Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 06.10.2020 – AN 17 K 17.33123
Titel:

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes 

Normenketten:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 4 Abs. 1, § 38 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Erhebliche Widersprüche bei der Schilderung des Verfolgungsschicksals; Rückkehr der Klägerin mit Mutter und Geschwistern ins Herkunftsland für zwei Monate nach der Flucht trotz geschilderter Bedrohungslage gegen die Gesamtfamilie (Rn. 19 – 22)
2. Wohlhabende Unternehmer sind nicht per se soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG
3. Derzeit kein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Jordanien (Rn. 27 und 28)
4. Derzeit keine gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verstoßende Lage in Jordanien für zurückkehrende alleinstehende, volljährige und arbeitsfähige Frau, die mit finanzieller Unterstützung der Eltern rechnen kann; keine abweichende Beurteilung aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Rn. 33 – 39)
5. Beginn der Ausreisefrist von 30 Tagen nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG mit Bekanntgabe des Bescheides bei Verbindung von ablehnender Asylentscheidung und Rückkehrentscheidung objektiv europarechtswidrig; gleichwohl keine subjektive Rechtsverletzung im Falle der Klageerhebung, da nach § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Ausreisefrist dann 30 Tage nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens endet und Europarechtskonformität mit den RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL) und der RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) sowie Art. 18, 19 Abs. 2, 47 GRCh hergestellt wird (Anschluss an BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris). (Rn. 43)
6. Verletzung der Pflicht, den Ausländer über die ihm nach dem Unionsrecht bis zur Entscheidung über die Klage zustehenden Verfahrens-, Schutz- und Teilhaberechte zu unterrichten, führt nicht zur Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung (Anschluss an BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris). (Rn. 45)
Schlagworte:
Asylverfahren, Jordanien, Glaubhaftmachung, Verfolgungsschicksal, kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Coronapandemie
Fundstelle:
BeckRS 2020, 38990

Tenor

1.    Die Klage wird abgewiesen. 
2.    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. 
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt insoweit unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten.
2
Die Klägerin ist eigenen Angaben nach am …1998 in …, Irak, geboren, jordanische Staatsangehörige sowie sunnitisch-islamischen Glaubens und dem Volk der Araber zugehörig. Ihr Vater, … (geb. …1968), sowie ihre Geschwister … (geb. …2005) und … (geb. …*), jeweils auch jordanische Staatsangehörigkeit, sind Kläger im parallel geladenen Verfahren AN 17 K 17.33251. Ihre Mutter, … (geb. …1969), ist Klägerin im ebenfalls parallel geladenen Verfahren AN 17 K 17.33258.
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Eigener Aussage der Klägerin nach verließ diese Anfang Juli 2009 mit der Familie den Irak und lebte sodann etwa fünf Jahre in Jordanien. Aus Jordanien reiste sie erstmals im Juni 2014 mit ihrer Familie bestehend aus Vater, Mutter und zwei weiteren Geschwistern (s.o.) per Flugzeug mit dem Ziel Deutschland aus, kehrte jedoch hernach mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern für etwa zwei Monate zurück nach Jordanien und verließ das Land erneut im Dezember 2014, wiederum mit dem Ziel Deutschland. Sie stellte am 1. Juni 2016 einen Asylantrag in Deutschland.
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Das Bundesamt hörte die Klägerin am 13. Juli 2016 nach § 25 AsylG an. Dort gab sie an, dass sie den Irak verlassen hätten, als sie noch klein gewesen sei. Ihr Vater habe Probleme gehabt, mehr wisse sie nicht. In Jordanien hätten sie zunächst ein schönes Leben gehabt, aber dann sei ihr Vater im Januar 2010 entführt worden. Er sei öfter von diesen Leuten erpresst worden, sie verlangten ständig Geld. Die Familie sei mehrfach bedroht worden, sie - die Klägerin - würde entführt werden oder ihre Mutter getötet. Ihrem Vater sei gesagt worden, dass sie und ihre Mutter vergewaltigt würden. Mit damals 14 oder 15 Jahren habe sie aber nicht alles verstanden. Die Sachen seien von zu Hause geklaut, das Auto verbrannt worden. Die Familie habe ständig umziehen müssen, eine Zeit lang hätten sie bei der Tante gewohnt und sie habe nur noch unregelmäßig zur Schule gehen können. Mehrmals hätten fremde Leute nach ihrer Schwester und ihrem Bruder in der Schule gefragt, wovon der Schulleiter umgehend ihre Eltern verständigt habe. Wann genau das gewesen sei, wisse sie nicht, auch habe ihre Mutter ihr erst später von dem Vorfall erzählt. Wegen des Stresses und des Drucks habe sie selbst psychische Probleme gekommen und zum Arzt gehen müssen. Eine Anzeige gegen so etwas zu erstatten lohne sich in Jordanien nicht, dann würde man nur noch mehr bedroht durch mächtige Leute. Sie selbst sei aber nicht direkt bedroht oder angegriffen worden. Nur einmal, im Jahr 2014, seien ihr Unbekannte von der Schule bis nach Hause gefolgt. Neben ihren Eltern und ihren Geschwistern lebe noch ihre Tante in Deutschland.
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Mit Bescheid vom 3. Mai 2017 erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziffer 4), forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland im Falle einer Klageerhebung binnen 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, andernfalls sie nach Jordanien abgeschoben würde (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Aufenthalts- und Einreiseverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der Vortrag der Klägerin deshalb nicht glaubhaft sei, weil er in großen Teilen auf dem wiederum unglaubhaften Vortrag ihrer Eltern beruhe. So habe die Klägerin auch nach der ersten Rückkehr nach Jordanien dort verbleiben wollen, woraus abgeleitet werden könne, dass die behaupteten Geschehnisse ihr nicht zur Kenntnis gelangt seien. Insofern sei nicht verwunderlich, dass ihr Vortrag sehr pauschal gehalten sei. Es werde auf die Ausführungen des ablehnenden Bescheides hinsichtlich des Vaters und der minderjährigen Geschwister der Klägerin verwiesen (BAMF-Az.: …*). Die Gewährung subsidiären Schutzes sei ebenso abzulehnen. Auch lägen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vor. Insbesondere rechtfertige die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Jordanien kein solches. Sie sei trotz einer ungleichen Vermögensverteilung, hoher Jugendarbeitslosigkeit, der Rohstoffarmut und der Abhängigkeit von Energieimporten nicht so schlecht, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, dass Rückkehrer aus Europa mit existentiellen Bedrohungen rechnen müssten, wenn auch nicht verkannt werde, dass die Existenzsicherung in Einzelfällen problematisch sein könne. Die Klägerin aber sei eine volljährige, gesunde und arbeitsfähige Frau, die über eine für jordanische Verhältnisse ausreichende Schulbildung verfüge. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin gemeinsam mit ihren gut ausgebildeten Eltern selbst ohne nennenswertes Anfangsvermögen in der Lage sein werde, ein Einkommen wenigstens am Rande des Existenzminimums in Jordanien zu erwirtschaften.
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Nach alldem sei die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen gewesen. Die Ausreisefrist folge aus § 38 Abs. 1 AsylG. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot werde mangels anderslautender Anhaltspunkte auf 30 Monate befristet.
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Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes vom 3. Mai 2017 hat die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten am 15. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass sie ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG verlassen habe. Von der Verfolgung ihres Vaters sei die gesamte Familie und damit auch sie betroffen. Die kriminellen Vereinigungen in Jordanien, die sie bedrohten, hätten Verbindungen bis an die Staatsspitze.
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Die Klägerin beantragt,
1.
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. Mai 2017 in den Ziffern 1 und 3 bis 6 aufzuheben.
2.
das Bundesamt zu verpflichten festzustellen, dass die Klägerin international Schutzberechtigte gemäß § 3 AsylG i.V.m. der Genfer Flüchtlingskonvention ist, hilfsweise, dass die Klägerin subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 4 AsylG ist, weiter hilfsweise, dass die Klägerin humanitären Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG genießt.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der in elektronischer Form beigezogenen Bundesamtsakte der Klägerin, auch derjenigen ihres Vaters und der beiden minderjährigen Geschwister (Kläger im Verfahren AN 17 K 17.33251) und ihrer Mutter (Klägerin im Verfahren AN 17 K 17.33258), und der Gerichtsakten Bezug genommen. Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung am 2. Oktober 2020 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Auch im Übrigen stößt der angegriffene Bescheid auf keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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1. Der Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, weil es an einer begründeten Furcht vor Verfolgung fehlt.
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a) Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder we-gen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Hierzu bestimmt § 3a AsylG näher die Verfolgungshandlungen, § 3b AsylG die Verfolgungsgründe, § 3c AsylG die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3d AsylG die Akteure, die Schutz bieten können und § 3e AsylG den internen Schutz. Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in Verbindung mit § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Handlung muss darauf gerichtet sein, den Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne „wegen“ eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolger leiten (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 13).
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Maßstab für die Beurteilung der Furcht des Klägers vor Verfolgung als begründet im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr („real risk“) der Verfolgung. Erforderlich ist also, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer angenommenen Rückkehr Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936 Rn. 32; BVerwG, U.v. 22.11.2011 - 10 C 29/10 - NVwZ 2012, 1042 Rn. 23 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - NVwZ 2011, 51 Rn. 22). Die Bejahung einer solchen beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 15; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936 Rn. 32).
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Diesbezüglich gewährt Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Anerkennungs-RL) eine Beweiserleichterung: Für Vorverfolgte wird vermutet, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Die Vermutung ist widerleglich. Hierfür sind stichhaltige Gründe erforderlich, die dagegensprechen, dass dem Antragsteller eine erneute derartige Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33/18 - NVwZ 2020, 161 Rn. 16).
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Hinsichtlich der Geltendmachung des Verfolgungsschicksals befindet sich der Asylbewerber allerdings in einem sachtypischen Beweisnotstand, da es sich um Vorgänge außerhalb des Gastlandes handelt. Insofern ist für die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugungsbildung den glaubhaften Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung zuzumessen als dies sonst in der Prozesspraxis bei Beteiligtenbekundungen der Fall ist (BVerwG, B.v. 29.11.1996 - 9 B 293/96 - juris Rn. 2). Das Gericht darf also keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht vollends auszuschließen sind (SächsOVG, B.v. 21.9.2018 - 5 A 88/18.A - juris Rn. 4). Andererseits muss der Asylbewerber von sich aus unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann ihm nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (BVerwG, U.v. 12.11.1985 - 9 C 27/85 - juris Rn. 17).
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b) Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist das Gericht zum maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Jordanien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.
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Soweit sich die Klägerin im Rahmen des § 3 Abs. 1 AsylG auf die Verfolgungsgeschichte ihres Vaters, des Klägers zu 1) im Verfahren AN 17 K 17.33251, bezieht und diese insofern übernimmt, als dieser eine Verfolgung der Gesamtfamilie, also auch der Klägerin, geltend gemacht hat, ist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Urteilsgründe der klageabweisenden Entscheidung im Verfahren AN 17 K 17.33251 vom selben Tag zu verweisen. Dort wurde die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG verneint, zunächst, weil es an einem Verfolgungsgrund im Sinne der § 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 3b AsylG fehlte und überdies eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung verneint wurde. Im Übrigen berichtete die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt, persönlich keine Drohungen erhalten zu haben, es sei eine indirekte Bedrohung ihrer Person gewesen. Auch sei sie nicht Opfer von Übergriffen geworden.
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Überdies und insbesondere wird die Glaubhaftigkeit des Vortrags einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch die nach der ersten Einreise nach Deutschland im Juni 2014 erfolgten etwa zweimonatigen Rückkehr der Klägerin mitsamt ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Jordanien schwer erschüttert. Auch wenn die Mutter der Klägerin im Rahmen ihres Verfahrens angab (AN 17 K 17.33258), die Rückreise sei zur Beschaffung von Dokumenten erfolgt, ist angesichts der vorgetragenen Bedrohungslage gegen die gesamte Familie nicht begreiflich, wieso sich diese auf mehrere Monate erstreckt hat und noch dazu bis auf den Vater die gesamte Familie mit zurück reiste, insbesondere da die Klägerin vor dem Bundesamt ausgeführt hat, dass die Erpresser ihren Eltern mit der Entführung, Vergewaltigung und Tötung deren gemeinsamer Kinder, also auch der Klägerin, gedroht hätten, sollten diese das geforderte Geld nicht bezahlen. Dieser zentrale Widerspruch bleibt unaufgelöst.
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2. Der Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
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Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist der Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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a) Die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) droht der Klägerin nicht. Zwar wird in Jordanien nach wie vor die Todesstrafe verhängt, jedoch jedenfalls von Ende 2018 bis Ende 2019 nicht vollzogen; die letzten Berichte über vollzogene Todesstrafen beziehen sich auf das Jahr 2017 (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Jordanien, Stand 16.4.2020, S. 21 f.; Amnesty International, Report Jordanien 2017/18, unter „Todesstrafe“). Nach dem oben unter 1. Ausgeführten sind jedoch keine stichhaltigen Gründe im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG dafür ersichtlich, dass der Klägerin die Todesstrafe droht.
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b) Auch droht der Klägerin nach dem unter 1. Ausgeführten keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) bei einer angenommenen Rückkehr nach Jordanien.
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c) Ebenso wenig ist die Klägerin einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
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Laut der zur Verfügung stehenden und in das gerichtliche Verfahren eingeführten Erkenntnismittel kommt es zwar an der syrisch-jordanischen und irakisch-jordanischen Grenze, die militärisches Sperrgebiet sind, zu Zwischenfällen bzw. vereinzelten Auseinandersetzungen und besteht im Land die Gefahr von Terroranschlägen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Jordanien, Stand 16.4.2020, S. 9 f.). Allerdings lässt sich aus dieser Erkenntnislage nicht auf einen aktuell stattfindenden internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG schließen. Im Übrigen bestünde, selbst wenn man von einem bewaffneten Konflikt ausginge, für die Klägerin in der Herkunftsregion, der Hauptstadt Amman, mangels dementsprechender Erkenntnisse keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit.
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3. Auch besteht kein nationales Abschiebungsverbot zugunsten des Klägerin.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung ist nach der EMRK insbesondere dann unzulässig, wenn dem Kläger in der Zielregion eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielland rechtfertigen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur ausnahmsweise ein Abschiebungsverbot. Denn Art. 3 EMRK kann, so der EGMR, nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen eine Unterkunft oder finanzielle Unterstützung zu gewähren, damit sie einen gewissen Lebensstandard haben (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 249; s.a. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 10). Gleichwohl ist eine Verantwortlichkeit nach Art. 3 EMRK nicht ausgeschlossen, wenn eine vollständig von staatlicher Unterstützung abhängige Person, die behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 253). Zudem muss die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist relativ und hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, etwa der Dauer der erniedrigenden Behandlung, ihren physischen und psychischen Wirkungen, sowie von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Ausländers (EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien u. Griechenland, 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 219; s.a. EGMR, U.v. 13.12.2015 - Paposhvili/Belgien, 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 Rn. 174). Dieser Maßstab kann auch für Abschiebungen in Staaten, die wie Jordanien nicht zu den Unterzeichnern der EMRK gehören, angewendet werden (instruktiv VG München, U.v. 9.4.2020 - M 6 K 17.32718 - ZAR 2020, 381 m.Anm. Achatz).
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In örtlicher Hinsicht ist für die Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG die Hauptstadt Jordaniens, Amman, als Rückkehrregion der Klägerin zugrunde zu legen; sie ist ihre Herkunftsregion.
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Hinsichtlich der Rückkehrperspektive ist angesichts des Alters der Klägerin, sie ist mittlerweile 22, nicht auf eine gemeinsame Rückkehr der Kernfamilie abzustellen, also der Klägerin, ihrer Eltern und ihrer beiden minderjährigen Geschwister, sondern ist die Klägerin isoliert zu betrachten (zum Ganzen BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - NVwZ 2020, 158 Ls. 2, 3, Rn. 15 ff.).
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Auch unter Berücksichtigung der Rückkehrperspektive als alleinstehende Frau sind die oben dargelegten strengen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für die Klägerin nicht erfüllt. Zunächst hat die Klägerin sowohl in Jordanien als auch hier die Schule besucht, in Jordanien bis zur 11. Klasse, hier in Deutschland besuchte sie ihrer Angabe in der Anhörung am 13. Juli 2016 vor dem Bundesamt nach zu jenem Zeitpunkt die zehnte Klasse. Sie verfügt also über eine grundständige Bildung und spricht sowohl die Landessprache Jordaniens, Arabisch, als auch Deutsch, was sie etwa für Übersetzungstätigkeiten insbesondere qualifiziert. Darüber hinaus liegen keine Anhaltspunkte für gesundheitliche Einschränkungen vor, weswegen insgesamt von einer jungen, gesunden und arbeitsfähigen Frau auszugehen ist, die in der Lage sein wird, zumindest ein Einkommen am Rande des Existenzminimums zu erwirtschaften. Hinzu tritt, dass, auch wenn die Klägerin innerhalb der Rückkehrperspektive für sich genommen zu betrachten ist, es naheliegt, dass sie durch ihre Eltern, deren Asylanträge mit Abschiebungsandrohung nach Jordanien ebenfalls abgelehnt und die Klagen hiergegen mit Urteil vom gleichen Tag abgewiesen worden sind (AN 17 K 17.33251, AN 17 K 17.33258), sie in Jordanien unterstützen würden, beziehungsweise, sollte deren Abschiebung aus inlandsbezogenen Gründen scheitern, aus Deutschland mit finanziellen Mitteln versorgen könnten. Dafür spricht, dass die Eltern der Klägerin bereits während ihrer Zeit in Jordanien eigener Angabe nach sehr vermögend gewesen sind und in Deutschland aufgrund ausreichender finanzieller Mittel keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Überdies ist zu berücksichtigen, dass noch zwei Geschwister des Vaters der Klägerin in Jordanien leben und insofern eine familiäre Unterstützung naheliegt. Insgesamt spricht also nichts Überwiegendes dafür, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Jordanien eine so ernsthafte Armut und Bedürftigkeit droht, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist.
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Dabei verkennt der Einzelrichter nicht, dass die jordanische Wirtschaft schwach ist und das Land nur über wenige Ressourcen und begrenzte landwirtschaftliche Nutzflächen verfügt, was es abhängig von Importen und externen Geldzuflüssen macht. Das Wirtschaftswachstum lag in den vergangenen Jahren bei durchschnittlich zwei Prozent und war zu gering, um die hohe Staatsschuld abzubauen. Dazu tritt die finanzielle Last durch die Flüchtlingsintegration der Syrer im Land und die ausbleibenden Gaslieferungen aus Ägypten. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20%. Viele Jordanier verdienen nicht mehr als den staatlichen Mindestlohn von etwa 270,00 EUR pro Monat, wobei das Existenzminimum für eine Familie pro Monat bei 625,00 EUR pro Monat liegt (zur wirtschaftlichen Lage siehe BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Jordanien, Stand 16.4.2020, S. 33 f.). Jedoch ergibt sich im Rahmen einer Zusammenschau mit den persönlichen Umständen der Klägerin bei einer Rückkehr nach Jordanien prognostisch keine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK, insbesondere aufgrund des überdurchschnittlichen Bildungsniveaus der Klägerin und der zu erwartenden finanziellen Unterstützung durch ihre Eltern.
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b) Ferner kann die Klägerin kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG geltend machen.
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Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Zielstaat erwarten - insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage - kann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beansprucht werden, wenn nämlich der Ausländer bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ihm trotz einer fehlenden politischen - Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Rückführungsstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Der erforderliche hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Dies bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 60 ff.; BVerwG, U.v. 29.9.2011 - 10 C 23.10 - juris Rn. 21 ff.).
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Unter Berücksichtigung dessen und der aktuellen Erkenntnismittel sind die Voraussetzungen aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Fall der Klägerin nicht gegeben. Insbesondere sind hinsichtlich allgemeiner Gefahren im Zielstaat die Anforderungen in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr) höher als jene in § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13), so dass im Lichte des Nichtvorliegens eines Abschiebungsverbots aus Art. 60 Abs. 5 AufenthG erst recht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung nicht gegeben sind (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris).
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Ebenso wenig leidet der Klägerin an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde.
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c) Auch das Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 rechtfertigt keine andere Beurteilung mit Blick auf § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Eine diesbezüglich die Rückkehr unzumutbar machende Situation hat die Klägerin weder vorgetragen noch hat sich diese zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG, nach den Erkenntnismitteln im erforderlichen Maß verdichtet, wie die Zahlen der Johns-Hopkins-Universität vom 2. Oktober 2020 zeigen: In Jordanien waren bis zu diesem Zeitpunkt 13.101 Fälle einer Infektion mit dem Corona-Virus zu verzeichnen, wobei 4752 Menschen bereits wieder genesen sind. Die Zahl der Toten betrug 69. Bei einer Gesamtbevölkerung in Jordanien von etwa 10 Millionen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Jordanien, Stand 16.4.2020, S. 33) ergibt sich ein nur moderates Infektions- und noch weit darunterliegendes Risiko an einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu versterben. In der Zusammenschau mit dem zumindest in der Hauptstadt Amman, der Herkunftsregion der Klägerin, gut funktionierenden Gesundheitssystem (BFA, a.a.O. S. 35 f.) rechtfertigt sich mit Blick auf § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG keine abweichende Gefährdungsbeurteilung. Insbesondere für die Behandlung von Covid-19-Erkrankten stehen die nötigen medizinischen Geräte sowie Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel ausreichend zur Verfügung. Darüber hinaus hat die jordanische Regierung zum Schutz der Bevölkerung eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 00:00 und 06:00 Uhr morgens verhängt, die Land- und Seegrenzen geschlossen und den Passagierflugverkehr ausgesetzt. Des Weiteren wurden Quarantänestationen in einigen staatlichen Krankenhäusern eingerichtet. Es besteht die Pflicht zum Tragen von Mundschutz und Handschuhen beim Betreten von Geschäften, Firmen, Ministerien, Institutionen und öffentlichen Gebäuden (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, Naher Osten, Covid-19 - aktuelle Lage, Stand 14.8.2020, S. 6 f.).
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4. Gegen die im angefochtenen Bescheid vom 3. Mai 2017 in Ziffer 5 ergangene Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung gemäß § 38 Abs. 1 AsylG und § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG primär nach Jordanien bestehen im Ergebnis keine Bedenken.
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Insbesondere ist die Verbindung der ablehnenden Asylentscheidung mit dem Erlass der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung europarechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (EuGH, U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625). Allerdings muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Lichte der RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL) und der Asylverfahrensrichtlinie (heute RL 2013/32/EU) sowie des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) durch das nationale Recht gewährleistet sein, „dass alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden, dass der Antragsteller während dieses Zeitraums in den Genuss der Rechte aus der RL 2003/9/EG [heute: RL 2013/33/EU] des Rates vom 27.1.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten kommen kann und dass er sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen kann, die im Hinblick auf die RL 2008/115/EG und insbesondere ihren Art. 5 erheblichen Einfluss auf die Beurteilung seiner Situation haben kann; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts“ (EuGH, U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625 Rn. 67).
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Diese Vorgaben sind hier nach nationalem Recht erfüllt (im Einzelnen: BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 15 ff.). Die Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes - vom 3. Mai 2017, durch den der Asylantrag der Klägerin als einfach unbegründet abgelehnt wurde, hat gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG aufschiebende Wirkung. Durch die aufschiebende Wirkung wiederum wird, so lange sie anhält, wegen § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AsylG das Erlöschen der Aufenthaltsgestattung verhindert. Für die Dauer der aufschiebenden Wirkung können weiter Leistungen nach dem AsylbLG bezogen werden. Zudem kann sich die Klägerin wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung grundsätzlich auch auf neue Umstände, die nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetreten sind, berufen.
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Unschädlich ist im Ergebnis auch, dass die Ausreisefrist von 30 Tagen in Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes vom 3. Mai 2017 zunächst mit Bekanntgabe des Bescheides in Lauf gesetzt worden ist. Dies widerspricht zwar den Vorgaben der Gnandi-Entscheidung des EuGH, der zufolge zunächst alle Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung ausgesetzt werden müssen, wovon auch die Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs umfasst ist. Die vorgesehene Frist zur freiwilligen Ausreise darf nicht beginnen, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat (U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625 Rn. 61 f., 67). Rechtsmittelfrist und Ausreisefrist dürfen also nicht gleichzeitig laufen. Diese Grundsätze kollidieren mit der Vorgabe des § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG, der erkennbar an die Bekanntgabe des ablehnenden Bescheides des Bundesamtes anknüpft und ab dann die Frist von 30 Tagen in Gang setzt, sowie mit Ziffer 5 des Bescheides des Bundesamtes, nach dem die Klägerin zunächst aufgefordert wird, „die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen (…)“ (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 27).
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Allerdings ist die Klägerin durch die anfängliche objektive Unionsrechtswidrigkeit der Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides seit Klageerhebung nicht mehr beschwert. Denn nach § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG und der im Bescheid formulierten Bedingung, dass im Falle einer Klageerhebung die freiwillige Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet, wird nachträglich Unionsrechtskonformität hergestellt und die Klägerin ist nicht mehr im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in seinen Rechten verletzt (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 28).
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Schließlich führt auch die unionsrechtliche vorgegebene, aber nicht vollständig erfüllte Informationspflicht im Falle der Verbindung der ablehnenden Asylentscheidung mit der Rückkehrentscheidung nicht zur (teilweisen) Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung. Die Klägerin hätte nach den Vorgaben der Gnandi-Entscheidung des EuGH in transparenter Weise über die oben genannten Garantien - unter anderem die Aussetzung aller Wirkungen der Rückkehrentscheidung, den Nichtlauf der freiwilligen Ausreisefrist, solange ein Bleiberecht besteht, ein Bleiberecht bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Ablehnung, den Ausschluss der Abschiebehaft, den Genuss der Rechte aus der Aufnahmerichtlinie sowie die Möglichkeit, sich auf jede nach Erlass der Rückkehrentscheidung eingetretene Änderung der Umstände berufen zu können, die in Anbetracht insbesondere des Art. 5 der Rückführungs-Richtlinie erheblichen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Situation haben kann - informiert werden müssen (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 28; EuGH, U.v. 19.6.2018 - Gnandi, C-181/16 - NVwZ 2018, 1625 Rn. 65). Eine so weitreichende Unterrichtung enthalten die Rechtsbehelfsbelehrung:des Bescheides des Bundesamtes vom 3. Mai 2017 und sonstige aktenkundig ausgehändigte Informationsblätter nicht.
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Die Nichterfüllung der unionsrechtlichen Informationspflicht hat indes nicht die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG zur Folge, weil sie nicht zu deren tatbestandlichen Voraussetzungen gehört, auch sonst nicht in einem Rechtmäßigkeitszusammenhang mit ihr steht und zudem nicht geeignet ist, die Rechtsstellung des Klägers nach Klageerhebung zu beeinträchtigen (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Ls. 4 und Rn. 34 ff.). Insbesondere ist ausgeschlossen, dass die Rückkehrentscheidung ohne eine Verletzung der Informationspflicht hätte anders ausfallen können oder von ihrem Erlass abgesehen worden wäre. Auch ist nicht erkennbar, dass die Verletzung der europarechtlichen Informationspflicht die Klägerin, die auf Basis der nationalen Rechtsbehelfsbelehrung:bereits Klage erhoben und seine Rechte umfassend gewahrt hat, in irgendeiner Art in ihrer Rechtsverteidigung beschränkt oder ihm gar einen Rechtsbehelf nähme. Daran zeigt sich, dass die europarechtlichen Garantien und erst recht die Information über sie lediglich unterstützende Funktion haben. Zudem hat der EuGH selbst in der Gnandi-Entscheidung keine Verknüpfung der Informationspflichten mit den tatbestandlichen Voraussetzungen der Rückkehrentscheidung vorgenommen, was sich in die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger als Priorität für die Mitgliedstaaten nach der Rückführungs-Richtlinie einpasst (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - BeckRS 2020, 8202 Rn. 43 ff., 47).
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5. Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung gemäß §§ 11 Abs. 1, Abs. 2, 75 Nr. 12 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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Auch unter Berücksichtigung des nunmehr geltenden § 11 Abs. 1 AufenthG, wonach das Ein-reise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung eintritt, sondern es hierfür vielmehr einer behördlichen Entscheidung bedarf (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 71), bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Ziffer 6 des Bescheides vom 3. Mai 2017. Die nunmehr geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer ist in unionsrechtskonformer Auslegung regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG zu sehen (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 72). Eine solche hat die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid wirksam getroffen und in Ausübung des ihr nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eingeräumten Ermessens eine Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung vorgesehen. Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind unter Berücksichtigung des maßgeblichen Entscheidungszeitpunkts der letzten mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG, im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, da es keine zugunsten der Klägerin berücksichtigungsfähige, in Deutschland dauerhaft bleibeberechtigte Kernfamilie gibt; auch die Klagen der übrigen Familienmitglieder in den Parallelverfahren AN 17 K 17.33123 und AN 17 K 17.33251 wurden abgewiesen.
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6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.