Inhalt

VG München, Urteil v. 12.11.2020 – M 10 K 18.4148
Titel:

Anforderungen an die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen

Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 3
ARB 1/80 Art. 6
Leitsätze:
1. Für Ausländer, die von den Art. 6 oder 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates v. 19.9.1980 (ARB 1/80) begünstigt werden, bestehen erhöhte Anforderungen an die Ausweisung. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG-Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. VGH München BeckRS 2012, 59963). (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
3. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (VGH München BeckRS 2012, 59963; BVerwG BeckRS 2012, 59367). (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Vergewaltigung in der Ehe, Saisonarbeit, Gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (abgelehnt), Aussetzung des Rests der Freiheitsstrafe zur Bewährung, Wiederholung vergleichbarer Straftaten, Prognose, Assoziationsabkommen EWG-Türkei
Fundstelle:
BeckRS 2020, 38357

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.  
II. Der Bescheid vom 12. Juli 2018 wird aufgehoben. 
III. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, trägt der Kläger die Kosten des Verfahrens, im Übrigen der Beklagte. 
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. 
Die Beteiligten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
2
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger, wurde am … Oktober 1967 in der Türkei geboren und reiste im Jahr 1994 zum Zweck des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland ein.
3
Am 6. September 1994 wurde dem Kläger erstmals eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt und in der Folge mehrmals verlängert. Am 3. Mai 2001 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) als Niederlassungserlaubnis fort gilt.
4
Am 1. Februar 2001 heiratete der Kläger in der Türkei eine türkische Staatsangehörige, die im September 2001 zum Kläger in die Bundesrepublik Deutschland zog. Am … Januar 2003 wurde der erste Sohn … geboren, am … Januar 2007 der zweite Sohn …
5
Seit 1994 arbeitete der Kläger als Hilfsarbeiter in verschiedenen Betrieben des Garten- und Landschaftsbaus. Seit 2007 ist er, mit einer Unterbrechung während der Verbüßung der Freiheitsstrafe, bei der Firma … Landschafts- und Gartengestaltung beschäftigt. Saisonbedingt wurde er jeweils in den Wintermonaten ausgestellt, ging in diesen Monaten aber zum Teil einer geringfügigen Beschäftigung nach.
6
Mit Strafbefehl vom 28. August 2011 wurde er vom Amtsgericht Starnberg wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt.
7
Mit Urteil des Landgerichts München II vom 6. November 2013 wurde der Kläger wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt.
8
Der Verurteilung lag ausweislich des Strafurteils folgender Sachverhalt zugrunde: An einem nicht näher feststellbaren Tag zwischen dem 5. und 15. März 2013 zwischen 23 und 24 Uhr begab sich der Kläger im ehelichen Schlafzimmer an das gemeinsame Ehebett, in dem seine Frau schlief und zwang diese gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr, wobei er ihren anfänglichen körperlichen Widerstand mit Gewalt überwand. Seine Ehefrau unterließ es, nach Hilfe zu schreien, weil sie fürchtete, die im nahe gelegenen Kinderzimmer schlafenden Kinder zu wecken. Die Ehefrau erlitt Schmerzen, es verblieben aber keine körperlichen Verletzungen.
9
Laut den übrigen Feststellungen des Strafurteils war das eheliche Verhältnis des Klägers und seiner Ehefrau durchgehend schlecht und von verbalen sowie zum Teil körperlichen Übergriffen und der Bevormundung des Klägers gegenüber seiner Ehefrau geprägt. Der Geschlechtsverkehr in der Ehe fand überwiegend gegen den Willen der Ehefrau statt. In circa vier bis neun Fällen (ausgenommen den der Verurteilung zugrundeliegenden Vorfall) erzwang der Kläger den Geschlechtsverkehr durch gewaltsame Überwindung des Widerstands seiner Frau.
10
Nach der abgeurteilten Tat hatte die Ehefrau konkrete Suizidgedanken, von denen sie aber wieder Abstand nahm. Sie erstattete am 19. März 2013 Anzeige gegen den Kläger und trennte sich von ihm.
11
Ab dem 7. Mai 2013 bis 25. März 2014 befand sich der Kläger in Untersuchungshaft, vom 26. März 2014 bis 18. Oktober 2017 in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt … … …
12
Im Jahr 2015 wurde die Ehe geschieden.
13
Mit Schreiben vom 9. Januar 2017 wurde der Kläger zu der beabsichtigten Ausweisung angehört.
14
Laut des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt … … … vom 27. Januar 2017 habe sich der Kläger in der Haft höflich und respektvoll gezeigt und sich den Bediensteten gegenüber freundlich verhalten. Er habe durchgängig angegeben, unschuldig zu sein. Aus diesem Grund, den mangelnden Sprachkenntnissen und der ungeklärten ausländerrechtlichen Situation sei eine Aufnahme in die sozialtherapeutische Station zur Aufarbeitung des Delikts nicht möglich gewesen.
15
Unter dem 3. September 2017 verfasste ein Facharzt für Neurologie sowie Psychiatrie, Psychotherapie und Forensische Psychiatrie ein von der Strafvollstreckungskammer zur Vorbereitung der Entscheidung über eine Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung in Auftrag gegebenes forensisch-psychiatrisches Gutachten. Danach habe der Kläger im Rahmen der Begutachtung die abgeurteilte Vergewaltigung, nicht aber frühere Gewalttätigkeiten gegenüber seiner Ehefrau, bestritten. Der Verfasser erläuterte, dass der Kläger von der Strafe und Strafverbüßung beeindruckt erscheine. Auch wenn die Einlassung des Klägers erkennen ließe, dass es wohl weitere nötigungsähnliche Vorfälle gegeben habe, wären diese doch überwiegend eingebunden gewesen in eine entweder einvernehmliche oder auch möglicherweise nur zugestandene Vita sexualis. Eine Disposition zu einer problematischen Beziehung, wie er sie mit seiner Ehe eingegangen sei, würde derzeit eher nicht vorliegen. Es handle sich beim Kläger nicht um eine prinzipiell unwiederholbare Konstellation. Das gelte sowohl für die Exfrau als auch für jede weitere präsumtive Partnerin. Der Kläger habe wohl auch aus einer sozial-mentalen Tradition einen Anspruch auf dauerhafte sexuelle Verfügbarkeit abgeleitet. Für weitere Lebensabschnittspartnerschaften sei das Vorhandensein von nicht erheblichen Problemkonstellationen in zwischenmenschlichen Beziehungen und wohl auch in puncto Intimität zwar eine nicht zu vernachlässigende Möglichkeit, diese erscheine derzeit aber nur theoretischer Natur. Der Kläger habe vermittelt, dass er nicht mehr durch derartige Deliktualität eine mehr oder weniger bestehende Berechtigung zur sexuellen Bedürfnisbefriedigung für sich in Anspruch nehmen wolle. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass der Kläger außerhalb der Haft, beispielsweise in einer neuen Partnerschaft, entsprechende Straftaten begehen werde. Die Gesamtwürdigung der Tatpersönlichkeit des Klägers und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs habe aus psychiatrischer Sicht gerade auch unter Berücksichtigung neuerer Gefährlichkeitsprognosekriterien ergeben, dass beim Kläger derzeit nur eine sehr geringe Gefahr dafür bestehe, dass die durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Aus gutachterlicher Sicht bestehe unter Einhaltung bestimmter Sicherheitsvorkehrungen Entlassungsreife. So solle der Kläger unter anderem eine Gesprächspsychotherapie absolvieren. Abschließend führte der Verfasser aus, dass wesentlich mehr dagegen als dafür spreche, dass der Kläger in der Zukunft soziale Beziehungen - was den Partnerschaftsraum angehe - aufrechterhalte bzw. aufbaue und dass es dabei zu einem Aufleben problematischer Gewohnheiten mit der Gefahr der erneuten Eskalation komme.
16
Mit Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg bei dem Amtsgericht Landsberg am Lech vom 11. Oktober 2017 wurde die Vollstreckung des Strafrests nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Dabei wurde dem Kläger unter anderem die Weisung erteilt, sich unverzüglich an einen Psychotherapeuten zu wenden und eine ambulante Gesprächstherapie für mindestens zwei Jahre durchzuführen. Zur Begründung wurde dabei ausgeführt, dass nach Auffassung des Gerichts unter Beachtung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne, zu erproben, ob sich der Kläger künftig straffrei führen werde. Dabei erfordere eine bedingte Entlassung keine Gewissheit künftiger Straffreiheit, es genüge vielmehr das Bestehen einer naheliegenden Chance für ein straffreies Leben. Die Strafvollstreckungskammer vermöge dem Kläger noch eine günstige Prognose zu stellen. Nach teilweiser Verbüßung der Freiheitsstrafe könne erwartet werden, dass sich der Kläger künftig straffrei führen werde. Am 18. Oktober 2017 wurde der Kläger entlassen.
17
Mit Schreiben vom 13. Dezember 2017 wurde die geschiedene Ehefrau des Klägers zur beabsichtigten Ausweisung angehört.
18
Mit Bescheid vom 12. Juli 2018, zugestellt am 23. Juli 2018, wies das Landratsamt Starnberg den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1 des Bescheids), befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von fünf Jahren ab der Ausreise bzw. Abschiebung (Nr. 2), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland bis spätestens 12. August 2018 zu verlassen (Nr. 3) und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist, an (Nr. 4).
19
In der Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger ausweislich seines Rentenversicherungsverlaufs dem deutschen Arbeitsmarkt viele Jahre am Stück als Arbeitnehmer zur Verfügung gestanden habe. Deshalb werde ohne weitere Prüfung zu seinen Gunsten unterstellt, dass ihm ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zustehe und er damit den erhöhten Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG genieße. Hinsichtlich der Frage der Wiederholungsgefahr und damit der abweichenden Einschätzung der Strafvollstreckungskammer führte der Beklagte aus, dass es sich laut des forensisch-psychiatrischen Gutachtens bei der Vergewaltigung nicht um eine unwiederholbare Konstellation handle. Das gelte sowohl für die Exfrau, als auch jede weitere präsumtive Partnerin. Dieser Gefahr gelte es zu begegnen. Der Aufenthalt des Klägers stelle nach wie vor eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Mangels Einsicht und mangels erfolgreich abgeschlossener Therapie könne nicht von einem Entfallen der Gefahr ausgegangen werden. Es sei viel wahrscheinlicher, dass der Kläger im Rahmen der nächsten Partnerschaft in gleiche Verhaltensmuster fallen werde, sodass weiterhin mit Gewalt und sexuellen Übergriffen durch den Kläger zu rechnen sei. Im Übrigen wird auf die Begründung Bezug genommen.
20
Mit Schriftsatz vom 22. August 2018 erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Den dabei ebenfalls gestellten Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nahm er in der mündlichen Verhandlung zurück und beantragt zuletzt,
21
I. Der Bescheid vom 12. Juli 2018 wird aufgehoben.
22
II. Hilfsweise: Der Beklagte wird verpflichtet, die Wiedereinreiseuntersagung auf ein Jahr zu befristen.
23
Zur Begründung wurde auf den Akteninhalt und eine Stellungnahme des Bevollmächtigten im behördlichen Verfahren verwiesen. Eine weitere (schriftliche) Klagebegründung wurde angekündigt, erfolgte aber nicht.
24
Unter dem 31. Juli 2020 wurde ein undatiertes Schreiben des Inhabers des Betriebs … Landschafts- und Gartengestaltung vorgelegt, in dem dieser angibt, der Kläger sei ein vertrauensvoller, verantwortungsbewusster und hilfsbereiter Mitarbeiter, den er noch lange in seinem Betrieb behalten wolle und dessen Verlust er sehr schade fände.
25
Zudem wurde ein Verlaufsbericht der Bewährungshelferin des Klägers vom 10. November 2020 vorgelegt, wonach der Kläger im Kontakt mit der Bewährungshelferin zuverlässig und kooperativ sei. Der Kläger habe angegeben, in keiner Beziehung zu leben. Die gerichtliche Weisung einer therapeutischen Anbindung sei zum 26. August 2020 vom zuständigen Gericht in Absprache mit der Staatsanwaltschaft als erledigt angesehen worden, weil der Bewährungsverlauf des Klägers ohne Komplikationen verlaufe. Zu Beginn der Bewährungszeit sei ohne Erfolg versucht worden, den Kläger an einen türkischsprachigen Therapeuten anzubinden. Bei den wenigen in Frage kommenden Therapeuten hätten keine Kapazitäten für neue Patienten bestanden.
26
In der mündlichen Verhandlung am 12. November 2020 äußerte der Kläger ebenfalls, dass er derzeit allein lebe und keine Beziehung habe. Er könne sich eine neue Beziehung vorstellen, wenn diese im gegenseitigen Vertrauen eingegangen werde. Seine Wohnung werde ihm von seinem Arbeitgeber bereitgestellt. Vergewaltigung in der Ehe halte er für Unrecht.
27
Nach richterlichem Hinweis hoben die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung Nummern 3 und 4 des angefochtenen Bescheids auf und beantragen erstmals:
28
Die Klage wird abgewiesen.
29
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A.
30
Soweit die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen wurde, war das Verfahren gem. § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
B.
31
Im Übrigen hat die zulässige Klage Erfolg.
32
Der Bescheid des Beklagten vom 12. Juli 2018 erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
33
Die behördliche Entscheidung über die Ausweisung ist durch das Gericht in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BayVGH‚ B.v. 21.3.2016 - 10 ZB 15.1968 - juris Rn. 9 m.w.N.). Nach ständiger Rechtsprechung ist für die Beurteilung der Frage der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Gerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 8).
34
I. Rechtsgrundlage der getroffenen Ausweisungsentscheidung ist § 53 Abs. 3 AufenthG.
35
Danach bestehen erhöhte Anforderungen an die Ausweisung eines Ausländers, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht. Dieses haben insbesondere Ausländer, die von den Art. 6 oder 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 (ARB 1/80) begünstigt werden (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition, Stand: 1.10.2020, § 53 AufenthG Rn. 97). Nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat unter anderem nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (vgl. Spiegelstrich 3).
36
Der Kläger stand ausweislich seiner Rentenversicherungsverlaufsbescheinigung dem deutschen Arbeitsmarkt über einen langen Zeitraum zur Verfügung. Insbesondere ist der Kläger seit 2007, mit einer Unterbrechung während der Verbüßung der Freiheitsstrafe, im selben Garten- und Landschaftsbaubetrieb beschäftigt. Dass er saisonbedingt regelmäßig über die Wintermonate ausgestellt wird, schadet dem Erwerb des Aufenthaltsrechts nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht, da dies nach Auffassung des Gerichts keine Arbeitslosigkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 darstellt. Bei der Ausstellung von Arbeitnehmern über die Wintermonate handelt es sich um ein in vielen Branchen angewendetes und mit der Bundesagentur für Arbeit abgestimmtes Vorgehen. Es trägt allein dem Umstand Rechnung, dass eine Leistungserbringung in einigen Brachen saisonbedingt in den Wintermonaten schlicht nicht möglich ist. Gerade das Beispiel des Klägers, der von seinem Arbeitgeber eine Wohnung gestellt bekommt und in jedem Frühjahr verlässlich wieder eingestellt wird, zeigt, dass die saisonbedingt ausgestellten Arbeitnehmer auch über den Winter hinweg in ihren jeweiligen Betrieben eingebunden bleiben. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift kann die saisonbedingte Ausstellung damit nicht von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 ARB 1/80 erfasst werden. Der Beklagte hat die Ausweisung des Klägers daher zutreffender Weise auf § 53 Abs. 3 AufenthG gestützt.
37
II. Der Bescheid ist jedoch materiell rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG liegen jedenfalls im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vor.
38
Gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht oder der eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU besitzt, nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
39
Einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer kommt zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21). Hier ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und Ausweisung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen. Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit gegebenenfalls unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung im vorgenannten Sinne von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zugrundeliegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Betroffene im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 10 C 10.12 - juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 6.6.2017 - 10 ZB 17.488 - juris Rn. 5; B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10 m.w.N.; B.v. 22.3.2019 - 10 ZB 18.2598 - juris Rn. 11).
40
Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18).
41
Gemessen an diesen Maßstäben geht vom Kläger nach Auffassung des Gerichts derzeit keine gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Mit Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg vom 11. Oktober 2017 wurde die Vollstreckung des Rests der gegen den Kläger verhängten Freiheitsstrafe nach Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Auch wenn das Gericht an diese Entscheidung nicht gebunden ist und mit entsprechender Begründung eine abweichende Entscheidung treffen könnte, sieht es im Falle des Klägers im Ergebnis keine Grundlage für eine andere Einschätzung.
42
Das in Vorbereitung der Bewährungsentscheidung eingeholte forensisch-psychiatrische Gutachten vom 3. September 2017 zeichnet ein positives Bild des Klägers. Der Verfasser führt dabei zwar aus, dass die verübte Tat nicht unwiederholbar sei, sieht aber eine geringe Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholung. Für erneute Vergewaltigungstaten gebe es keine Anhaltspunkte.
43
Anders als der Beklagte ist das Gericht der Auffassung, dass die Aussage des Gutachters, es handle sich nicht um eine unwiederholbare Konstellation, nicht ausreicht, um eine hinreichende Wiederholungsgefahr annehmen zu können. Dies folgt zum einen aus dem Umstand, dass für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr gerade auf die individuellen Verhältnisse des Ausländers zum Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung abzustellen ist. Nur wenn auf absehbare Zeit eine erneute Tat droht, ist die Ausweisung gerechtfertigt. Auch wenn im Rahmen der Ausweisungsentscheidung ein im Vergleich zur Bewährungsentscheidung längerer Zeithorizont in den Blick zu nehmen ist, genügt die nur abstrakt bestehende Möglichkeit einer weiteren Straftat nicht. Hinzukommt, dass im vorliegenden Fall eine Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur bei Vorliegen einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung möglich ist. Eine solche lässt sich aus dem Umstand, dass eine Wiederholung nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann, ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte aber keinesfalls herleiten. Gerade aufgrund des normierten Merkmals der Gegenwärtigkeit wird nochmals betont, dass zum Zeitpunkt der ausländerrechtlichen Entscheidung eine hinreichende Gefahr hinsichtlich erneuter Straftaten bestehen muss. Die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Tat sah der Verfasser des Gutachtens zum damaligen Zeitpunkt aber ausdrücklich als sehr gering an.
44
Aber auch unabhängig von der getroffenen Bewährungsentscheidung und des dieser zugrundeliegenden Gutachtens geht das Gericht aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Klägers und des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks nicht vom Vorliegen einer ausreichenden Wiederholungsgefahr aus.
45
Die Vergewaltigungstat des Klägers liegt bereits über sieben Jahre zurück. Mittlerweile befindet sich der Kläger seit über drei Jahren wieder in Freiheit, ohne dass es zu einer erneuten Tat gekommen wäre. Der Kläger ist vor der Verurteilung vom 6. November 2013 strafrechtlich kaum in Erscheinung getreten. Es war lediglich eine Verurteilung wegen Trunkenheit im Verkehr erfolgt. Ein grundsätzliches Ablehnen der deutschen Rechtsordnung lässt sich nicht erkennen, sodass vom Kläger keine Gefahr hinsichtlich anderer Delikte ausgeht. Denkbar wäre allein eine erneute Vergewaltigungstat. Die Begehung einer solchen hängt beim Kläger jedoch von mehreren Bedingungen ab. Der Kläger hat sich, soweit bekannt, ausschließlich in der Ehe wegen Vergewaltigung strafbar gemacht. Als mögliches Opfer käme daher nur eine neue Ehefrau bzw. Partnerin des Klägers in Betracht, sodass sich eine Wiederholung der Tat erst ereignen könnte, wenn der Kläger eine neue Beziehung einginge. Eine neue Beziehung schloss der Kläger in der mündlichen Verhandlung zwar nicht aus, äußerte jedoch, dass er sich eine solche nur bei gegenseitigem Vertrauen vorstellen könne. Der Kläger möchte eine neue Partnerin also mit Bedacht wählen. Ob und wann er eine aus seiner Sicht geeignete Partnerin finden wird und ob sich daraus tatsächlich eine Beziehung ergibt, ist in keiner Weise absehbar. Zudem hat die Kammer in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger über ein ausreichendes Unrechtsbewusstsein verfügt. Er hat glaubhaft geäußert, Vergewaltigung in der Ehe als Unrecht anzusehen. Ebenso wie der Verfasser des forensisch-psychiatrischen Gutachtens ist die Kammer der Auffassung, dass den Kläger die strafrechtlichen Konsequenzen seiner Tat beeindruckt haben. Gerade die erheblichen Einschränkungen im Umgang mit seinen Söhnen stellen für den Kläger nach wie vor eine starke Belastung dar. Es spricht deshalb viel dafür, dass der Kläger keine neuen Straftaten begehen wird, um weiteren gravierenden Sanktionen zu entgehen. Das Vorliegen einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr i.S.v. § 53 Abs. 3 AufenthG lässt sich nach Ansicht des Gerichts daher nicht begründen.
46
Abschließend ist anzuführen, dass das Gericht den Umstand, dass der Kläger entgegen der in der Bewährungsentscheidung vom 11. Oktober 2017 auferlegten Weisung keine Psychotherapie absolviert hat, nicht zum Nachteil des Klägers wertet. So hielt die damals entscheidende Richterin zwar in Übereinstimmung mit dem eingeholten forensisch-psychiatrischen Gutachten eine Therapie für angezeigt. Allerdings wurde diese Weisung laut der Bewährungshelferin des Klägers vom zuständigen Gericht in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft als erledigt angesehen, weil kein türkisch sprechender Therapeut gefunden werden konnte und ein Absehen von der Therapie aufgrund des positiven Bewährungsverlaufs vertretbar war. Es wurde also einerseits Behandlungsbedarf gesehen, allerdings stellte sich dieser im Nachhinein als nicht so groß dar, dass auf einer Therapie, etwa unter Zuziehung eines Dolmetschers, beharrt worden wäre.
47
Damit erweist sich die Ausweisungsentscheidung zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtswidrig und ist aufzuheben. Gleiches gilt für die aufgrund der Ausweisungsentscheidung ergangene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots des § 11 Abs. 1 AufenthG in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids.
C.
48
Die Kostenentscheidung hinsichtlich des aufrechterhaltenen Klageantrags folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage sind die Kosten nach § 155 Abs. 2 VwGO dem Kläger aufzuerlegen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1, 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.