige Drittstaatenentscheidung nur im Wege der Umdeutung nach § 47 VwVfG durch eine andere Regelung ersetzt werden kann. Sie könne nicht einfach auf anderer Rechtsgrundlage aufrecht erhalten bleiben, weil es sich bei einer Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Vergleich zu einer Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen prozessual um einen anderen Streitgegenstand handelt (BVerwG, a.a.O. Rn. 24). Bei der Umdeutung wird die im Verwaltungsakt getroffene Regelung nicht lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt, sondern durch eine andere (rechtmäßige) Regelung ersetzt. Hierzu sind - bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 47 VwVfG - nicht nur die Behörden, sondern auch die Verwaltungsgerichte ermächtigt. Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter und damit rechtswidriger Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Dies gilt nach § 47 Abs. 2 VwVfG nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes (Satz 1). Eine Umdeutung ist ferner unzulässig, wenn der fehlerhafte Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden dürfte (Satz 2). Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, kann nach § 47 Abs. 3 VwVfG nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden.
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In diesem Sinne wäre die Umdeutung des Bescheids der Beklagten vom 24. Oktober 2014 nach heutiger Rechtslage in einen Bescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG denkbar, obgleich die Kammer im Hinblick auf die rechtskräftige Aufhebung dieses Bescheids und der fehlenden Möglichkeit des Bundesamtes zur Zeit ihres alten Bescheides, einen Unzulässigkeitsbescheid in Entsprechung des heute gültigen § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erlassen zu können, nicht mehr vollumfänglich zu prüfen hatte, ob dieser Bescheid tatsächlich alle Voraussetzungen einer Umdeutung erfüllt. Denn insoweit sind die Sachverhalte, die der vorgenannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts einerseits und des hier streitgegenständlichen Falles andererseits zugrunde liegen, nicht vergleichbar. Während es im Falle der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gerade darum ging, über einen noch nicht bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes nach alter Drittstaatenrechtslage zu entscheiden, hat die Beklagte im vorliegenden Fall nach Aufhebung ihres Drittstaatenbescheides ihre neue Entscheidung zutreffend auf die Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Zur Bestimmung der Rechtskraftwirkung des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. November 2015 kommt es daher nach Auffassung der Kammer nur darauf an, dass eine hypothetische Umdeutung des Bescheids vom 24. Oktober 2014 in einen Bescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtlich möglich und nicht von vorn herein wegen fehlender grundsätzlicher Tatbestandsvoraussetzungen des § 47 VwVfG ausgeschlossen wäre. Das ist hier unter Beachtung der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber möglich. In der Sache des Bundesverwaltungsgerichts hat sich das Revisionsgericht an einer abschließenden Umdeutung selbst gehindert gesehen, weil es insoweit noch an Feststellungen des Berufungsgerichts dazu fehlte, ob - unter Beachtung der neueren Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Ibrahim sowie Hamed u. Omar (U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - NVwZ 2019, 785 u. B.v. 13.11.2019 - C-540/17 u.a. - NVwZ 2020, 137) - in jenem Falle die Lebensbedingungen, die den Kläger jenes Verfahrens in dem anderen Mitgliedsstaat als anerkannt Schutzberechtigter erwarten würden, der realen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aussetzen würden. Eine solche Betrachtung kann im vorliegenden hypothetischen Fall einer Umdeutung des Bescheids vom 24. Oktober 2014 jedoch nicht mehr abschließend vorgenommen werden. Auch finden sich dazu in den Urteilsgründen des Urteils des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. November 2015 nur rudimentäre Ansätze. Gleichwohl schließt das die Umdeutungsmöglichkeit eines Drittstaatenbescheids nach alter Rechtslage in einen Unzulässigkeitsbescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht aus, so dass im Weiteren zu prüfen war, ob sich die Sachverhalte, die dem Urteil vom 10. November 2015 zugrunde lagen und der nunmehr gegenständliche Sachverhalt als identisch darstellen oder der bereits rechtskräftig entschiedene Sachverhalt jedenfalls doch präjudizielle Wirkung für das aktuelle Klageverfahren hat und ob eine wesentliche Änderung der Sachlage eingetreten ist, die eine erneute Sachentscheidung des Bundesamtes ermöglichte.
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Soweit der Klägerbevollmächtigte in der Klageschrift die Auffassung vertritt, der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2014 und der hier streitgegenständliche Bescheid seien inhaltlich identisch, folgt dem die Kammer zwar nicht (siehe dazu auch die Ausführungen zum Rechtschutzbedürfnis). Dem steht schon die Überlegung entgegen, dass sich - ungeachtet der Frage der Umdeutung - die Prüfungsmaßstäbe in den beiden Bescheiden erheblich unterscheiden und die Beklagte sich ausweislich der Bescheidsgründe vom 24. Oktober 2014 auf formale Aspekte beschränkt hat. Das ist jedoch auch nicht streitentscheidend. Erheblich ist vielmehr, ob der Streitgegenstand, über den bereits rechtskräftig entschieden wurde und der rechtshängige Streitgegenstand identisch sind. Streitgegenstände sind identisch, wenn dieselben Beteiligten dasselbe Rechtsschutzziel unter Bezugnahme auf denselben Lebenssachverhalt wie im Vorprozess begehren (NK-VwGO/Michael Kilian/Daniel Hissnauer, 5. Aufl. 2018, VwGO § 121 Rn. 56). Das ist unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten im Vorprozess und im aktuellen Verfahren einerseits sowie unter Heranziehung der Urteilsgründe des Urteils vom 10. November 2015 gegeben; es liegen danach identische Streitgegenstände vor.
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Bereits im Eilverfahren AN 3 S 14.30865 hatte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 7. November 2014 umfassend zu ihren persönlichen und familiären Verhältnissen vorgetragen und auch dazu, warum sie Ungarn als schwangere Frau verlassen hatte. Weiter hat der Prozessbevollmächtigte in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass die Klägerin als besonders schutzbedürftige Person einzustufen sei und dass Rückkehrern eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung, insbesondere eine Inhaftierung in Ungarn drohe, wenngleich es sich nicht mehr um ein Dublin-Verfahren im Falle der Klägerin handle. Im Klageschriftsatz nahm der Bevollmächtigte auf das Vorbringen der Klägerin in ihrer Anhörung, die vor Erlass des aufgehobenen Bescheids durchgeführt worden war, Bezug. In dieser Anhörung gab die Klägerin an, in Ungarn einen Asylantrag gestellt zu haben, über dessen Ausgang sie allerdings nichts wisse. Folgerichtig führte die Klägerin in ihrer Anhörung dann auch nur zu Aspekten aus, die das Asylverfahren in Ungarn betrafen sowie zu ihren persönlichen Umständen auf Grundlage eines standardisierten Fragenkatalogs. In der mündlichen Verhandlung zur damaligen Klage gegen den Bescheid vom 24. Oktober 2014 bezog sich der anwesende Prozessbevollmächtigte ausweislich der Niederschrift des Gerichts auf seinen schriftsätzlichen Vortrag. Im aktuellen Gerichtsverfahren wiederum hat sich der Klägerbevollmächtigte auf das vorangegangene Gerichtsverfahren berufen und ergänzend vorgetragen, dass insbesondere die Erkrankung der Klägerin nach wie vor fortbestehe und in ihrer Schwere ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründe. Insbesondere hätten sich die Bedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Ungarn seit dem Jahr 2016 gerade nicht verbessert, sondern in Bezug auf Unterstützungsleistungen im Allgemeinen und auf eine Gesundheitsversorgung im Besonderen eher verschlechtert. Es sei nach wie vor zu befürchten, dass die Klägerin sich Medikamente in Ungarn nicht werde leisten können und auch eine erforderliche psychologische Behandlung nicht erhalten werde. Es bestehe auch weiter die Gefahr einer schweren Retraumatisierung der Klägerin, was durch Vorlage eines aktuellen fachärztlichen Attestes der behandelnden Ärztin belegt werden könne. Die Klägerin sei auch nicht arbeitsfähig.
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In der Zusammenschau dieses Vortrags der Klägerseite und des Kerns der gerichtlichen Argumentation im Urteil vom 10. November 2015, dass nämlich der Klägerin bei einer Rückführung nach Ungarn eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe, ist von einem identischen Rechtschutzziel der Klägerin in beiden Verfahren auszugehen. Das Urteil vom 10. November 2015 setzt sich zudem mit der Frage der besonderen Schutzbedürftigkeit gerade auch der Klägerin auseinander, wenn dies auch (folgerichtig) im Rahmen der Prüfung der damals gegenständlichen Abschiebungsanordnung erfolgte und bejahte eine solche Schutzbedürftigkeit der Klägerin aufgrund der vorgetragenen und aus Sicht des Gerichts belegten Erkrankung sowie deren Schwere und der Gefahr einer Retraumatisierung. Diese Feststellungen sind auch für den aktuell gegenständlichen Bescheid und dessen Rechtmäßigkeit beachtlich; soweit dies im Zusammenhang mit der Prüfung von Ziffer 1. des Bescheids vom 22. November 2019 erfolgte, ist die gesundheitliche Situation der Klägerin und deren Arbeitsfähigkeit auch ein Aspekt der Frage, ob ihr in Ungarn die reale Gefahr einer Verelendung droht, weil sie unter den gegebenen Umständen nicht in der Lage wäre, für sich und ihr Kind die Mindestbedingungen für ein menschenwürdiges Leben jedenfalls für eine Übergangszeit eigenständig und eigenverantwortlich zu sichern. Mögen die Gründe des Urteils vom 10. November 2015 im Hinblick auf die Frage der Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern auch wenig zielführend gewesen sein, weil bereits zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Urteils aktenkundig feststand, dass das Dublin-Regime aufgrund der Schutzgewährung Ungarns im Falle der Klägerin nicht mehr eingreift, so ist den Urteilsgründen doch im Kern eine Auseinandersetzung mit substantiellen Fragen zu entnehmen, die für eine Bewertung eines Unzulässigkeitsbescheids nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der heute maßgeblichen Fassung immer noch bedeutsam sind. Im Ergebnis ist das Gericht im rechtskräftigen Urteil davon ausgegangen, dass die Klägerin in Ungarn keine notwendige und adäquate (Gesundheits-)Versorgung erwarten kann. Dasselbe macht der Klägerbevollmächtigte auch im anhängigen Streitverfahren geltend. Mit dieser Zielrichtung liegen daher nach Auffassung der Kammer identische Streitgegenstände vor.
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Die Rechtskraft des Urteils vom 10. November 2015 wurde auch nicht durch neue Tatsachen durchbrochen, die gewichtig und entscheidungserheblich sind. Das Gericht lässt es ausdrücklich dahingestellt, ob die seit dem Jahr 2016 vollzogenen Rechtsanpassungen des ungarischen Staates in seiner Migrationspolitik geeignet sind, eine neue Bewertung des Sachverhaltes unter dem Blickwinkel der Prüfungsdichte des Unzulässigkeitstatbestandes des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu tragen. Auch kann dahingestellt bleiben, ob die jüngere Rechtsprechung der Kammer zu entsprechenden Ungarn-Fällen (bspw. VG Ansbach, U.v. 5.3.2020 - 17 K 18.50411 - BeckRS 2020, 16127) neue, gewichtige Tatsachen in diesem Sinne begründen. Denn jedenfalls bedarf es der Betrachtung des Einzelfalles und kommt unter Anlegung des vorgenannten Maßstabes zur Durchbrechung der Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils in Asylverfahren nicht schon jede Änderung der Tatsachenlage oder gar dem bloßen Zeitablauf seit Eintritt der Rechtskraft des vorangegangenen Urteils insoweit entscheidungserhebliches Gewicht zu. Eine wesentliche Änderung der das rechtskräftige Urteil vom 10. November 2015 tragenden Gründe, wonach die Klägerin an einer derart schwerwiegenden Erkrankung leidet, dass eine Reise- und Transportfähigkeit der Klägerin nicht gegeben sei und die Erkenntnisse zu Ungarn nahelegen, dass die Klägerin in Ungarn nicht eine adäquate und notwendige Behandlung erhalten wird, ist vorliegend aber gerade nicht ersichtlich und durch die Beklagte im gegenständlichen Bescheid auch nicht weiter behandelt worden. Vielmehr hat die Klägerin sowohl in dem die mündliche Verhandlung vorbereitenden Schriftsätzen als auch in der mündlichen Verhandlung selbst erneut dargelegt und belegt, dass ihre gesundheitlichen Beschwerden fortdauern und auch weiter konstanter Behandlung durch eine feste therapeutische Bezugsperson bedürfen. Die neuere Erkenntnislage zu Ungarn belegt zwar dem gegenüber, dass anerkannt Schutzberechtigte von einer gesundheitlichen Basisversorgung und auch im Bedarfsfall von einer notfallmedizinischen Akutversorgung partizipieren (vgl. dazu die Feststellungen im vorerwähnten Urteil der Kammer vom 5. März 2020, a.a.O. Rn. 45 u. 46). Zu den Umständen des Einzelfalles ist damit aber nichts ausgesagt, sondern ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Ibrahim u.a. (U.v. 19.3.2019 - C-319/17 u.a. - BeckRS 2019, 3603) eben auch zu prüfen, ob der betroffene Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann. Dies ist auch grundsätzlich Maßstab der Rechtsprechung der Kammer. Der angegriffene Bescheid dagegen behandelt die Frage der Überwindung der Rechtskraft des vorausgegangenen verwaltungsgerichtlichen Urteils allein unter dem Aspekt der seinerzeit diskutierten Gefahr einer Inhaftierung der Klägerin und ihres Kindes. Im Übrigen aber geht die Beklagte ohne weitere Begründung davon aus, dass die Klägerin jung, gesund und arbeitsfähig sei und somit in Ungarn ihre Bedürfnisse aus eigener Kraft heraus werde befriedigen können. Soweit der Bescheid dazu ausführt, ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot aufgrund einer psychischen Erkrankung sei bereits nicht ausreichend nachgewiesen, verkennt die Beklagte insoweit die Reichweite der Rechtskraft des Urteils vom 10. November 2015 und die Anforderungen, die an eine Durchbrechung der Rechtskraft bzw. die hierfür notwendigen Tatsachen zu stellen sind. In der Gesamtschau sieht das Gericht gerade keine wesentliche Änderung der entscheidungserheblichen Umstände, die es erlauben, vorliegend eine erneute Unzulässigkeit aufgrund der bereits in Ungarn erfolgten Schutzgewährung auszusprechen. Vielmehr dürfte sich die Sachlage aufgrund der Geburt eines weiteren Kindes im Jahr 2020 gerade auch zu Gunsten der Klägerin entwickelt haben, was aber dahingestellt bleiben kann. Denn jedenfalls stünde der Beklagten bei einer aus ihrer Sicht geänderten Sachlage, d.h. einer nunmehr besseren Lage anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn, nur der Weg einer Widerrufsentscheidung offen, soweit die weiteren Voraussetzungen hierfür erfüllt sind.
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3. Darüber hinaus waren neben Ziffer 1. des Bescheids vom 22. November 2019 auch die weiteren Ziffern aufzuheben, da es der Beklagten vor dem Hintergrund der Rechtskraftwirkung des Urteils vom 10. November 2015 grundsätzlich verwehrt war, einen der Rechtskraftwirkung widerstreitenden Bescheid zu erlassen.
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Im Hinblick auf Ziffer 2. des Bescheids kann dahingestellt bleiben, ob sich die Rechtskraftwirkung des Urteils auch auf die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG erstreckt. Das ist zumindest deshalb nicht in jeder Hinsicht offenkundig der Fall, weil die Beklagte im Bescheid vom 24. Oktober 2014 ausdrücklich keine Abschiebungsverbote geprüft hat und es darüber hinaus gerade auch im Bereich von inlandsbezogenen Abschiebungsverboten denkbar leichter zu einer Entwicklung kommen kann, die sich als wesentliche Änderung einer entscheidungserheblichen Tatsachenlage mit Durchbrechungswirkung der Rechtskraft eines früheren Urteils darstellen kann (bspw. Besserung der gesundheitlichen Situation des Betroffenen). Ungeachtet dessen kann die Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG aber deshalb keinen Bestand haben, weil sie zumindest für § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Widerspruch zur rechtskräftigen Feststellung gerät, dass ein Unzulässigkeitsbescheid nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Bezug auf Ungarn für die Klägerin auf Basis der im Bescheid vom 22. November 2019 getroffenen Feststellungen und Gründe nicht ergehen kann. Auf die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt es daher nicht streitentscheidend an, denn die Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG stellt einen einheitlichen Verfahrensgegenstand dar (BVerwG, U.v. 8.9.2011 − 10 C 14/10 - NVwZ 2012, 240; BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - BeckRS 2015, 42433).
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Auch die weiteren Ziffern des Bescheids vom 22. November 2019 sind als Nebenentscheidungen aufzuheben. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher ist. Ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegt nach Aufhebung der Ziffer 1. nicht vor. Ein anderer, auf gleicher Stufe stehender Unzulässigkeitsgrund ist ebenfalls nicht gegeben, so dass die Abschiebungsandrohung rechtswidrig und verfrüht erging und keinen Bestand haben kann. Die in Ziffer 4. des angefochtenen Bescheids festgelegte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit dem Wegfall der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden und daher ebenfalls aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 Nr. 11 ZPO, 711 ZPO.