Titel:
Nachbarklage gegen Umbau und Erweiterung einer Physiotherapiepraxis
Normenketten:
BauGB § 5 Abs. 2 Nr. 2, § 34 Abs. 2
BauNVO § 4, § 13
BayBO Art. 68 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Die in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärte Änderung einer Baugenehmigung ist unbeachtlich, weil die Baugenehmigung der Schriftform bedarf, Art. 68 Abs. 2 S. 1 BayBO. Die gerichtliche Protokollierung ersetzt die vorgeschriebene Form nur im Fall eines gerichtlichen Vergleichs. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch in einem faktischen Baugebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB besteht ein Gebietserhaltungsanspruch, so dass sich ein Eigentümer auch dann gegen die Zulassung einer gebietsfremden Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Prägung eines Gebiets durch eine aufgegebene Nutzung dauert fort, solange mit einer Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen ist. Innerhalb welcher zeitlichen Grenzen Gelegenheit besteht, an die früheren Verhältnisse anzuknüpfen, bestimmt sich nach der Verkehrsauffassung. Diese rechnet im ersten Jahr stets mit der Wiederaufnahme. Im zweiten Jahr spricht hierfür eine Regelvermutung. Nach Ablauf von zwei Jahren kehrt sich die Vermutung um. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch formell nicht genehmigte und materiell nicht zu genehmigende Bauten sind bei der Einordnung der näheren Umgebung zu betrachten. Sie bleiben nur außer Betracht, wenn die Baubeseitigung konkret im Raum steht. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
5. Der Begriff der Anlagen für gesundheitliche Zwecke i.S. der BauNVO ist auf Gemeinbedarfsanlagen i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 2 BauGB beschränkt. Eine Physiotherapiepraxis fällt nicht darunter. Die Zulässigkeit einer Physiotherapiepraxis im allgemeinen Wohngebiet richtet sich nach § 13 BauNVO. (Rn. 59 – 60) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
bestehende Physiotherapiepraxis in einem Anbau, der vormals als Laden genehmigt wurde erfolgreiche Nachbarklage gegen Baugenehmigung für den Umbau mit Erweiterung der Physiotherapiepraxis und Neuerrichtung einer Wohnung im Dachgeschoss Verwirkung des Klagerechts (verneint), faktisches allgemeines Wohngebiet, Abgrenzung von Gebäude zu Räumlichkeiten i.S.d. § 13 BauNVO, hier: Einordnung als Gebäude, Unzulässigkeit der Physiotherapiepraxis ihrer Art nach, § 34 Abs. 2 BauNVO, Bestandsschutz (verneint), Schriftform der Baugenehmigung, Gebietserhaltungsanspruch
Fundstelle:
BeckRS 2020, 38993
Tenor
1. Der Bescheid des Landratsamtes … vom 18. März 2020 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu je ½, sie tragen ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Vollstreckungsschuldner können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich gegen die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung vom 18. März 2020 für Umbau und Erweiterung einer bereits betriebenen Physiotherapiepraxis und den Neubau einer Wohnung über der Physiopraxis.
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Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks Flur-Nr. …, Gemarkung … Das Grundstück ist mit einem Zweifamilienhaus mit Einliegerwohnung bebaut. Die Beigeladene ist Eigentümerin des nördlich angrenzenden Grundstücks Flur-Nr. …, Gemarkung … Auf dem Grundstück befindet sich ein im Eigentum der Beigeladenen stehendes, von dieser nicht selbst bewohntes Wohngebäude mit einem Anbau, in dem der Ehemann der Beigeladenen eine Praxis für Physiotherapie betreibt. Ursprünglich war der Anbau mit Baugenehmigung vom 19. April 1967 und danach folgenden Ergänzungen als Laden genehmigt worden. Beide Grundstücke liegen im unbeplanten Innenbereich. Das Vorhabengrundstück befindet sich an der Ecke … Bei der … handelt es sich um eine im Abstand von ca. 30 m befindliche Parallelstraße zur St … Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zu der Örtlichkeit wird auf das Protokoll über die Augenscheinseinnahme am 11. September 2020 samt den gefertigten Lichtbildern verwiesen.
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Mit Bauantrag vom 25. Oktober 2019 beantragte die Beigeladene eine Baugenehmigung für den „Umbau der bestehenden Physiopraxis und den Neubau einer Wohnung über der Physiopraxis“ unter Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO sowie die Erteilung einer isolierten Abweichung zur vorgeschriebenen Grundflächenzahl und stellte mit Datum vom 17. Dezember 2019 einen Antrag auf Zulassung einer Abweichung von den Abstandsflächen (Art. 6 BayBO) zum Grundstück der Kläger aufgrund der Überschreitung der erforderlichen Abstandsfläche um ca. 20 cm im Zusammenhang mit dem Wärmedämmverbundsystem. Mit Änderungsantrag vom 20. Februar 2020 beantragte die Beigeladene zudem die Zulassung einer Abweichung von den Abstandsflächen wegen Überschneidung von Abstandsflächen auf dem eigenen Grundstück. Am 12. März 2020 wurden dem Landratsamt … die der Baugenehmigung letztlich zugrundeliegenden Tekturpläne vorgelegt. Aus den vorgelegten Bauunterlagen ist ersichtlich, dass die Beigeladene auf den bestehenden Anbau mit Flachdach, in welchem derzeit bereits eine Physiotherapiepraxis betrieben wird, ein Satteldach errichten möchte. Des Weiteren ist neben Umbauarbeiten im bestehenden Anbau die Errichtung eines an diesen anschließenden Erweiterungsbau mit Satteldach vorgesehen. Die Physiotherapiepraxis soll sowohl im Keller (Personalraum und Büro) als auch im gesamten Erdgeschoß des bestehenden Anbaus und des Erweiterungsbaus betrieben werden. Das Dachgeschoß sowohl von bestehendem Anbau als auch Erweiterungsbau soll zu Wohnzwecken genutzt werden.
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Der Beklagte erteilte mit Bescheid vom 18. März 2020 die bauaufsichtliche Genehmigung für das beantragte Vorhaben unter Zulassung einer Abweichung von Art. 6 BayBO im Südosten. Weiter wurde festgesetzt, dass die Betriebsbeschreibung der gewerblichen Anlage vom 25. Oktober 2019 Bestandteil der Baugenehmigung ist. Zur Begründung wird unter VII. Gründe im Bescheid ausgeführt, dass die im Rahmen des Art. 63 BayBO zugelassene Abweichung von den Abstandsflächen des Art. 6 BayBO zu erteilen war, da sie unter Berücksichtigung der Anforderung der abstandsflächenrechtlichen Vorschriften und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen (Belichtung, Belüftung und Brandschutz) vereinbar ist. Weiter heißt es, dass die beantragte Genehmigung trotz fehlender Unterschrift des in den Vorlagen benannten Angrenzers erteilt werden konnte, weil öffentlich-rechtlich zu schützende nachbarliche Belange, die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind, durch das genehmigte Vorhaben nicht beeinträchtigt werden. Der Bescheid vom 18. März 2020 wurde den Klägern am 24. März 2020 per Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 16. April 2020 haben die Kläger Klage bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach, per Fax eingegangen am selben Tag, erhoben und mit weiterem Schriftsatz vom 16. April 2020, ebenfalls per Fax am selben Tag eingegangen, einen Antrag auf einstweiligen Rechtschutz gestellt.
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Zur Begründung der Klage verweisen die Kläger in ihrem Schreiben vom 19. Mai 2020 auf ihre Ausführungen zum Verfahren AN 17 S 20.00707. Die Kläger führen in ihren Schriftsätzen vom 16. April 2020 und 19. Mai 2020 aus, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei und die Kläger in eigenen drittschützenden Rechten verletze. Das Bauvorhaben sei insbesondere im Hinblick auf die Erhöhung und Erweiterung des Gebäudes nicht genehmigungsfähig, da die erforderlichen Abstandsflächen nicht eingehalten würden. Die dargestellten Grenzverläufe seien fehlerhaft. Nachmessungen seitens der Kläger hätten ergeben, dass das Garagengebäude der Kläger entgegen dem Eintrag in den Bauplänen auf der Grenze und nicht (anteilig) auf dem Grundstück der Beigeladenen errichtet worden sei. Das Bestandsgebäude der Beigeladenen halte dagegen bereits jetzt, vor Aufbringung der Wärmedämmung, nicht den erforderlichen Mindestabstand von 3 m ein. Vielmehr betrage der Grenzabstand im Nordwesten lediglich 2,73 m. Werde eine Wärmedämmung von 24 cm aufgebracht, verringere sich dieser Abstand auf 2,49 m. Das Bauvorhaben verstoße damit erheblich gegen die geltenden Mindestabstandsflächen. Nachdem das bestehende grenznahe Gebäude der Beigeladenen bereits jetzt die erforderlichen Abstandsflächen zum Grundstück der Kläger nicht einhalte, sei eine weitere Erhöhung, ohne Vergrößerung der Abstandsflächen zum nachbarlichen Grundstück der Kläger, nicht genehmigungsfähig. Selbiges gelte für die flächenmäßige Erweiterung des Anbaues, in welchem die Physiopraxis betrieben werde.
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Die erteilte Abweichung von den erforderlichen Abstandsflächen sei rechtswidrig. Die erforderliche Abwägung der nachbarlichen Belange sei nicht erfolgt. Sie habe auch nicht erfolgen können, da die Kläger nicht angehört worden seien. Selbst bei unterstellter Abwägung durch das Landratsamt sei diese jedenfalls rechtswidrig. Die Abweichung sei unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar. So sei die Belichtung und Besonnung des Nachbargrundstücks der Kläger massiv beeinträchtigt, wenn das streitgegenständliche Gebäude erhöht werde. Das Wohngebäude der Kläger liege in gesetzlichem Abstand zur Grundstücksgrenze, jedoch grenznah. Durch die Änderung der Dachform entstünde eine Verschlechterung der Grundstückssituation der Kläger. Aufgrund des neuen Satteldachaufbaus werde die Dachneigung im Vergleich zur vorherigen Flachdachattika um 45° verändert. Dies stelle eine massive Verschlechterung dar, da die unmittelbare Folge der neuen Dachform die erhebliche Verschattung des Grundstücks der Kläger sei. Der Umstand, dass sich das Gelände im Bereich der … in einer Talsenke befinde und sich östlich und westlich davon Erhebungen befänden, die im frühen und späten Tagesverlauf für eine Verschattung sorgen würden, werde von dem Beklagten unzutreffend bewertet. Die zusätzliche Verschattung wiege damit entsprechend schwerer. Durch das Heranrücken der Bebauung an das Grundstück der Kläger würden sämtliche Funktionen der Abstandsflächen wie Belichtung, Besonnung, Belüftung, Brandschutz weiter beeinträchtigt und nicht bzw. nur ungenügend erfüllt. Überdies sei der soziale Wohnfriede gestört. Insbesondere durch die geplanten Dachgauben sei das Grundstück der Kläger, anders als bislang, von einem unbestimmten und wechselnden Personenkreis einsehbar. Auch finde die Gartennutzung gerade nicht nur auf von dem Grundstück der Beigeladenen abgewandten Grundstücksflächen statt. Von der geplanten Wohnung werde ein umfassender Einblick in den hinteren Gartenbereich im Süden des Grundstücks der Kläger ermöglicht. Auch sähen sich die Kläger den wechselnden Patienten der Praxis gegenüber. Zudem begründe das Vorhaben einen Einmauerungseffekt. Bezüglich der Dachterrasse verbleibe ein Teil, der eine direkte Sicht auf das Grundstück der Kläger einschließlich der Grünflächen ermögliche. Aufgrund der Höhenlage werde gerade nicht nur die Garage der Kläger zu sehen sein. Weiterhin werde der soziale Wohnfriede auch durch die zu erwartenden Lärmimmissionen, die von der geplanten Dachterrasse und Erweiterung der Physiopraxis ausgingen, beeinträchtigt. Insbesondere durch den An- und Abfahrtsverkehr der zu erwartenden höheren Anzahl der Patienten und durch die geplanten neuen Parkmöglichkeiten neben dem hinteren Gartenbereich der Kläger seien neue erhebliche Lärmimmissionen zu erwarten. Überdies lägen für das Bauvorhaben keine zwingenden Gründe vor. So liege die Erweiterung der Physiopraxis ausschließlich im wirtschaftlichen Interesse. Auch die geplante Wohnung mit Dachterrasse sei nicht erforderlich, da das Grundstück bereits mit einem Einfamilienhaus bebaut sei und somit auch zu Wohnzwecken genutzt werden könne. Die Erteilung der Abweichung sei auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil in der näheren Umgebung des Bauvorhabens andere Bauvorhaben in gleicher Größe die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalten. Zum einen liege keine vergleichbare Grundstückssituation in der Umgebung vor. Zum anderen sehe Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO zwar vor, dass von dem gesetzlichen Mindestabstand abgewichen werden könne, wenn sich einheitlich abweichende Abstandsflächentiefen aus der umgebenden Bebauung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ergäben. Allerdings sei eine Abweichung auch nur dann rechtmäßig zulässig, wenn eine ausreichende Belichtung und Belüftung gewährleistet sei, Art. 6 Abs. 5 Satz 4, 3 BayBO, woran es hier fehle. Der Beklagte beurteile die Abstandsflächen zudem rechtsfehlerhaft isoliert. Über die geplante bauliche Änderung hinaus sei auch das Bestandsgebäude einzubeziehen und das neue Gesamtvorhaben auf seine Übereinstimmung mit den Abstandsflächenvorschriften hin zu überprüfen. Bei dem gegenständlichen Vorhaben liege zum einen eine Änderung vor, die abstandsflächenrelevante Merkmale betreffe. Zum anderen handle sich um eine Erweiterung und Aufstockung des Bestandsgebäudes in größerem Umfang, die, selbst wenn sie bezüglich einzelner Bauteile keine neuen Abstandsflächen auslösen sollte, abstandsflächenrelevante Belange berühre. Diese geschützten abstandsflächenrelevanten Belange seien, wie oben dargestellt, im Rahmen einer abstandsflächenrechtlichen Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen. Durch die Erweiterung und die Aufstockung des Bestandsgebäudes würden neue Außenwände errichtet, neue Fenster eingebaut und eine Dachterrasse errichtet. Durch die Aufstockung mit einem Satteldach erfolge die Schaffung einer neuen Nutzungsart aufgrund der Bebauung mit einer Wohnung. Der andersartige nachteilige Einfluss auf den sozialen Wohnfrieden ergebe sich aus der damit verbundenen Einsicht in das klägerische Grundstück und die zu erwartenden zunehmenden Lärmemissionen, die von der Erweiterung der Physiopraxis ausgingen. Jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO habe zur Folge, dass die Ziele des Abstandsflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden. Die Zulassung einer Abweichung erfordere daher Gründe von ausreichendem Gewicht, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheide und die die Einbuße an Belichtung und Belüftung im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lasse. Es müsse sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln. Dies gelte auch nach Einführung der Regelung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO. Hiermit werde lediglich klargestellt, dass Abweichungen auch im Bereich des Abstandsflächenrechts möglich seien. Die Notwendigkeit einer Atypik leite die Rechtsprechung aber ohnehin nur aus Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ab. Die geforderte Atypik liege nicht vor. Dies gelte insbesondere, da das Bestandsgebäude, welches unstreitig nach den Bauplänen die Abstandsflächen nicht einhalte, zu gewerblichen Zwecken genutzt werde, weshalb eine Bebauung mit einer Wohnung zur sinnvollen Nutzung des Bestandsgebäudes keinesfalls erforderlich sei. Selbst wenn die Dämmung des Bestandsgebäudes mit einhergehender Abstandsflächenverletzung erforderlich sein sollte, um das Bestandsgebäude sinnvoll zu nutzen, so dürfe diese Abstandsflächenverletzung nicht dazu ausgenutzt werden, um die Verletzung der Abstandsflächen zu manifestieren und, durch Bau der Wohnung, zu verschärfen, zumal offensichtlich auch eine Erweiterung des Bestandsgebäudes hinsichtlich der bisherigen Nutzungsart vorgesehen sei. Weiter sei auf dem Grundstück der Beigeladenen bereits ein Wohngebäude vorhanden. Es liege eine rechtswidrige exzessive Bebauung zum Nachteil der Kläger vor.
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Weiter füge sich das Vorhaben nicht in die nähere Umgebung ein, § 34 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BauGB. Die maßgebliche Umgebung sei faktisch als reines Wohngebiet, § 3 BauNVO, zu qualifizieren. Die insoweit maßgebliche Umgebung der … und des … weise eine Bebauung mit Einfamilienhäusern und vereinzelt Zweifamilienhäusern auf. Beklagtenseits genannte Gebiete nördlich der Staatsstraße, südlich des … und in …, die per Bebauungsplan als Allgemeine Wohngebiete festgesetzt seien, könnten bereits aufgrund der Entfernung zum Bauort nicht prägend für dessen Gebietscharakter sein. Ferner zeige der Umstand, dass für diese Gebiete Bebauungspläne existierten, dass es sich um eigenständige Gebiete handele. Vorsorglich werde bestritten, dass der Bebauungscharakter dieser Gebiete der näheren Umgebung des Bauorts ähnlich sei. Hierauf komme es nicht an, denn inwieweit eine Bebauung auch dem durch Bebauungsplan festgesetzten Gebietstyp entspreche, sei für das vorliegende Verfahren unerheblich. Zur Ermittlung des Gebietscharakters seien überdies nicht die Lärmemissionen in dem Gebiet maßgebend, sondern die vorhandene bauliche Nutzung. Der Gebietscharakter bestimme die einzuhaltenden Lärmschutzwerte und nicht umgekehrt. Auch der landwirtschaftliche Betrieb sei aufgrund seiner Entfernung nicht prägend für die Eigenart der Umgebung. Überdies würde das Vorhandensein eines einzelnen Betriebes nicht dazu führen, dass das Gebiet als faktisches Dorfgebiet zu werten sei. Zur Ermittlung des Gebietscharakters seien solche baulichen Anlagen auszusondern, die von ihrem qualitativen Erscheinungsbild nicht die Kraft hätten, die Eigenart der Umgebung zu beeinflussen, die der Betrachter nicht oder nur am Rande wahrnehme. Zudem seien singuläre Anlagen, die in einem auffälligen Kontrast zu der sie umgebenden, im Wesentlichen homogenen Bebauung stehen, regelmäßig als Fremdkörper unbeachtlich. Der landwirtschaftliche Betrieb sei nach seiner äußerlich erkennbaren Zweckbestimmung in der näheren Umgebung einzigartig. Da die nähere Umgebung im Übrigen einheitlich durch Wohnhäuser bestimmt sei, stelle er einen auffälligen Kontrast dar und könne wegen seiner Andersartigkeit und Einzigartigkeit den Charakter der Umgebung nicht beeinflussen. Gleiches gelte für eventuelle kleingewerbliche Nutzungen. Es werde im Übrigen bestritten, dass diese in der Umgebung vorhanden seien. Die nächste gewerbliche Nutzung befindet sich ca. 350 m entfernt im …, der jedoch nicht der maßgeblichen Umgebung hinzuzurechnen sei. Ohnehin würde selbst das Vorhandensein kleingewerblicher Nutzungen in der näheren Umgebung an der Einordnung als reines Wohngebiet nichts ändern, denn nach § 3 Abs. 3 BauNVO seien Ausnahmen möglich. Entscheidend sei, dass die ausnahmsweise zulässigen Vorhaben Ausnahmen blieben und somit den Gebietscharakter nicht prägen.
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Das Vorhaben füge sich nach Maß und Art der baulichen Nutzung nicht in die Umgebung ein. Hierauf könnten sich die Kläger auch berufen, denn ihnen stünde ein Gebietsprägungserhaltungsanspruch sowie ein Gebietserhaltungsanspruch gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO zu. In § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sei nicht nur das Gebot der Rücksichtnahme verankert, sondern auch ein Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung des Baugebiets. Wenn ein Vorhaben somit von der Nutzungsart und dem Maß den vorhandenen Rahmen überschreitet, führe dies zu dessen Unzulässigkeit. Daher führe die Art der geplanten Nutzung zur Unzulässigkeit des Vorhabens, da die Physiopraxis in einem reinen Wohngebiet unzulässig sei, da sie jedenfalls nicht den Bedürfnissen der Bewohner des Gebietes diene, § 3 Abs. 2 Nr. 3 BayBO. Selbst in einem allgemeinen Wohngebiet wäre die Physiopraxis in dem geplanten Ausmaß nicht zulässig, da sich der Betrieb im Hinblick auf den geplanten Umfang als störend darstelle, § 4 Abs. 3 Ziff. 3 BauNVO. Eine Zulässigkeit ergebe sich auch nicht aus § 13 BauNVO. Freiberufliche Nutzungen seien im reinen Wohngebiet auf Räume beschränkt, um der Wohnruhe Rechnung zu tragen. Die geplante Physiopraxis gehe in ihrem Ausmaß über eine wohnartige, im Sinne einer gleichsam privaten Ausübung des Berufs weit hinaus. Das Vorhaben füge sich auch nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht ein. Es sei bereits jetzt mit einem massiven Gebäude bebaut, das wie zwei zusammengebaute Gebäude wirke. Im streitgegenständlichen Quartier entlang der … sei kein Gebäude mit vergleichbarem Maß der baulichen Nutzung vorhanden. Das geplante Gebäude weiche sowohl im Hinblick auf die Tiefe, die überbaute Grundstücksfläche und die Geschossflächenzahl erheblich von den vorhandenen Gebäuden ab. Das ermöglichte Vorhaben würde nach dem Maß der baulichen Nutzung völlig aus dem Rahmen der sonst anzutreffenden Bebauung herausfallen.
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Auch das Rücksichtnahmegebot sei verletzt, da die Physiopraxis in dem geplanten Ausmaß in dem reinen Wohngebiet nicht zulässig und deshalb jede einzelne Stunde Betriebszeit bereits nicht mehr wohngebietsverträglich sei. Überdies führe die Vergrößerung der Praxis zwingend zu einer Vergrößerung der Emissionen aufgrund eines höheren Patientenaufkommens. Es werde bestritten, dass die Betriebserweiterung nicht zu einer Erhöhung des Patientenaufkommens führe. Ausweislich der Baupläne seien im Wartebereich mindestens vier Sitzmöglichkeiten vorgesehen. Gleichzeitig könnten daher 13 Patienten mit ihrem Pkw zur Behandlung kommen. Weiterhin seien zwei Geräteräume, davon ein Neubau, mit 12 Geräten geplant, die von weiteren Patienten parallel genutzt werden könnten. Die Geräteräume würden an das Grundstück der Kläger grenzen. Die bisher vorhandenen Glasbausteine, von denen nur wenige Elemente zu öffnen gewesen seien, seien bereits durch reguläre Kunststofffenster ersetzt, die gänzlich geöffnet werden könnten. Die beiden Geräteräume glichen von der Ausstattung her einem Fitnessstudio. Von den Geräten und den Benutzern seien daher erhöhte Lärmemissionen zu erwarten. Dies gelte insbesondere, da laut Homepage der Beigeladenen Gruppentherapie angeboten werde und in der Vergangenheit bereits Gutscheine zum eigenverantwortlichen Training angeboten worden seien. Aufgrund einer durchschnittlichen kurzen Dauer der einzelnen Behandlung würden die Patienten bei 12 Stellplätzen ganztätig in kurzen zeitlichen Abständen an- und abfahren und dies ohne Einhaltung einer Mittagsruhe. Auch die Mitarbeiter der Physiopraxis sowie die Bewohner der geplanten neuen Wohnung seien auf Parkplätze angewiesen. Die angespannte Parksituation in der schmalen Nebenstraße im Bereich des Anwesens und der Einfahrt der Kläger werde verschärft. Die Grundstückszufahrt der Kläger werde nicht oder nur erschwert mit einem Pkw zugänglich sein. Es werde bestritten, dass die Ortsbesichtigung des Beklagten am 21. April 2020 zu aktuellen Parksituation aussagekräftig sei. Zu diesem Zeitpunkt habe in Bayern eine Ausgangsbeschränkung aufgrund der Coronakrise bestanden. In der Physiopraxis hätten nur Notfälle behandelt werden dürfen.
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Die Kläger beantragen mit Schriftsatz vom 16. April 2020,
den Bescheid des Landratsamtes … vom 18. März 2020 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 22. April 2020,
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Das Vorhaben befinde sich im unbeplanten Innenbereich, § 34 BauGB. Es handele sich hier nicht um ein faktisches reines Wohngebiet i.S.d. § 3 BauNVO, sondern zumindest um ein allgemeines Wohngebiet i.S.v. § 4 BauNVO, wenn nicht sogar um ein Dorfgebiet, § 5 BauNVO, wie sich aus einer Ortseinsicht am 21. April 2020 ergebe. Insbesondere aufgrund der räumlichen Nähe zu einem landwirtschaftlichen Betrieb (120 m Entfernung) sei davon auszugehen, dass sich das Baugrundstück innerhalb eines faktischen Dorfgebiets, § 5 BauNVO i.V.m. § 34 Abs. 2 Satz 1 BauGB, befinde. Eine Praxis für Physiotherapie stelle eine Anlage für gesundheitliche Zwecke i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 7 bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO dar. Auch sei das Gebot der Rücksichtnahme i.S.v. § 15 BauNVO nicht verletzt. Von dem Vorhaben gingen keine unzumutbaren Störungen aus. So sei insbesondere auch das Sachgebiet „Technischer Umweltschutz“ beteiligt worden, das keine Einwände erhoben habe. Die Physiopraxis habe eingeschränkte und moderate Öffnungszeiten (Montag bis Donnerstag von 8:00 bis 17:00 Uhr sowie Freitag von 8:00 bis 13:00 Uhr). Ebenso würde sich die Parksituation nicht verschlechtern. Es seien 12 Stellplätze gemäß Stellplatzsatzung der Stadt … nachgewiesen. Auch bei einer Ortseinsicht am 21. April 2020 habe kein massiver Fahrzeugdruck auf der öffentlichen Verkehrsfläche festgestellt werden können. Die Stellplätze seien durch das Gebäude der neuen Physiopraxis von den Klägern abgeschirmt, weswegen nicht von einer erhöhten Lärmbelastung auszugehen sei. Auch das Maß der baulichen Nutzung werde eingehalten. So gebe es in der näheren Umgebung des Bauvorhabens hinsichtlich der Höhe des Gebäudes Vergleichsfälle. Eine Vielzahl von Gebäuden habe ein Vollgeschoss inklusive Dachgeschoss. Selbst das Wohnhaus der Kläger sei zweigeschossig inklusive Dachgeschoss. Auch nördlich des Baugrundstücks seien zweigeschossige Gebäude zu finden. Die Firsthöhe des genehmigten Gebäudes sei unter Berücksichtigung der umliegenden Bebauung nicht zu beanstanden. Die Abweichung von den Abstandsflächen nach Art. 63 BayBO gemäß Antrag vom 17. Dezember 2019 sei erteilt worden, da das Bauvorhaben hinsichtlich der südöstlichen Seite die erforderlichen Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO teilweise nicht einhalte. Das Gebäude sei ein Bestandsgebäude mit Flachdach, welches im Jahr 1967 bauaufsichtlich genehmigt und anschließend ordnungsgemäß errichtet worden sei. Die Wandhöhe des neuen Gebäudes würde sich gegenüber dem Bestandsgebäude aufgrund des teilweisen Abbruchs der Flachdachattika nicht verändern, sodass sich auch die erforderlichen Abstandsflächen durch den Satteldachaufbau (Dachneigung 45°) nicht verändern würden. Lediglich durch die Aufbringung des geplanten Wärmedämmverbundsystems ergebe sich eine Änderung der Abstandsflächen zum südöstlichen Nachbargrundstück, da die sichtbare Außenwand um ca. 20 cm an das nachbarliche Grundstück heranrücke. Für die Dachgauben, welche aufgrund der Ansichtsflächen abstandsflächenrechtlich relevant seien, sei laut Abstandsflächenplan keine Abweichung erforderlich, da diese Abstandsflächen noch auf dem eigenen Grundstück zum Liegen kämen. Hierfür könne aufgrund der erteilten Abweichung noch einmal das 16 m-Privileg gemäß Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO angewendet werden. Die Abweichung sei unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Es entstünde keine Verschlechterung der Abstandsflächentiefe durch die Änderung der Dachform, welche ortsüblich sei. In der näheren Umgebung seien zahlreiche Bauvorhaben vorhanden, die ebenso ein Satteldach in dieser Art und Weise besäßen. Auch sei bedacht worden, dass sich das genehmigte Bauvorhaben nördlich bzw. nordwestlich des Grundstücks der Kläger befände. Mit einer Verschattung des Grundstücks der Kläger sei nicht zu rechnen. Ebenso sei berücksichtigt worden, dass sich das Gelände im Bereich … in einer Talsenke befinde. Sowohl östlich als auch westlich davon gebe es Erhebungen, die im früheren bzw. späteren Tagesverlauf sowieso für übermäßige Verschattung sorgen würden. Überdies sei die westliche Erhebung sogar bewaldet, was diesen Effekt noch verstärken dürfte. Nachteile in der Belüftung für die Kläger aufgrund der Errichtung eines Satteldaches seien nicht feststellbar. Auch der soziale Wohnfriede sei gewahrt. Der nutzbare Innenbereich des Gebäudes rücke nicht näher an die Grenze heran, was ebenso für das Dachgeschoss gelte. Die Dachgauben hielten die erforderlichen Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO ein. Sie seien gegenüber der Außenwand zurückversetzt, so dass ein ausreichender Abstand eingehalten werden könne. Das klägerseits angeführte Tatbestandsmerkmal der Atypik für Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO sei nicht mehr erforderlich. Mit dem neuen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO habe man erreichen wollen, dass Abweichungen vom Abstandsflächenrecht beim Aufstocken von Bestandsgebäuden erleichtert möglich seien. Die Abweichung von den Abstandsflächen verstoße auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Es handele sich um eine sinnvolle Erneuerung des bestehenden Gebäudes. Zwar rücke die Außenwand durch das Anbringen eines Wärmedämmverbundsystems ca. 20 cm näher an das Nachbargrundstück heran, was aber zu keiner Verschlechterung der Bestandssituation führe. Energieeffizientes Bauen liege im öffentlichen Interesse. Der Neubau inklusive der Dachterrasse halte die erforderlichen Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO ein.
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Die Beigeladene beantragt mit Schriftsatz vom 29. April 2020,
die Klage abzuweisen, und bezieht sich auf ihre Ausführungen im Schriftsatz zum Verfahren AN 17 S 20.00707 vom selben Tag. Hier verweist die Beigeladene auf die Ausführungen des Beklagten und führt ergänzend aus, dass die Behauptung, das Gebiet sei von Wohnruhe geprägt, falsch sei. Auch seien die erforderlichen Abstandsflächen eingehalten. Die Erhöhung des Bestandsgebäudes löse keine zusätzlichen Abstandsflächen aus. Auch die bewusst zurückgesetzten Dachgauben würden die erforderlichen Abstandsflächen einhalten. Die erteilte Abweichung sei allein deshalb erforderlich gewesen, weil das Bestandsgebäude an einer Gebäudeecke den gesetzlich gebotenen Mindestabstand minimal (10 cm) unterschreite und sich im Zuge der verfahrensgegenständlichen Genehmigung die Frage der einzuhaltenden Abstandsflächen neu stelle. Für die sich aufgrund des Vollwärmeschutzes ergebende Reduzierung der Abstandsflächen sei in rechtmäßiger Weise die Abweichung erteilt worden. Auch sei eine umfassende Abwägung der nachbarlichen Belange erfolgt. Die Annahme, eine solche sei ausgeschlossen, weil die Kläger nicht gehört worden seien, trage nicht. Aufgrund der genehmigten Dachneigung des auf das bisher vorhandene Flachdach aufzusetzenden Dachgeschosses verändere sich die Belichtung und Besonnung des Nachbargrundstücks nicht nachteilig, denn die maßgebliche Außenwandhöhe bleibe unverändert. Auch sei der soziale Wohnfriede gewahrt. Zwar würde die genehmigte Dachterrasse zumindest dem vorübergehenden Aufenthalt von Personen dienen. Jedoch sei die Dachterrasse nicht zum Grundstück der Kläger ausgerichtet, sondern in südwestlicher Richtung. Sie löse keine Abstandsflächen aus und reiche lediglich 1 m aus der betreffenden, nicht dem Grundstück der Kläger zugewandten Außenwand heraus. Die Dachterrasse befinde sich weit weg vom Wohngebäude der Kläger auf Höhe der im rückwärtigen Grundstücksbereich des Nachbargrundstückes befindlichen Nebengebäude. Auch hinsichtlich des Bestandsgebäudes würde keine „völlig neue Qualität der Einsichtsmöglichkeit“ geschaffen. Die zum Grundstück der Kläger ausgerichteten Fenster/Oberlichter würden blickdicht und zudem in einer Höhe situiert, die wechselseitige Einblicke verhindere. Auch sei zu berücksichtigen, dass sich auf dem an das Vorhabengrundstück angrenzenden Grundstücksteil der Kläger eine Hoffläche und Garagen befänden. Die Gartennutzung erfolge auf dem vom Vorhabengrundstück abgewandten Grundstücksflächen. Auch durch die Situierung der 12 Stellplätze ändere sich nichts. Die Eingangssituation zur Praxis bleibe ebenso unverändert wie die Zuwegung. Dasselbe gelte auch für die Behauptung, der soziale Wohnfriede sei durch vermeintlich zu erwartende Lärmimmissionen potentiell beeinträchtigt. Insoweit werde auf die Stellungnahme des Landratsamtes verwiesen. Ebenso beziehe sich die erteilte Abweichung weder auf die neu zu errichtende Dachgeschossfläche noch auf den im rückwärtigen Grundstücksteil vorgesehenen Erweiterungsbau, so dass die diesbezüglichen Ausführungen in der Antrags-/Klageschrift an der Sache vorbeigingen.
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Vermeintliche Verstöße gegen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung hätten grundsätzlich keine drittschützende Funktion. Auch füge sich das Bauvorhaben ohne weiteres nach der Art der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. An der bisherigen Nutzung von Gebäudeteilen/Räumen als Physiotherapiepraxis ändere sich nichts. Es komme lediglich eine Wohnnutzung hinzu. Falsch sei auch die Behauptung, die maßgebliche Umgebung sei faktisch als reines Wohngebiet zu qualifizieren. Es handele sich vorliegend zumindest um ein allgemeines Wohngebiet, wenn nicht sogar um ein Dorfgebiet. Dies gelte umso mehr, wenn man berücksichtige, dass in der maßgeblichen Umgebung nicht nur landwirtschaftliche Betriebe, sondern auch eine Reihe (klein-)gewerblicher Nutzung vorhanden sein. Diese würden die Eigenart der näheren Umgebung prägen. Auch die bisherige Nutzung von Räumen auf dem Vorhabengrundstück als Physiotherapiepraxis seien in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Dies gelte umso mehr, dass der Nutzung gewerbliche Nutzungen vorausgegangen seien. Das Landratsamt weise zu Recht darauf hin, dass eine Praxis für Physiotherapie eine Anlage für gesundheitliche Zwecke i.S.d. § 5 Abs. 2 Nr. 7 bzw. § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO darstelle, die sowohl im Allgemeinen Wohngebiet als auch im Dorfgebiet allgemein zulässig sei. Dasselbe Ergebnis folge im Übrigen auch aus § 13 BauNVO. Die Ausführungen zum vermeintlichen Gebietserhaltungsanspruch bzw. Gebietsprägungserhaltungsanspruch gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO gingen ins Leere.
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Die vorhandene Physiotherapiepraxis werde durch den geplanten Anbau nicht vergrößert. Durch die Erweiterung werde die Anzahl der Behandlungsräume von derzeit sechs auf dann neun erhöht, was aber nicht zu einer Ausweitung des Praxisbetriebes oder einer Erhöhung der Patientenzahl führe. Die Erweiterung diene vielmehr dazu, dass jeder Therapeut zwei Behandlungsräume zu habe und sich für die Patienten so keine Wartezeiten ergäben. Damit sei weder eine erhebliche Zunahme an Patientenverkehr noch eine Zunahme an Verkehrslärm verbunden. Hinsichtlich der vorgetragenen angespannten Parksituation sei zu berücksichtigen, dass die Beigeladene ausreichend Stellplätze auf dem Grundstück zur Verfügung stelle.
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Der Beklagte wies mit Schreiben vom 15. Juni 2020 bezüglich der klägerseits als fehlerhaft dargestellt monierten Grenzverlaufes darauf hin, dass zwischen der Darstellung im Grundriss (Blatt 55 der Behördenakte) und dem gemäß § 7 Abs. 1 BauVorlV amtlich beglaubigten Auszug aus dem Katasterwerk keine Abweichung festgestellt werden könne. Grundsätzlich könnten sich Behörden und Gerichte hinsichtlich der Richtigkeit der Grenzverläufe auf die amtlichen Vermessungsunterlagen verlassen, wenn gegen deren Richtigkeit nicht konkrete Bedenken bestünden. Im Übrigen seien die Darstellung der Kläger diesbezüglich nicht belastbar. Weiter sei die Physiopraxis nach § 13 BauNVO bauplanungsrechtlich zulässig, da lediglich Räume für die Nutzung als Physiopraxis vorgesehen seien. Diese würden sich auch der Wohnnutzung unterordnen. Sowohl Alt- als auch Neubau seien als Einheit zu sehen. Der Neubau werde an die bestehende Ölzentralheizung im Kellergeschoss des Altbaus angeschlossen. Insoweit sei der Anbau nicht selbständig nutzbar. Daher seien die Wohnflächen beider Gebäude anzusetzen. Die Nutzfläche der Physiopraxis unterschreite somit entsprechend der dem Bauantrag beigelegten Flächenberechnung nach DIN 277 die Wohnflächen der beiden Gebäude. Hinsichtlich des Gebots der Rücksichtnahme werde darauf hingewiesen, dass insbesondere das Sachgebiet 44 - Technischer Umweltschutz - des Landratsamtes keine Bedenken geäußert habe.
18
Mit Schriftsatz vom 19. Juni 2020 und 6. Juli 2020 äußerte die Klägerseite Zweifel, ob die am 2. Juli 2020 seitens des Vermessungsamtes durchgeführte Vermessung ordnungsgemäß erfolgt sei. Jedenfalls habe das Vermessungsamt feststellen können, dass der Bauplan und die hierin eingezeichneten Grenzverläufe nicht mit dem Katasterplan und dem tatsächlichen Grenzverlauf übereinstimmen würden. Unabhängig von dem amtlichen Messergebnis seien daher jedenfalls die der Genehmigung zugrundeliegenden Pläne der Beigeladenen fehlerhaft. Festgestellt worden sei weiter, dass eine Bebauung des Grundstücks der Beigeladenen durch die Garage der Kläger allenfalls wenige Zentimeter betrage. Vermessen worden sei der Grenzverlauf. Für die vorliegenden Verfahren maßgeblich sei jedoch insbesondere der Abstand der bestehenden Gebäude zur Grundstücksgrenze. Diese Abstände könnten nach Mitteilung des Vermessungsamtes aufgrund der vorhandenen Geodaten berechnet werden. Insoweit werde angeregt, dies der Beklagtenseite oder der Beigeladenen aufzugeben.
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Weiter legte die Klägerseite dar, dass gemäß § 13 BauNVO die Ausübung freier Berufe bei „Wohnartigkeit“ privilegiert auch in reinen bzw. allgemeinen Wohngebieten sei, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen. Abgestellt werde auf die diesen Berufen typischerweise zugrundeliegende wohnähnliche „private Art der Berufsausübung“. Diese Berufe müssten sich innerhalb von Wohnungen ausüben lassen. Ferner müssten diese Tätigkeiten inhaltlich mit Beschäftigungen vergleichbar sein, wie sie mehr oder weniger in jeder Wohnung stattfinden könnten. Die Berufsausübung nach § 13 BauNVO dürfte daher nach Art, Gestaltung und Umfang weder qualitativ noch quantitativ die Grenzen einer wohnartigen Benutzung überschreiten. All dies sei hier nicht erfüllt. Es fehle an der Wohnartigkeit. So sollen Sportgeräte aufgestellt werden. Auch überschreite das Vorhaben die Grenzen einer wohnartigen Betätigung deutlich. Die Anzahl von elf Mitarbeitern, die Anzahl von neun Behandlungsräumen neben zwei Geräteräumen und das Abhalten von Gruppentherapien zeige, dass es an der wohnartigen Nutzung fehle. Durch die Nutzung der Geräte, lautstarkes Unterhalten der Kursteilnehmer und Patienten und den An- und Abfahrtsverkehr würde die Nachbarschaft massiv gestört werden. Die Nutzung sei nicht mit der Wohnruhe eines reinen Wohngebietes vereinbar. Auch fehle es an der Ausübung der Tätigkeit in einzelnen Räumen wie es § 13 BauNVO fordere. Der Charakter des Plangebiets müsse erhalten bleiben. Eine zu starke freiberufliche Nutzungsweise habe die planerisch unerwünschte Wirkung einer Zurückdrängung der Wohnnutzung und damit einer zumindest teilweisen Umwidmung des Plangebietes. Daher dürfe die freiberufliche Nutzung für das einzelne Gebäude nicht prägend sein. Dies sei hier nicht gegeben, denn ein Flächenvergleich zeige, dass die Wohnnutzung im Verhältnis zur gewerblichen Nutzung eine untergeordnete Fläche einnehmen werde. Die Wohnnutzung im Dachgeschoss habe eine Fläche von 225,92 m2, die Physiopraxis eine Fläche von 241,31 m2.
20
Eine etwaige Genehmigung der Praxis ergebe sich auch nicht aus einer vorangegangenen gewerblichen Nutzung. Das streitgegenständliche Gebäude sei vorher als Laden benutzt worden. Der Betrieb einer Physiopraxis führe insbesondere im Hinblick auf die Zulässigkeit von Betrieben gemäß BauNVO zu einer Genehmigungspflichtigkeit. Es sei ohnehin fraglich, inwieweit eine Genehmigung aus dem Jahre 1967 noch Gültigkeit habe. Vorangegangene gewerbliche Nutzungen seien nicht maßgeblich. Diese waren nicht mit einem regelmäßigen und überdies allenfalls untergeordneten Kundenverkehr verbunden. Insbesondere das in den Räumen des Ladens untergebrachte Gewerbe der Tochter der Kläger sei vom Umfang des Gewerbes nicht vergleichbar gewesen und überdies vor vielen Jahren aufgegeben worden.
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Im Hinblick auf die Anzahl der im Betrieb tätigen Personen werde auf den Genehmigungsantrag verwiesen, der maßgeblich sei. Auch die von der Beigeladenen mit Schreiben vom 22. Juni 2020 vorgelegte Liste an Gewerbegebieten bestätige die Annahme, dass hier ein reines Wohngebiet vorliege. Es handele sich um Postadressen von Gewerbebetrieben, die keinerlei Kundenverkehr begründen würden, z. B. Discjockey, der Betrieb einer Photovoltaikanlage, Hausmeisterservice o.ä.
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Die Beigeladene bezog sich im Schreiben vom 22. Juni 2020 und 14. Juli 2020 hinsichtlich des Grenzverlaufs im Wesentlichen auf die Aussagen der Kläger und auf die am 2. Juli 2020 im Auftrag der Beigeladenen vom Vermessungsamt durchgeführten Grenzwiederherstellung hinsichtlich der Flur-Nrn. …, …, Gemarkung …, und Gebäudeeinmessung nach Art. 8 VermKatG hinsichtlich Flur-Nr. …, Gemarkung … mit beigefügter Kartenbeilage zur Gebäudeeinmessung. Klägerseits geäußerte Zweifel an der ordnungsgemäßen Vermessung seitens des Vermessungsamtes seien nicht nachvollziehbar. Die seitens des Landratsamtes erteilte Abweichung sei nötig, weil das ordnungsgemäß genehmigte Bestandsgebäude an einer Gebäudeecke den gesetzlich gebotenen Mindestabstand minimal unterschreite. Die Nachvermessung habe nichts Anderes ergeben. Sie habe im Übrigen auch ergeben, dass sich das Garagengebäude der Kläger anteilig auf dem Grundstück der Beigeladenen befinde. Im Übrigen komme es nicht darauf an, ob der vor Jahrzehnten genehmigte und errichtete Bestand die Mindestabstandsfläche zur Grundstücksgrenze an einer Gebäudeecke zentimetergenau einhalte. Auf eine vermeintliche Verletzung von Abstandsflächen durch das Bestandsgebäude könnten sich die Kläger, wie sich aus der Historie ergebe, ohnehin nicht berufen. Mit Bescheid vom 3. Oktober 1967 seien dem damaligen Eigentümer des Grundstückes der Beigeladenen „bauliche Änderungen am Laden“ genehmigt worden. Das Bauvorhaben „Neubau eines Ladens, Einbau einer Ölheizung“ sei am 1. Dezember 1967 baubehördlich abgenommen worden. Bezug genommen sei dabei jeweils auf die Ausgangsbaugenehmigung vom 19. April 1967, die der Beigeladenen nicht vorliege. Die genehmigten Grundrisspläne für den streitgegenständlichen Ladenanbau würden jedoch deutlich zeigen, dass nach den seinerzeitigen Planunterlagen die erforderliche Abstandsfläche (mit 3,70 m bemaßt) eingehalten worden sei. Der damalige Eigentümer des Grundstücks der Kläger, Herr … …, habe dem Bauvorhaben des seinerzeitigen Eigentümers des nunmehr im Eigentum der Beigeladenen befindlichen Nachbargrundstückes durch Unterschrift zugestimmt. Überdies sei darauf hinzuweisen, dass die Beigeladene das Aufbringen des Wärmedämmverbundsystems nicht beabsichtige.
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Jedenfalls seit Mitte der 1990er-Jahre bis in das Jahr 2011 seien die verfahrensgegenständlichen Gewerberäume als „Bundeswehrladen“ benutzt worden. Vor dieser Zeit sei der Laden als Lebensmittelladen bzw. Metzgerei genutzt worden. Ab dem Jahre 2005 könne die gewerbliche Nutzung auch bei der Stadt … nachvollzogen werden. Von Juni 2011 bis Oktober 2012 sei einerseits der Ausverkauf des Bundeswehrshops erfolgt, andererseits habe die Tochter der Kläger unter der Bezeichnung „…“ einen von einem überörtlichen Kundenkreis besuchten Reiterladen bis September 2013 betrieben. Aufgrund von Verkaufsabsichten seien die Gewerberäume bis Juli 2015 leer gestanden. Hieraus und aus der beigefügten Auflistung der Stadt … über aktuelles Gewerbe ergebe sich, dass das streitgegenständliche Gebäude seit 1967 auf einen überörtlichen Kundenkreis ausgerichtet genutzt worden sei und daher bei der Ermittlung der Eigenart der näheren Umgebung maßgeblich ins Gewicht falle. Die Umgebungsbebauung könne keinesfalls als reines oder allgemeines Wohngebiet angesehen werden. Die vorhandene Landwirtschaft würde ebenso wie die in der näheren Umgebung befindlichen forstwirtschaftlichen Betriebe die „Eigenart der näheren Umgebung“ prägen. Daher sei die maßgebliche Umgebung als Dorfgebiet i.S.d. § 5 BauNVO einzustufen.
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Das auf dem Grundstück der Beigeladenen befindliche Wohnhaus verfüge im Erdgeschoss über ca. 75 m2 Wohnfläche, im Dachgeschoss über ca. 50 m2 (abzüglich Dachschrägen). Das bestehende Wohnhaus und der Anbau würden bereits jetzt einheitlich mit einer einzigen Heizungsanlage sowie über einen einzigen Wasser- und Stromanschluss versorgt. Dies bleibe auch nach dem Umbau so, lediglich würde die Ölheizung durch eine Pelletsheizung ersetzt.
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Hinsichtlich der Nutzungsänderung in eine Physiopraxis, die seit dem 11. Juli 2015 durch den Ehemann der Beigeladenen betrieben werde, gebe es keine Baugenehmigung, da nach damaliger Aussage von Herrn … vom Landratsamt … eine Genehmigungspflichtigkeit nicht vorliege, soweit lediglich die bisher als Ladengeschäft betriebenen Gewerberäume als Physiotherapiepraxis genutzt würden. Eine Genehmigungspflicht bestünde demnach nur, wenn beabsichtigt sei, bisher als Wohnraum genutzte Räume umzunutzen, da in den Ladenräumen eine gewerbliche Nutzung genehmigt sei. Ohnehin sei die Baugenehmigung nicht etwa deshalb rechtswidrig, weil sie angeblich einen genehmigten Bestand der Physiopraxis voraussetze, welcher nicht vorliege. Wie der streitgegenständlichen Baugenehmigung zu entnehmen sei, habe das Landratsamt die Betriebsbeschreibung vom 25. Oktober 2019 zum Bestandteil der Baugenehmigung gemacht und somit zu Recht den Betrieb der Physiotherapiepraxis, mithin den Gesamtbetrieb, genehmigt. Das Landratsamt habe also den Gesamtbetrieb einer bauaufsichtlichen Prüfung unterzogen, wie sich auch aus dem Schriftsatz vom 22. April 2020 ergebe. Daher komme es nicht darauf an, ob die Nutzungsänderung in 2015 einer Baugenehmigung bedurft hätte. Dies gelte umso mehr, als es für die Beurteilung nach § 34 BauGB auf den tatsächlichen Bestand ankomme und die Kläger bis zum streitgegenständlichen Verfahren keine Einwände erhoben hätten. Auch sei die Genehmigung von 1967 selbstverständlich noch maßgeblich, da sie die maßgebliche Art der baulichen Nutzung prägen, was auch für den bislang erfolgten Betrieb der Physiopraxis gelte.
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Von den zwölf Stellplätzen seien lediglich acht für die Praxis vorzuhalten. Sofern im Einzelfall die vorgesehenen Stellplätze von den Kunden nicht genutzt würden, habe dies keine Auswirkungen auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Genehmigungen. Die Fitnessgeräte seien bereits seit fünf Jahren in der Praxis vorhanden und würden allein im medizinischen und therapeutischen Bereich genutzt. Sie seien für die Zulassung „Krankengymnastik am Gerät“ und die medizinische Trainingstherapie (MTT) notwendig. Die Geräte würden ausschließlich von Patienten im Rahmen eines auf ihre persönlichen Therapieziele zugeschnittenen Trainingsplanes genutzt. Bei der monierten „Gruppentherapie“ handele es sich um eine Kassenleistung im Bereich der Krankengymnastik am Gerät bzw. der medizinischen Trainingstherapie. Der Ehemann der Beigeladenen sei zertifizierter Rückenschullehrer und biete in diesem Bereich von der Krankenkasse geförderte Kurse an. Einschließlich des Ehemanns der Beigeladenen seien in der Physiotherapiepraxis bislang zwei Vollzeit- und drei Teilzeitkräfte als Physiotherapeuten tätig, die in Schichten zu maximal drei Therapeuten je Schicht arbeiten würden. Hierbei werde es auch nach dem Umbau bleiben. In der Praxis würde jetzt und auch nach dem Umbau im 10-Minuten-Takt behandelt, sodass gleichzeitig maximal sechs Patienten in der Praxis seien. Somit sei das Vorhaben nach § 13 BauNVO genehmigungsfähig.
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Aus von dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Emails des Vermessungsamtes ergibt sich, dass der Anbau (Bestand) am westlichen Ende einen Abstand zur Grundstücksgrenze von 2,76 m hat.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung mit Augenscheinseinnahme vom 11. September 2020 samt Lichtbildern Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Streitgegenstand ist der Bescheid des Beklagten vom 18. März 2020. Zwar hat die Beigeladene in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll des Gerichts erklärt, den gestellten Bauantrag hiermit dahingehend abzuändern, dass auf das Anbringen der Dämmung am Anbau verzichtet wird. Der Beklagte hat hierzu zu Protokoll erklärt: „Soweit der Bauantrag hiermit verändert bzw. das Vorhaben verkleinert wird, passen wir unseren Baugenehmigungsbescheid entsprechend an und nehmen das Wärmeverbundsystem aus der Baugenehmigung aus.“ Die Klägerseite erklärte wiederum, mit der Herausnahme nicht einverstanden zu sein.
30
Unabhängig davon, ob in den abgegebenen Erklärungen eine Klageänderung zu sehen ist und ob diese zulässig wäre, ist die in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärte Änderung der Baugenehmigung durch den Vertreter des Beklagten unbeachtlich, denn die Baugemehmigung bedarf der Schriftform, Art. 68 Abs. 2 Satz 1 BayBO, woran es hier fehlt. Ein schriftlicher Verwaltungsakt muss die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder Beauftragten enthalten (Art. 37 Abs. 3 BayVwVfG). Diesem Formerfordernis wird die vom Bevollmächtigten des Beklagten zu Protokoll erklärte Bescheidsänderung nicht gerecht. Diese in der vorläufigen Protokollaufzeichnung (vgl. § 160a Abs. 1 ZPO) festgehaltene Erklärung ist vom Bevollmächtigten des Beklagten weder unterschrieben (also eigenhändig unterzeichnet) noch durch seine Namenswiedergabe (darunter ist die maschinengeschriebene, faksimilierte oder auch gedruckte, beglaubigte Namenswiedergabe zu verstehen - vgl. Lechner in Simon/Busse, BayBO, 138. EL September 2020, Art. 68 Rn. 455) gedeckt (vgl. BayVGH, U.v. 30.8.1984 - 2 B 83 A. 1265 - juris). Auch der Umstand, dass diese Erklärung zu Protokoll des erkennenden Gerichts abgegeben wurde, genügt dem Schriftformerfordernis nicht (vgl. BayVGH, U.v. 30.8.1984 - 2 B 83 A. 1265, B.v. 17.12.1991 - 2 CS 91.3208 - beide juris). Die gerichtliche Protokollierung ersetzt die vorgeschriebene Form nur im Fall eines gerichtlichen Vergleichs, § 127a, § 126 Abs. 4 BGB (vgl. BayVGH, U.v. 30.8.1984 - 2 B 83 A. 1265 - juris).
31
Die somit nicht formgerecht erklärte Bescheidsänderung wurde überdies nicht wirksam bekanntgegeben, Art. 43 BayVwVfG. Ein Verwaltungsakt wird gegenüber dem Adressaten und den sonst von ihm Betroffenen in dem Zeitpunkt wirksam, in denen er ihnen bekanntgegeben wird (Art. 43 Abs. 1 BayVwVfG). Bei Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsakts ist, sofern nicht ein anderer Zeitpunkt gesetzlich bestimmt ist (vgl. z. B. Art. 41 Abs. 2 BayVwVfG), nicht der Zeitpunkt maßgeblich, in dem der Empfänger Kenntnis nimmt, sondern (entsprechend § 130 BGB) der Zeitpunkt, in dem das bekanntzugebende Schriftstück in seinen Machtbereich gelangt und bei gewöhnlichem Verlauf und normaler Gestaltung der Verhältnisse mit der Kenntnisnahme durch den Empfänger zu rechnen ist (vgl. BayVGH, U.v. 30.8.1984 - 2 B 83 A. 1265 - juris). Da in dem für die Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine schriftliche Fertigung der zu Protokoll erklärten Bescheidsänderung zugegangen ist, fehlt es somit außerdem an der Bekanntgabe der Bescheidsänderung, die deshalb keine Wirksamkeit erlangt hat.
32
Im Übrigen genügt auch die zu Protokoll abgegebene Erklärung der Beigeladenen, den Bauantrag zu ändern, nicht der erforderlichen Schriftform, Art. 64 Abs. 1 Satz 1 BayBO (vgl. Gaßner/Reuber in Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 64 Rn. 49 mit weiteren Nachweisen).
33
Anhaltspunkte dahingehend, dass die Beigeladene mit ihrer Erklärung in der mündlichen Verhandlung, den Bauantrag abzuändern, gleichzeitig erklärt hat, auf den ursprünglichen Bauantrag bzw. die erteilte Baugenehmigung vom 18. März 2020 zu verzichten, sind nicht ersichtlich. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass ein Bauherr nicht ohne weiteres sein beantragtes Bauvorhaben aufgibt, mit der Folge, dass das Rechtschutzbedürfnis entfällt, wenn er z. B. im verwaltungsgerichtlichen Verfahren seine Bereitschaft zur Abänderung erklärt, da er einen entsprechenden Antrag auch für weitere vom ursprünglichen Vorhaben abweichende Vorhaben stellen kann (vgl. Gaßner/Reuber in Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 64 Rn. 51). Im Übrigen hat die Beigeladene bereits mit der Verwirklichung des Vorhabens aufgrund der Baugenehmigung vom 18. März 2020 begonnen.
34
Da somit die Baugenehmigung vom 18. März 2020 weiter fortbesteht und die Beigeladene hieraus weiter Rechte ableitet, ist die Baugenehmigung vom 18. März 2020 maßgeblicher Streitgegenstand der Klage.
35
Die zulässige Klage ist begründet.
36
1. Die fristgerecht erhobene Klage ist auch im Übrigen zulässig.
37
a) Die Kläger haben das Klagerecht nicht verwirkt. Der Umstand, dass die Kläger bis zum jetzigen Verfahren keine Einwände gegen den seit 2015 laufenden Betrieb der Physiotherapiepraxis erhoben haben, führt nicht etwa dazu, dass sich die Kläger auf ihr Klagerecht nicht mehr berufen können. Die prozessuale Verwirkung des Klagerechts durch Zeitablauf ist ein Fall unzulässiger Rechtsausübung und setzt einen längeren, bewusst nicht zur Klageerhebung genutzten Zeitraum voraus, an den der rechtlich Verpflichtete das Vertrauen knüpfen durfte und auch erkennbar knüpfte, dass das Recht nicht mehr geltend gemacht werde (vgl. BVerwG, U.v. 10.8.2000 - 4 A 11/99 - juris; Brenner in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018 - § 74 Rn. 56 ff.). Hieran fehlt es hier ganz ersichtlich. Den Klägern ist es unbenommen, den streitgegenständlichen Umbau der Physiotherapiepraxis mit Erweiterung und den Neubau einer Wohnung über der Praxis mit Rechtsmitteln anzugreifen und dies auch mit dem Einwand der bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit hinsichtlich der Art der Nutzung. Ein Vertrauen der Beigeladenen, dass die Kläger sich gegen den Betrieb der Physiotherapiepraxis nicht mehr wenden werden, kann nämlich - wenn überhaupt - allenfalls gegenüber dem seit 2015 bestehenden Betrieb der Praxis in den Erdgeschoßräumen des Anbaus angenommen werden. Die Beigeladene konnte aber gerade nicht darauf vertrauen, dass die Kläger gegen die nun streitgegenständliche Baugenehmigung für den Umbau und die Erweiterung der Physiotherapiepraxis und den Neubau einer Wohnung über der Physiopraxis nicht mehr vorgehen werden, ganz abgesehen davon, dass für die bestehende Physiotherapiepraxis bislang kein Baurecht erteilt wurde.
38
b) Das Klagerecht ist auch nicht durch die seitens der Beigeladenen vorgetragene Zustimmung des Rechtsvorgängers der Kläger zu dem 1967 genehmigten Ladenanbau des Rechtsvorgängers der Beigeladenen entfallen, denn eine erteilte Zustimmung betrifft immer nur das Bauvorhaben, zu dem zugestimmt wurde. So bleiben die Nachbarrechte bestehen, wenn die unterschriebenen Bauvorlagen vom Bauherrn/Behörde in nachbarrechtlich bedeutsamer Weise geändert werden (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 66 Rn. 155). Nicht anders liegt es hier. Die vorgetragene Zustimmung des seinerzeitigen Rechtsvorgängers der Kläger betraf einzig den Anbau als Laden und nicht die jetzt streitgegenständliche Erweiterung und den Umbau der Physiopraxis mit Neubau einer Wohnung über der Praxis. Wenn vorgetragen wird, dass seinerzeit die Abstandsfläche mit 3,70 m (so die mit Schriftsatz vom 22.6.2020 vorgelegte Anlage B8) bemessen wurde, so wird dadurch allenfalls deutlich, dass das Bauvorhaben planwidrig errichtet wurde oder aber die damals vorgelegten Pläne nicht den tatsächlichen Grenzverlauf wiedergeben.
39
c) Auch das Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Wie bereits ausgeführt, ist die Baugenehmigung vom 18. März 2020 durch die Erklärungen von Beigeladener und Beklagtem in der mündlichen Verhandlung unangetastet geblieben und entfaltet weiter Rechtswirkungen. Schließlich ist das Rechtschutzbedürfnis auch nicht durch die fehlende Antragstellung seitens der Kläger in der mündlichen Verhandlung entfallen. Eine versehentlich unterbliebene Antragstellung aller Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ist unschädlich, denn in diesem Fall gelten, wie beim Fehlen eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, die schriftsätzlich angekündigten Anträge (vgl. hierzu: Brüning in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 55. Ed. Stand: 01.01.2020, § 101 Rn. 13). Insbesondere kann hieraus nicht auf ein fehlendes Rechtschutzinteresse der Kläger geschlossen werden, was in der Regel anzunehmen ist, wenn ein Kläger in der mündlichen Verhandlung, trotz Aufforderung zur Antragstellung, keinen Sachantrag stellt (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 28.01.2009 - 15 ZB 08.3062 - juris).
40
2. Die Klage ist auch begründet.
41
Der Bescheid des Beklagten vom 18. März 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
42
Die objektive Verletzung einer Rechtsnorm allein genügt für den Erfolg der Nachbarklage nicht. Im gerichtlichen Verfahren findet keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt, die Prüfung hat sich im Falle der Drittanfechtungsklagen vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften (Schutznormtheorie, vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris), die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris). Weiter ist nur die Verletzung von Normen maßgeblich, die zum Prüfungsumfang im bauaufsichtlichen Verfahren gehören. Bei dem Bauvorhaben der Beigeladenen handelt es sich um keinen Sonderbau, sondern um ein Gebäude der Gebäudeklasse 2 (Art. 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BayBO). Somit kommt das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO zur Anwendung.
43
a) Die Kläger können sich auf die Verletzung drittschützender Vorschriften des Bauplanungsrechts, das zum Prüfumfang im vereinfachten Genehmigungsverfahren gehört (Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO), berufen. Der Gebietserhaltungsanspruch der Kläger ist verletzt. Das Bauvorhaben der Beigeladenen ist im faktischen allgemeinen Wohngebiet seiner Art nach bauplanungsrechtlich unzulässig, § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO i.V.m. § 13 BauNVO. § 34 Abs. 2 BauGB kommt nachbarschützende Funktion zu. Auf die individuelle Betroffenheit des Nachbarn kommt es nicht an. Vielmehr gilt hinsichtlich des Nachbarschutzes dasselbe wie bei einer Festsetzung eines Baugebietes durch einen Bebauungsplan. Auch in einem faktischen Baugebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB besteht ein Gebietserhaltungsanspruch, so dass sich ein Eigentümer auch dann gegen die Zulassung einer gebietsfremden Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 22.12.2011 - 4 B 32.11 - juris, B.v. 13.12.1995 - 4 B 245/95 - juris Rn. 5).
44
(1) Ausgangspunkt der bauplanungsrechtlichen Beurteilung ist § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Danach ist ein - wie hier - im unbeplanten Innenbereich gelegenes Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung allerdings einem der Baugebiete, die in der aufgrund des § 9a BauGB erlassenen Verordnung bezeichnet sind, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre; auf die nach der Verordnung ausnahmsweise zulässigen Vorhaben ist § 31 Abs. 1 BauGB, im Übrigen ist § 31 Abs. 2 BauGB entsprechend anzuwenden (§ 34 Abs. 2 BauGB). Dann richtet sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der BauNVO in dem Baugebiet allgemein zulässig ist, § 34 Abs. 2 BauGB. Es bedarf diesbezüglich gerade keiner Prüfung mehr, ob sich das Vorhaben in seine Umgebung einfügt (vgl. BVerwG, B.v. 12.2.1990 - 4 B 240/89 - juris).
45
Nach Überzeugung des Gerichts entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem allgemeinen Wohngebiet i.S.d. § 4 BauNVO, denn das Gebiet dient vorwiegend dem Wohnen.
46
Die Fragen, wie die nähere Umgebung abzugrenzen und wie ihre Eigenart zu bestimmen ist, beantworten sich in gleicher Weise wie bei § 34 Abs. 1 BauGB. Zur Beurteilung, wie weit die nähere Umgebung reicht, ist maßgebend darauf abzustellen, wie weit sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und wie weit die Umgebung den bodenrechtlichen Charakter des Vorhabengrundstücks prägt oder doch beeinflusst (st. Rspr., vgl. BVerwG, Urt. v. 26.5.1978 - IV C 9.77 - juris). Welcher räumliche Bereich im Rahmen dieser wechselseitigen Prägung die „nähere Umgebung“ im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB umfasst, lässt sich deshalb nicht schematisch, sondern nur nach der jeweiligen tatsächlichen städtebaulichen Situation bestimmen, in die das Vorhabengrundstück eingebettet ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.8.2003 - 4 B 74.03 - juris, VGH BW, B.v. 11.5.2015 - 3 S 2420/14 - juris). Auch kann die Rechtsprechung zur Abgrenzung des Innenzum Außenbereich auf die Abgrenzung der näheren Umgebung i.S.d § 34 Abs. 1 sinngemäß übertragen werden. Bei Berücksichtigung topographischer Gegebenheiten kann sich z. B. ergeben, dass unmittelbar aneinandergrenzende Grundstück gleichwohl unterschiedlichen Baugebieten angehören, etwa wenn einem Steilhang im Grenzbereich eine trennende Funktion zukommt (vgl. BVerwG, B.v. 20.8.1999 - 4 B 79.98 - juris). Auch eine Straße und ihr Verkehrslärm können eine Abgrenzung der näheren Umgebung bedeuten (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1994 - 4 C 13.93 - juris). Für diese Beurteilung ist alles an Bebauung in den Blick zu nehmen, was tatsächlich vorhanden ist und nach außen wahrnehmbar in Erscheinung tritt (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10/18 - juris Rn. 15).
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Der maßgebende Bereich der näheren Umgebung wird einerseits abgegrenzt durch die … Straße, eine Staatsstraße, die optisch eine abtrennende Wirkung hat. Die nähere Umgebung erstreckt sich weiter entlang des …, dessen Bebauung beidseitig der Straße in die Betrachtung miteinbezogen wird. Südwestlich des Vorhabengrundstücks findet sich eine deutliche optische Zäsur aufgrund der nicht vorhandenen Bebauung in diesem Bereich. Auch die Bebauung beidseitig der … gehört zum maßgebenden Bereich der näheren Umgebung und zwar bis auf Höhe der Hausnummer *. Der noch weiter südlich gelegene Abschnitt der … und der … sind aufgrund der Entfernung und dem mangelnden wechselseitigen Einfluss von Umgebungsbebauung und Vorhabengrundstück nicht mehr zu betrachten. Die beklagtenseits genannten weiter entfernt liegenden durch Bebauungsplan festgesetzten Gebiete sind ebenso nicht von Belang, haben aber im Übrigen nach Vortrag des Beklagten auch die Festsetzung eines allgemeinen Wohngebietes zum Inhalt.
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Auch der von dem Beklagten erwähnte landwirtschaftliche Betrieb befindet sich nicht mehr in der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks. Wie der Ortsaugenschein ergeben hat, kann man lediglich auf Höhe des Anwesens …, auf Höhe der Garage der Beigeladenen, über das gegenüberliegende Anwesen hinweg das rote Dach eines tiefer liegenden landwirtschaftlichen Betriebs in einiger Entfernung sehen. Weder hat das Vorhabengrundstück Auswirkungen auf den landwirtschaftlichen Betrieb noch prägt dieser den bodenrechtlichen Charakter des Vorhabengrundstücks und dies bereits aufgrund der Entfernung, der Baulücke zwischen der Bebauung entlang des … und dem landwirtschaftlichen Anwesen, der Straßenführung und den topographischen Begebenheiten.
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Die maßgebliche nähere Umgebung i.S.v. § 34 Abs. 2 BauGB entspricht einem allgemeinen Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO. Allgemeine Wohngebiete dienen überwiegend dem Wohnen, § 4 Abs. 1 BauNVO. Im allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig sind Wohngebäude, die der Versorgung des Gebiets dienenden Läden, Schank- und Speisewirtschaften und nicht störende Handwerksbetriebe sowie Anlagen für kirchliche, kulturelle, soziale, gesundheitliche und sportliche Zwecke, § 4 Abs. 2 BauNVO. Ausnahmsweise zugelassen werden können Betriebe des Beherbergungsgewerbes, sonstige nicht störende Gewerbebetriebe, Anlagen für Verwaltungen, Gartenbaubetriebe und Tankstellen, § 4 Abs. 3 BauNVO.
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Die nähere Umgebung des Vorhabens zeichnet sich aus durch eine Wohnbebauung mit Ein- und vereinzelt Zweifamilienhäusern. Abzustellen ist auf die vorhandene Bebauung (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2020 - 15 CS 19.2013 - juris). Nach dem Ergebnis des Ortsaugenscheins ist fraglich, ob die in der von der Beigeladenen übersandten Liste von Gewerben genannten Gewerbe überhaupt vorhanden sind. Doch selbst bei Annahme ihrer Existenz hindern diese die Einordnung der näheren Umgebung als faktisches allgemeines Wohngebiet nicht. Die Wohnnutzung überwiegt dennoch zahlenmäßig deutlich. Zum Anwesen …, einem größeren Haus mit einem Glasvorbau, gibt die Beigeladene unwidersprochen an, dass hier bis zum 31. September 2019 ein Blumengeschäft bestanden habe. Von dem in der Gewerbeliste für dieses Anwesen aufgeführten Kfz-Handel ist keinem der Beteiligten etwas bekannt und auch vor Ort nichts ersichtlich. Eine Beschilderung o.ä. ist nicht vorhanden. Dennoch verliert auch die aufgegebene Nutzung als Blumengeschäft nicht automatisch die prägende Kraft. Die Prägung dauert fort, solange mit einer Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen ist. Innerhalb welcher zeitlichen Grenzen Gelegenheit besteht, an die früheren Verhältnisse wiederanzuknüpfen, bestimmt sich nach der Verkehrsauffassung (vgl. BVerwG, B.v.2.10.2007 - 4 B 39/07 - juris Rn. 2). Danach rechnet die Verkehrsanschauung im ersten Jahr stets mit dem Wiedernahme. Im zweiten Jahr spricht für die Annahme, dass die Verkehrsauffassung einen Wiedernahme noch erwartet, eine Regelvermutung, die im Einzelfall entkräftet werden kann. Nach Ablauf von zwei Jahren kehrt sich diese Vermutung um (vgl. BayVGH, U.v. 21.6.2007 - 26 B 05.3141 - juris Rn. 16). Aufgrund der weniger als ein Jahr zurückliegenden Aufgabe des Blumenladens ist nach der zitierten Rechtsprechung von einer Prägung der Umgebung weiter auszugehen. Andererseits ist in keinster Weise substantiiert vorgetragen noch ersichtlich, dass diese Nutzung wiederaufgenommen werden soll. Vielmehr ist wohl ein Kfz-Handel angedacht gewesen, der aber nicht verwirklicht wurde. Letztlich kann die Frage offenbleiben, denn selbst bei Annahme einer Prägung der Umgebung durch den Blumenladen, hindert dieser die Einordnung des Gebiets als allgemeines Wohngebiet keineswegs. Ein Blumenladen ist ein zulässiger Laden im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO (vgl. hierzu: OVG Saarland, B.v. 4.12.1995 - 2 W 45/95 - juris Rn. 10 f.) und wäre überdies jedenfalls ausnahmsweise zulässig (§ 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO). Die gelistete Photovoltaikanlage am Anwesen … ist unproblematisch zulässig, § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 BauNVO. Dasselbe gilt für das beim Ortstermin für den … genannte Steuerbüro, § 13 BauNVO, wobei auch hier fraglich ist, ob dieses besteht, denn vor Ort ergab sich hierauf keinerlei Hinweis. Am Anwesen … - laut Gewerbeliste ist ein Gewerbe für Textil- und Holzdruck angemeldet - findet sich keinerlei Hinweis auf eine gewerbliche Nutzung. Einzig am Vorhabengrundstück selbst ist ein Hinweisschild auf den gelisteten Garten- und Landschaftsbaubetrieb angebracht, ohne dass aber sonst in irgendeiner Weise ersichtlich ist, dass dieses Gewerbe tatsächlich betrieben wird. Selbst bei Existenz der genannten Gewerbebetriebe hindern diese jedenfalls die Annahme eines faktischen allgemeinen Wohngebietes nicht, denn ohnehin sind sonstige nicht störende Gewerbebetriebe ausnahmsweise zulässig, § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO bzw. ergibt sich die Zulässigkeit aus § 13 BauNVO. Entscheidend ist, dass die ausnahmsweise zulässigen Vorhaben Ausnahmen bleiben und somit den Gebietscharakter nicht prägen, was der Fall ist, denn die Wohnnutzung überwiegt in der näheren Umgebung zahlenmäßig ganz deutlich. Selbst bei Inbezugnahme der vom Vorhabengrundstück bereits in einiger Entfernung liegenden Anwesen … und …, wo laut Gewerbeliste ein Discjockey und ein IT-Service gemeldet sind, ist von einem faktischen allgemeinen Wohngebiet auszugehen, denn diese sind gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO oder § 13 BauNVO unproblematisch zulässig.
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Schließlich ändert auch das zwischen …, … und der Staatsstraße, der … Straße, befindliche Gebäude, das optisch den Eindruck einer Scheune macht, nichts an der Einordnung der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks als allgemeines Wohngebiet, denn nicht jede vorhandene Bebauung bestimmt den Charakter der näheren Umgebung. Die Scheune ist optisch deutlich abgesetzt von der übrigen Bebauung im … und in Richtung … Straße ausgerichtet. Sie wird insbesondere in Richtung des Vorhabengrundstücks von optisch trennenden Grünfläche umgeben. Das Gebäude ist zudem in Richtung Vorhabengrundstück nahezu vollständig von Pflanzen überwuchert. Das Gebäude hat daher nach Auffassung der Kammer keine prägende Wirkung (vgl. BVerwG, U.v. 15.2.1990 - 4 C 12/86 - juris) auf das Bauvorhaben und umgekehrt. Im Hinblick auf die übrige homogene, überwiegend wohngenutzte Umgebung stellt sich dieses Grundstück mit seiner Nutzung als Fremdkörper dar.
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Wie bereits dargestellt, ist hinsichtlich der Einordnung der näheren Umgebung auf die vorhandene Bebauung abzustellen, damit auch auf die auf dem Vorhabengrundstück vorhandene Bebauung (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10.18 - juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 7.2.2020 - 15 CS 19.2013 - juris Rn. 37). Das Vorhabengrundstück ist mit einem Wohnhaus mit Anbau bebaut. Aus dem Jahr 1967 liegt bezüglich des Anbaus eine Baugenehmigung zum Neubau eines Ladens vor. Der Anbau wurde nach unwidersprochenen Angaben der Beigeladenen zunächst als Laden und Metzgerei genutzt worden, seit Mitte der 90er Jahre bis 2011 dann als „Bundeswehrladen“. Von Juni 2011 bis Oktober 2012 sei einerseits der Ausverkauf des Bundeswehrshops erfolgt, andererseits habe die Tochter der Kläger unter der Bezeichnung „…“ einen Reiterladen bis September 2013 betrieben. Danach seien die Räumlichkeiten bis Juli 2015 leergestanden. Seit Juli 2015 wird der Anbau als Physiopraxis genutzt. Eine Baugenehmigung für diese Nutzung ist nicht vorhanden.
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Auch formell nicht genehmigte und sogar materiell nicht zu genehmigende Bauten sind bei der Einordnung der näheren Umgebung zu betrachten. Sie bleiben nur außer Betracht, wenn die Baubeseitigung konkret im Raum steht (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2020 - 15 CS 19.2013 - juris Rn. 31), was hier jedoch nicht der Fall ist.
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Der auf dem Vorhabengrundstück befindliche Anbau bleibt hier dennoch bei der Einordnung der näheren Umgebung unberücksichtigt. Bei der Prüfung nach § 34 Abs. 2 BauGB, ob die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete nach der Baunutzungsverordnung entspricht, ist ein bereits verwirklichtes Vorhaben nicht zu berücksichtigen, das selbst Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Beurteilung ist (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10/18 - juris Rn. 17). Der Wortlaut des § 34 Abs. 1 und 2 BauGB unterscheidet zwischen dem Vorhaben und der näheren Umgebung. Das Vorhaben selbst ist nicht Teil seiner näheren Umgebung, sondern muss sich in diese einfügen. Ungenehmigte Anlagen und Nutzungen mögen daher zwar für andere Vorhaben Teil der näheren Umgebung sein, sie sind aber selbst nicht zugleich Vorhaben und Umgebung. Bei der Ermittlung des Gebietscharakters ist ein Bauvorhaben daher unbeachtlich, das als Gegenstand der Prüfung nicht zugleich Prüfungsmaßstab sein kann. Diese Grundsätze gelten auch und gerade im Baunachbarstreit (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10/18 - juris Rn. 17 mit weiteren Nachweisen). Der Bauherr legt durch seinen Genehmigungsantrag den Inhalt des Vorhabens fest (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10/18 - juris Rn. 25). Das streitgegenständliche Bauvorhaben besteht laut Bauantrag und den vorgelegten Bauunterlagen in einem Umbau des bestehenden, derzeit als Physiotherapiepraxis genutzten Anbaus mit baulicher Erweiterung und dem Neubau einer Wohnung über bestehendem Anbau, wobei auch das Dachgeschoss des Erweiterungsbaus als Wohnung genutzt werden soll. Damit ist der streitgegenständliche Anbau, in dem sich bereits die Physiotherapiepraxis befindet, gerade auch Gegenstand der Prüfung und muss daher bei der Beurteilung nach § 34 Abs. 2 BauGB außer Betracht bleiben. Überdies führte selbst der Bevollmächtigte der Beigeladenen aus, dass das Landratsamt bei der nun streitgegenständlichen Baugenehmigung den Gesamtbetrieb der Physiotherapiepraxis einer bauaufsichtlichen Prüfung unterzogen habe und den Gesamtbetrieb der Physiotherapiepraxis genehmigt habe. Zudem entspricht die Nichtberücksichtigung des Anbaus besonders auch in Fällen wie dem hier zu entscheidenden der Billigkeit, denn andernfalls könnte ein Bauherr durch eigenmächtiges Schaffen von Fakten den Gebietscharakter der näheren Umgebung ändern und sich damit zu einem Baurecht verhelfen, das ihm sonst nicht zustehen würde. Die bis 2013 vorhandenen gewerblichen Nutzungen sind bereits deshalb ohne Belang, da sie schon mehrere Jahre aufgegeben wurden und nicht mehr mit einer Wiederaufnahme zu rechnen ist (vgl. hierzu: BayVGH, U.v. 21.6.2007 - 26 B 05.3236 - juris).
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Selbstverständlich ebenso außer Betracht bleibt der bereits aufgrund der erteilten Baugenehmigung vom 18. März 2020 geschaffene Erweiterungsbau und die sonstigen bereits durchgeführten baulichen Maßnahmen. Ein Bauherr kann vor der Entscheidung über den Nachbarrechtsbehelf ein Vorhaben errichten, das zwar in dem bisherigen faktischen Baugebiet i.S.v. § 34 Abs. 2 BauGB unzulässig wäre, dessen Vollendung aber eine Gemengelage schafft. Ungeachtet der Möglichkeit behördlichen oder gerichtlichen Eilrechtsschutzes ist es mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes jedoch unvereinbar, einem Nachbarn entgegen zu halten, jedenfalls im Moment der gerichtlichen Entscheidung sei sein aus § 34 Abs. 2 BauGB folgender Gebietserhaltungsanspruch durch die entstandene Gemengelage entfallen (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.2019 - 4 C 10/18 - juris mit weiteren Nachweisen).
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Doch selbst bei Einbeziehung der im Anbau bereits vorhandenen Physiotherapiepraxis und unterstellter in einem allgemeinen Wohngebiet gebietsfremder Nutzung ändert sich nichts an der Einordnung der Eigenart der näheren Umgebung als allgemeines Wohngebiet. Nicht jegliche vorhandene Bebauung in der näheren Umgebung bestimmt den Charakter. Vielmehr muss die Betrachtung auf das Wesentliche zurückgeführt werden. Es muss alles außer Betracht gelassen werden, was die vorhandene Bebauung nicht prägt oder in ihr gar als Fremdkörper erscheint. Auszusondern sind solche Anlagen, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild nicht die Kraft haben, die Eigenart der näheren Umgebung zu beeinflussen, die der Betrachter nicht oder nur am Rande wahrnehmt (vgl. BVerwG, U.v. 15.2.1990 - 4 C 23/86 - juris). Zum anderen können auch solche Anlagen aus der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung auszusondern sein, die zwar quantitativ die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, aber nach ihrer Qualität völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfallen. Derartige Anlagen dürfen bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung aber nur dann als „Fremdkörper“ ausgeklammert werden, wenn sie wegen ihrer Andersartigkeit und Einzigartigkeit den Charakter ihrer Umgebung letztlich nicht beeinflussen können. Einzelne bauliche Anlagen von stark abweichendem Charakter können nach Ausdehnung, Zahl und anderen Quantitätsmerkmalen ein solches Gewicht enthalten, dass sie trotz ihrer herausstechenden Andersartigkeit in einer abweichend und verhältnismäßig einheitlich strukturierten Umgebung ihrerseits tonangebend wirken (vgl. BVerwG, U.v. 15.2.1990 - 4 C 23/86 - juris; OVG NRW, U.v. 21.11.2005 - 10 A 11/6604 - juris). Allein aus dem Umstand, dass ein Gewerbebetrieb seine Umgebung stört, folgt aber noch nicht, dass er den Gebietscharakter mitprägt. Grundsätzlich sprechen große Qualitätsunterschiede zwischen einer Anlage und ihrer im wesentlichen homogenen Umgebung dafür, dass die Anlage als ein für die Eigenart der Umgebung unbeachtlicher Fremdkörper zu werten ist. Diese Regel wird nur dann durchbrochen, wenn die Anlage ihre Umgebung beherrscht oder aus anderen Gründen, wie etwa eine Zeche im Verhältnis zur Zechensiedlung, trotz der Andersartigkeit mit ihr eine Einheit bildet (vgl. BVerwG, U.v. 15.2.1990 - 4 C 23/86 - juris).
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Die vorhandene Physiopraxis ist ein Fremdkörper in der ansonsten nahezu homogenen Wohnbebauung in der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks. Sie beeinflusst wegen ihrer Andersartigkeit ihre Umgebung gerade nicht und erreicht auch von der Größe und ihren Auswirkungen kein solches Gewicht, dass eine Prägung anzunehmen ist. Von einer Beherrschung der Umgebung durch die Physiopraxis kann keine Rede sein.
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(2) Im allgemeinen Wohngebiet ist die hier beantragte Nutzung als Physiotherapiepraxis ihrer Art nach unzulässig. Nichts anderes würde gelten, wenn man zu der Annahme eines faktischen reinen Wohngebiets, wie die Kläger meinen, kommt.
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Die geplante und von dem Ehemann der Beigeladenen bereits bisher (schon) ausgeübte Tätigkeit als Physiotherapeut stellt einen freien Beruf dar (vgl. Stock in EZBK, BauGB, 139. EL August 2020, § 13 Rn. 18; Hornmann in BeckOK BauNVO, 23. Edition Stand: 15.09.2020, § 13 Rn. 21). Die Zulässigkeit des beantragten Bauvorhabens richtet sich damit nach § 13 BauNVO und nicht etwa, wie der Beklagte anfangs noch ausführte, nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO. Zwar dient eine Physiotherapiepraxis ebenso wie z. B. eine Arztpraxis im umgangssprachlichem Sinne gesundheitlichen Zwecken. Der Begriff der Anlagen für gesundheitliche Zwecke im Sinne der Baunutzungsverordnung (vgl. z.B. § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO) ist allerdings auf Gemeinbedarfsanlagen im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 2 BauGB beschränkt. Eine Physiotherapiepraxis fällt nicht darunter (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.1996 - 4 C 17/95; OVG LSA, B.v. 10.10.2018 - 2 M 53/18 - beide juris; Hornmann in BeckOK BauNVO, 22. Ed. 15.6.2020, § 4 Rn. 90 ff. mit weiteren Nachweisen).
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Die Vorschrift des § 13 BauNVO stellt eine abschließende Regelung dar, die einen Rückgriff auf andere Vorschriften ausschließt (vgl. BayVGH, U.v. 2.1.2008 - 1 BV 04.2737 - juris Rn. 33; i.E. auch BVerwG, U.v. 12.12.1996 - 4 C 17.95 - juris). Die Zulässigkeit der Physiotherapiepraxis im allgemeinen Wohngebiet richtet sich daher nach § 13 BauNVO.
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Für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Weise ausüben, sind in den Baugebieten nach den §§ 2 bis 4 Räume, in den Baugebieten nach §§ 4a bis 9 auch Gebäude zulässig, § 13 BauNVO. Damit ist das geplante Bauvorhaben seiner Art nach im allgemeinen Wohngebiet nicht zulässig, denn die Physiotherapiepraxis soll nicht in Räumen, sondern in einem Gebäude i.S.d. § 13 BauNVO betrieben werden und ist somit unzulässig.
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Die Beschränkung in § 13 BauNVO auf Räume macht deutlich, dass trotz der Inanspruchnahme für freiberufliche oder gewerbliche Zwecke, der Charakter als Wohngebäude erhalten bleiben muss. Dies ist nicht mehr der Fall, wenn die Wohnfläche weit überwiegend wohnfremd genutzt wird. Die primäre Wohnnutzung darf nicht in den Hintergrund gedrängt werden, da andernfalls bei gehäufter Berufung auf § 13 BauNVO eine Veränderung des Gebietscharakters drohen würde (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.1995 - 4 B 245/95 - juris Rn. 3).
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§ 13 BauNVO definiert nicht, was unter einem Gebäude zu verstehen ist. Die Vorschrift nimmt aber Bezug auf die Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung. Dem in § 2 bis § 9 BauNVO jeweils enthaltenen Zulässigkeitskatalog lässt sich entnehmen, dass der Gebäudebegriff als Unterfall von dem allgemeinen Begriff der (baulichen) Anlage mitumfasst ist, auf den auch § 29 BauGB abstellt. Dies schließt es aus, unselbständige Teile einer baulichen Anlage als Gebäude zu qualifizieren. Wesentliches Abgrenzungskriterium zur Frage, ob Gebäude oder Räumlichkeiten im Sinne des § 13 BauNVO vorliegen, ist damit das Kriterium der selbständigen Benutzbarkeit, das auch bei der Bestimmung des bauordnungsrechtlichen Gebäudebegriffs eine Rolle spielt. Erforderlich ist, dass das Gebäude jedenfalls tatsächlich unabhängig von sonstigen Anlagen genutzt werden kann. Durch eine etwaige bauliche Verbindung wird die Selbständigkeit nicht in Frage gestellt. Auch wenn der Eindruck von Haupt- und bloßem Anbau hervorgerufen wird, handelt es sich um verschiedene Gebäude, sofern jedes von ihnen unabhängig vom anderen zugänglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 13.12.1995 - 4 B 245/95 - juris Rn. 4).
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Für die Einordnung des Anbaus in der geplanten Form als bloße Räumlichkeit spricht zwar, dass es sowohl für das bestehende Wohnhaus als auch für den Anbau in seiner geplanten Form nur eine Heizungsanlage sowie eine Wasser- und Stromversorgung gibt bzw. geben wird. Auch der Umstand, dass sich die Gebäude auf einem einzigen Buchgrundstück befinden, könnte ein Indiz für ein einheitliches Gebäude sein, wirkt sich hier aber nicht aus. Die Argumente, welche für die Einordnung als Gebäude sprechen, überwiegen deutlich. Maßgeblich abzustellen ist auf die voneinander unabhängige Zugänglichkeit von Anbau und bestehendem Wohnhaus. Letzteres hat seinen Eingang nach Norden zum … hin. Die (geplante) Physiotherapiepraxis wird von der … aus auf der nach Süden gewandten Seite betreten. Zusätzlich ist noch eine Tür im Anbau (Altbau) Richtung Hof vorhanden, wie der Ortsaugenschein ergeben hat. Die geplante Wohnung über der Physiotherapiepraxis wird schließlich getrennt hiervon über eine außen verlaufende Treppe, die im Hof des Anwesens beginnt, betreten. Zwar sind der Anbau und das bestehende Wohnhaus an einer Stelle aneinandergebaut, es gibt jedoch noch nicht einmal eine Verbindungstür zwischen den Gebäuden und zwar weder im Keller-, noch im Erd-, noch im Dachgeschoß, was ebenfalls gegen die Annahme, dass es sich bei den für die Physiopraxis vorgesehenen Räumlichkeiten um Räume i.S.d. § 13 BauNVO handelt, spricht. Der Zweck der Beschränkung der freiberuflichen Nutzung auf Räume liegt darin, die Prägung der Gebiete nach den § 2 bis 4 BauNVO durch Wohnnutzung zu erhalten. Ob es sich bei dem Vorhaben um ein noch zulässiges Wohngebäude mit auch freiberuflicher Nutzung handelt oder um zwei selbständige Gebäude, wovon eines auch als Physiotherapiepraxis genutzt wird, muss daher nach der tatsächlich die Umgebung prägenden Gesamtwirkung des Vorhabens beurteilt werden. Der Eindruck getrennter eigenständiger Gebäude, der durch die separaten Eingänge und Treppenhäuser entsteht, überwiegt deutlich. Bei Verwirklichung des Bauvorhabens würde angesichts der Ausmaße und der Gestaltung der zu errichtenden Praxis samt Dachgeschoss noch nicht einmal mehr der Eindruck von bloßem Anbau und Haupthaus entstehen.
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Aufgrund der Einordnung des Anbaus samt Erweiterungsbau als Gebäude verbietet sich die Berücksichtigung der Wohnnutzung im bestehenden Wohnhaus, so dass es unerheblich ist, wenn rein rechnerisch die Wohnflächen im bestehenden Wohnhaus und die im neu zu errichtenden Dachgeschoß über dem Alt- und Erweiterungsbau der Physiotherapiepraxis größer wären als die Nutzfläche der Physiotherapiepraxis (so der Beklagte).
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Es sind daher allein die Wohn-/Nutzflächen im als selbständiges Gebäude einzuordnenden Anbau samt Erweiterungsbau in der geplanten Form zu betrachten. So wird regelmäßig angenommen, dass in Mehrfamilienhäusern als Obergrenze für Nutzungen im Sinne des § 13 BauNVO grundsätzlich die halbe Anzahl der Wohnungen und nicht mehr als die Hälfte der Gesamtwohnfläche anzusetzen ist. Wesentlich ist, dass das Gesamterscheinungsbild des Gebäudes von der im Übrigen ausgeübten Wohnnutzung geprägt bleibt, was hier zu verneinen ist. Die Nutzung im Sinne von § 13 BauNVO überwiegt flächenmäßig deutlich. So wird im Bauantrag eine Wohnfläche nach Wohnflächenverordnung von 147,62 m2 angenommen, während die gewerbliche Nutzfläche mit 233,76 m2 angegeben wird. Nichts anderes gilt, wenn man die bei der Berechnung der Geschossfläche in den Bauunterlagen angegebenen Größen ansetzt, nämlich 241,31 m2 für die Physiotherapiepraxis im Erdgeschoss und 225,92 m2 für die Wohnung über der Physiotherapiepraxis im Dachgeschoss, zumal bei der Praxis noch die für die Physiotherapiepraxis genutzten Räume im Keller hinzuzurechnen sind, oder bei Ansatz der in der vorgelegten Nutz- und Wohnflächenberechnung nach DIN 277 angesetzten Größen. Auch unter Berücksichtigung, dass der Flächenvergleich auf solche Räume zu beschränken ist, die zum dauernden Aufenthalt von Menschen geeignet sind und entsprechend genutzt werden sollen und unter der Maßgabe, dass die 50%-Grenze nicht als starre Grenze zu verstehen ist, kann von einer zulässigen wohnartigen Nutzung ganz eindeutig nicht mehr die Rede sein.
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(3) Soweit die Beigeladene in der mündlichen Verhandlung ausführt, man habe die Physiotherapiepraxis seit 2015 unbeanstandet betrieben, so lässt sich auch hieraus nicht die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens seiner Art nach etwa aus Bestandsschutzerwägungen herleiten. In der Umnutzung des Ladens zur Physiotherapiepraxis liegt eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung, denn durch diese Umnutzung wird die einer jeden Art von Nutzung eigene „Variationsbreite“ verlassen und es kommen für die geänderte Nutzung andere bauordnungs- oder bauplanungsrechtliche Anforderungen in Betracht als für die bisherige Nutzung, so dass sich die Frage der Genehmigungsfähigkeit neu stellt (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 18.9.2017 - 15 CS 17.1675 - juris Rn. 14, B.v. 28.6.2016 - 15 CS 15.44 - juris Rn. 18; U.v. 19.5.2011 - 2 B 11.353 - juris Rn. 31). Eine Baugenehmigung hierfür liegt nicht vor. Es ist weder substantiiert dargetan noch sonst ersichtlich, dass das Landratsamt … der Beigeladenen die Auskunft erteilt hat, eine Baugenehmigung sei nicht nötig. Überdies würde es sich bei dieser Aussage nicht um eine Zusicherung, Art. 38 BayVwVfG, handeln. Auch als Rechtsauskunft wäre sie jedenfalls unverbindlich (vgl. Decker in Simon/Busse, BayBO, 37. EL Juli 2020, Rn. 23 f.). Aus der Baugenehmigung für den Laden lässt sich ebenfalls kein Bestandsschutz herleiten, denn dieser endet mit der endgültigen Aufgabe der zugrundeliegenden Nutzung (vgl. BVerwG, B.v. 21.11.2000 - 4 B 36/00 - juris) und damit spätestens bei Inbetriebnahme der Physiotherapiepraxis in 2015. Nach einer Auffassung liegt Bestandsschutz nur dann vor, wenn das Vorhaben formell und materiell rechtmäßig ist bzw. war, woran es hier gerade fehlt (vgl. BVerwG, U.v. 12.3.1998 - 4 C 10/97 - juris; Decker in Simon/Busse, BayBO, 138. EL September 2020, Art. 76 Rn. 116 ff. mit weiteren Nachweisen). Nach anderer Ansicht genügt das Vorliegen einer Genehmigung oder Genehmigungsfähigkeit (vgl. BVerfG, .B.v. 24.7.2000 - 1 BvR 151/99 - juris Rn. 8). Im Übrigen obliegt die Beweislast dem, der sich auf den Bestandsschutz beruft (vgl. BayVGH, B.v. 8.11.2001 - 14 ZB 00.1476 - juris Rn. 2 - zur materiellen Beweislast hinsichtlich des Bestandschutzes). Welcher Auffassung zu folgen ist und ob materielle Genehmigungsfähigkeit hinsichtlich des Altbestandes vorliegt, kann jedoch dahinstehen, denn auch ein etwa gegebener Bestandsschutz für bauliche Anlagen erfasst jedenfalls nicht Bestands- oder Funktionsänderungen, weil diese über den genehmigten Zustand hinausgreifen würden (vgl. BVerfG, B.v. 15.12.1995 - 1 BvR 1713/92 - juris). Es gibt gerade keinen auf Bestandschutz gegründeten Anspruch auf Zulassung von Veränderungen oder Erweiterungen baulicher Anlagen (vgl. BVerwG, B.v. 18.7.1997 - 4 B 116/97 - juris) und gerade hierum geht es mit dem geplanten Vorhaben.
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(4) Die Regelung des § 34 Abs. 3a BauGB, wonach in bestimmten Fällen von der Erforderlichkeit des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung nach Abs. 1 Satz 1 abgesehen werden kann, ändert an der Unzulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art nichts, denn zum einen bedarf es im Fall des § 34 Abs. 2 BauGB bezüglich der Art der Nutzung gerade keiner Prüfung des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung (vgl. BVerwG, B.v. 12.2.1990 - 4 B 240/89 - juris), zum anderen müsste ein zulässiger Weise errichteter Gewerbe- oder Handwerksbetriebes (§ 34 Abs. 3a Satz 1 Nr. 1 a BauGB) vorliegen, was nach oben Gesagten bezüglich der Nutzung als Physiotherapiepraxis zu verneinen ist. Überdies handelt es sich bei der Physiotherapiepraxis ohnehin nicht um einen Gewerbe- oder Handwerksbetrieb i.S.d. Vorschrift und es wurde schon gar keine Abweichung diesbezüglich erteilt.
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(5) Die Kläger sind auch nicht etwa deshalb gehindert, sich auf den Gebietserhaltungsanspruch zu berufen, weil ihre Garage die Grundstücksgrenze zu der Beigeladenen hin um einige Zentimeter überbaut. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu - gemessen am Schutzzweck der Vorschrift - schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (BayVGH, B.v. 27.7.2017 - 1 CS 17.918 - juris Rn. 10). Zum einen verletzen die Kläger abstandsflächenrechtliche Vorschriften, während die unzulässige Art der Nutzung seitens der Beigeladenen bauplanungsrechtliche Belange betrifft, insofern ist also nicht der erforderliche Zusammenhang zwischen den beidseitig verletzten Normen bzw. Belange gegeben. Zum anderen verletzt die Beigeladene den Gebietserhaltungsanspruch der Kläger und zugleich tritt durch das geplante Vorhaben eine Abstandsflächenverletzung in nicht nur unerheblicher Weise ein, so dass jedenfalls von einem Gleichgewicht der beidseitigen Abweichungen oder Rechtsverletzungen keine Rede sein kann, ein rechtsmissbräuchliches Vorgehen der Kläger durch Erhebung der Klage also ausscheidet.
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b) Aufgrund der bereits vorliegenden bauplanungsrechtlichen Unzulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen kommt es auf die übrigen geltend gemachten Rechtsverletzungen nicht an. Offen bleiben kann schließlich auch, ob sich aus den unrichtigen Bauvorlagen - der vorhandene Anbau in Richtung des klägerischen Grundstücks ist nur 2,76 m von der Grundstücksgrenze entfernt und nicht, wie in den Planunterlagen zum Bauantrag angegeben, ca. 2,95 m - bereits die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung und eine damit einhergehende Rechtsverletzung der Kläger zur Folge hat (vgl. hierzu: BayVGH, U.v. 28.6.1999 - 1 B 97.3174 - juris Rn. 16; B.v. 5.12.2001 - 26 ZB 01.1175 - juris Rn. 11 m.w.N.).
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c) Die Kostenentscheidung folgt §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 154 Abs. 3 VwGO und richtet sich nach dem Maß des Obsiegens bzw. Unterliegens. Die versehentlich unterbliebene Antragstellung aller Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ist, wie bereits ausgeführt, unschädlich, denn dann gelten, wie beim Fehlen eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, die schriftsätzlich angekündigten Anträge (vgl. hierzu: Brüning BeckOK VwGO, Posser/Wolff, 55. Ed. Stand: 01.01.2020, § 101 Rn. 13). Sowohl Kläger, Beklagter als auch die Beigeladene haben schriftsätzlich Anträge gestellt. Aus ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung, bei dem sämtliche Beteiligten das Verfahren aktiv betrieben haben, ist auch ersichtlich, dass die schriftsätzlich gestellten Anträge maßgeblich sind. Aus diesem Grund ist es insbesondere auch sachgerecht, der Beigeladenen, die das Verfahren aktiv betrieben hat, die Kosten anteilig aufzuerlegen, § 154 Abs. 3 VwGO.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.