Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 08.12.2020 – Au 1 K 20.1213
Titel:

Zurechnung des Fehlverhaltens eines Elternteils bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen guter Integration

Normenkette:
AufenthG § 25a Abs. 1, § 60a
Leitsätze:
1. Ein Ausländer, der sich (lediglich) im Besitz einer sogenannten Verfahrensduldung befindet, gilt als "geduldet" im Sinne des Aufenthaltsgesetzes. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Zusammenhang mit § 25a Abs. 1 S. 3 AufenthG ist nur ein Fehlverhalten des Jugendlichen zu berücksichtigen; ein Fehlverhalte seiner Eltern kann ihm nicht zugerechnet werden. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigerianischer Staatsangehöriger, Abgelehnter Asylbewerber, Aufenthaltsgewährung bei gut integriertem Jugendlichen, Verfahrensduldung, (Kein) Vorliegen besonderer Umstände bzw. einer atypischen Fallgestaltung, Aufenthaltserlaubnis, nigerianischer Staatsangehöriger, Nigeria, Zurechnung, Elternteil, Integration, vollziehbar ausreisepflichtig, Duldung, Aufenthaltsgestattung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 36260

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 9. Juni 2020 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu erteilen. 
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein am ... 2005 geborener nigerianischer Staatsangehöriger, begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen guter Integration.
2
Die Mutter des Klägers verließ im Jahr 2003 ihr Heimatland und hielt sich von 2003 bis 2014 in Spanien auf. Zusammen mit dem Kläger und dessen Schwester reiste sie am 21. April 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellten am 21. Mai 2014 Asylanträge, welche mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 21. November 2016 abgelehnt wurden. Die hiergegen erhobenen Klagen blieben erfolglos (VG Augsburg, U.v. 29.08.2017 - Au 7 K 16.32641). Nach Abschluss des Asylverfahrens waren sie zunächst im Besitz von Duldungen. Vom 22. Juni 2020 bis zum 25. Oktober 2020 wurden ihnen nur noch Grenzübertrittsbescheinigungen ausgestellt. Seit dem 26. Oktober 2020 sind sie wieder im Besitz von Duldungen, die bis zum 31. Dezember 2020 befristet sind.
3
Die Mutter des Klägers gebar am ... 2014 und am ... 2018 weitere Töchter. Auch die Asylverfahren der Töchter blieben erfolglos (Bundesamt, Bescheid vom 27.10.2017 und VG Augsburg, U.v. 4.10.2018; Bundesamt, Bescheid vom 30.8.2018, VG Augsburg, U.v. 9.9.2019 und BayVGH, B.v. 6.11.2019).
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Die Bevollmächtigte des Klägers beantragte am 15. Juli 2019 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.
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Am 9. Januar 2020 beantragten der Kläger, seine Mutter sowie seine Geschwister im Wege des Eilrechtsschutzes, dem Beklagten zu untersagen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen sie zu vollziehen (Au 1 E 19.2249). Mit Schreiben vom 18. Februar 2020 sicherte der Beklagte zu, bis zur bestands-/rechtskräftigen Verbescheidung des Antrags des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen. Daraufhin erklärten die Beteiligten das Eilverfahren für erledigt und das Gericht stellte das Verfahren mit Beschluss vom 26. März 2020 ein.
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Ab dem 18. Februar 2020 war die Mutter des Klägers unbekannten Aufenthalts und wurde vom Beklagten zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Der Kläger sowie seine Geschwister verblieben allein in der Unterkunft. Am 9. März 2020 meldete die Mutter des Klägers bei der Stadt ... ihren Wohnsitz zum 6. März 2020 wieder an.
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Der Beklagte führte in einer E-Mail an die Deutsche Botschaft in Spanien vom 19. Februar 2020 aus, dass Bewohner der Unterkunft mitgeteilt hätten, dass sich die Mutter des Klägers in Spanien aufhalte, um ihren Aufenthaltstitel zu verlängern und bat um Mitteilung, ob die Familienangehörigen in Spanien einen Aufenthaltstitel besitzen. Die Deutsche Botschaft teilte daraufhin am 25. Mai 2020 mit, dass die Mutter des Klägers nach Auskunft der spanischen Behörden einen Antrag auf Erteilung eines Langzeitaufenthaltstitels gestellt habe. Ihr bisheriger Aufenthaltstitel sei am 28. Januar 2020 abgelaufen gewesen. Ergänzend teilte die Deutsche Botschaft am 24. Juni 2020 mit, dass der Mutter des Klägers in Spanien eine Aufenthaltserlaubnis bis zum Jahr 2025 erteilt worden sei. Die Aufenthaltserlaubnisse des Klägers und seiner Schwester seien am 28. Januar 2020 abgelaufen.
8
Mit Schriftsatz vom 26. Juni 2020 beantragte die Bevollmächtigte des Klägers beim Beklagten die Erteilung von Duldungen. Der Beklagte antwortete mit Schreiben vom 29. Juni 2020, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nicht bestehe. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen seien nicht eingeleitet worden. Die ausgestellten Grenzübertrittsbescheinigungen dienten dem Nachweis der freiwilligen Ausreise.
9
Am 9. Juli 2020 erhoben der Kläger, seine Mutter sowie seine Geschwister Klagen, mit denen sie die Erteilung einer Duldung begehrten. Zugleich beantragten sie abermals Eilrechtsschutz mit dem Ziel, den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu betreiben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sie einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätten, weil ihre Abschiebung aus rechtlichen Gründen auszusetzen sei. Der Beklagte habe die Zusicherung gegeben, bis zur rechtskräftigen Verbescheidung der beantragten Aufenthaltserlaubnis keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu betreiben. Dies bedeute, dass die Abschiebung bis zum genannten Zeitpunkt zeitweilig ausgesetzt sei.
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Der Beklagte erklärte mit Schreiben vom 17. Juli 2020, sich weiterhin an die Zusicherung, dass bis zur bestandskräftigen Verbescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis des Klägers keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen erfolgen werden, zu halten. Aufgrund fehlender Duldungsgründe seien dem Kläger, seiner Mutter sowie seinen Geschwistern Grenzübertrittsbescheinigungen mit einer Ausreiseaufforderung bis zum 31. Juli 2020 ausgestellt worden. Sollte die Ausreise bis dahin nicht erfolgen, würden neue Grenzübertrittsbescheinigungen ausgestellt werden. Die Familie sei vollziehbar ausreisepflichtig und hätte keinen Anspruch auf Ausstellung einer Duldung gem. § 60a AufenthG, weil keine materiellen Duldungsgründe vorlägen.
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Daraufhin erklärten die Beteiligten das Eilverfahren für erledigt und das Gericht stellte das Verfahren wiederum mit Beschluss vom 11. August 2020 ein (Au 1 E 20.1172).
12
Nach erfolgter Anhörung lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG mit Bescheid vom 9. Juli 2020 ab. Der Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitere bereits daran, dass der Kläger nicht im Besitz einer gültigen Duldung sei, weil kein Duldungsgrund vorliege. Zum Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei er im Besitz eines gültigen spanischen Aufenthaltstitels gewesen. Diese Information sei dem Beklagten vorenthalten worden, was einen Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht darstelle.
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Am 20. Juli 2020 ließ der Kläger Klage erheben. Zugleich beantragte er für dieses Verfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie die Beiordnung seiner Bevollmächtigten. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger wegen der vom Beklagten abgegebenen Zusicherung einen Anspruch auf Duldung habe. Er halte sich zudem seit vier Jahren ununterbrochen gestattet und dann geduldet in der Bundesrepublik auf. Außerdem besuche er seit vier Jahren erfolgreich eine Schule, was durch die Vorlage der entsprechenden Schulzeugnisse belegt worden sei. Sämtliche Schulzeugnisse zeigten, dass er in die nächste Klassenstufe versetzt worden sei. Zuletzt erscheine gewährleistet, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen könne. Er sei Mitglied in mehreren Sportvereinen und in der Kirchengemeinde als Ministrant engagiert. Im schulischen Rahmen setze er sich ehrenamtlich als Schulweghelfer sowie in der Schülerzeitung ein. Die beiden Strafverfahren sprächen nicht gegen eine positive Sozialprognose. Beide Strafverfahren seien gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Jedenfalls aber liege ein Ermessensfehlgebrauch des Beklagten vor. Der Beklagte nehme nicht alle Erwägungen in seine Entscheidung auf. Die vielfältigen Integrationsleistungen des Klägers als Ministrant, als Aktiver in Sportvereinen und als Schulweglotse seien relevante Tatsachen, die vom Beklagten nicht einmal erwähnt worden seien. Insgesamt sei das intendierte Ermessen dahingehend auszuüben, dass dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei. Das Ermessen sei dahingehend auf null reduziert. Hilfsweise stehe ihm jedenfalls eine ermessensfehlerfreie Entscheidung des Beklagten zu.
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Der Kläger beantragt,
15
Der Bescheid des Beklagten vom 9.7.2020, zugestellt am 10.7.2020, wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu erteilen, hilfsweise unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
16
Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 27. Oktober 2020 mit, dass der Mutter des Klägers eine Duldung gem. § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG und dem Kläger sowie seinen Geschwistern eine Duldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 ausgestellt worden sei. Diese Duldungen seien vom 26. Oktober bis 31. Dezember 2020 gültig.
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Mit Beschluss des Gerichts vom 9. November 2020 wurde dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt und ihm seine Bevollmächtigte beigeordnet.
18
Der Beklagte teilte am 7. Dezember 2020 per Telefax mit, dass die Zusicherung vom 18. Februar 2020 zurückgenommen werde. Dem Beklagten sei seinerzeit nicht bewusst gewesen, dass die Zusicherung verpflichtend zur Folge habe, dass dem Kläger eine Duldung ausgestellt werden müsse. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 2019, welches diese Verpflichtung begründe, sei dem Beklagten nicht bekannt gewesen.
19
Am 8. Dezember 2020 fand in der Sache mündliche Verhandlung statt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vom Beklagten vorgelegten Behördenakten, insbesondere auch auf die vom Kläger vorgelegten Unterlagen (Schulzeugnisse, Bescheinigungen, etc.).

Entscheidungsgründe

20
Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Daher war der rechtswidrige Bescheid des Beklagten vom 9. Juni 2020 aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu erteilen.
21
1. Gegenstand der Klage ist die begehrte Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.
22
2. Die Klage ist zulässig und unbegründet.
23
a) Grundlage der begehrten Aufenthaltserlaubnis ist die Vorschrift des § 25a Abs. 1 AufenthG. Nach dieser Regelung soll einem jugendlichen geduldeten Ausländer u.a. dann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält (Ziffer 1), er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht (Ziffer 2), der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Ziffer 3), es gewährleistet erscheint, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (Ziffer 4) und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (Ziffer 5).
24
b) Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind im Fall des Klägers erfüllt.
25
aa) Der Kläger hält sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet auf (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Zwar war der Kläger vom 22. Juni 2020 bis zum 25. Oktober 2020 weder im Besitz einer Aufenthaltsgestattung, noch wurde ihm eine Aufenthaltserlaubnis erteilt oder eine Duldung ausgestellt. Der Beklagte händigte ihm lediglich eine Grenzübertrittsbescheinigung aus. Im Hinblick auf die Zusicherung des Beklagten vom 18. Februar 2020, bis zur bestands-/rechtskräftigen Verbescheidung des Antrags des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen, sowie unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 18.12.2019 - 1 C 34.18 - juris) ist jedoch davon auszugehen, dass der Zeitraum vom 22. Juni 2020 bis zum 25. Oktober 2020 nicht zu einer Unterbrechung des gestatteten oder geduldeten Aufenthalts geführt hat. Denn dem Kläger hätte aufgrund der Zusicherung auch für diesen Zeitraum eine Duldung erteilt werden müssen. Das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass ein Ausländer, der sich (lediglich) im Besitz einer sogenannten Verfahrensduldung befindet, als „geduldet“ im Sinne des Aufenthaltsgesetzes gilt (BVerwG, U.v. 18.12.2019 - 1 C 34.18 - juris Rn. 28). Sofern der Beklagte mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2020 gegenüber dem Gericht mitgeteilt hat, dass die Zusicherung vom 18. Februar 2020 zurückgenommen werde, kann dies allenfalls Wirkung für die Zukunft auslösen, zumal der Beklagte nicht einmal selbst erklärt hat, dass er den in der Vergangenheit liegenden Duldungsstatus nachträglich mit Rückwirkung beseitigen wollte. Auch aktuell ist der Kläger nach wie vor im Besitz einer Duldung, die bis zum 31. Dezember 2020 befristet ist. Diese Duldung ist gegenüber dem Kläger auch nicht aufgehoben worden. Der Beklagte hatte allein mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2020 erklärt, die Zusicherung vom 18. Februar 2020 zurückzunehmen. Eine Aufhebung der Duldung in Form eines Widerrufs oder einer Rücknahme gegenüber dem Kläger erfolgte aber erkennbar nicht.
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bb) Der Kläger besucht im Bundesgebiet seit vier Jahren erfolgreich eine Schule (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Er ist fortlaufend in die nächste Jahrgangsstufe versetzt worden. Ausweislich des vorgelegten Jahreszeugnisses der Mittelschule ... vom 24. Juli 2020 hat der Kläger auch die 8. Jahrgangsstufe erfolgreich absolviert. Nicht einmal in einem Fach wurde er mit der Note mangelhaft oder ungenügend bewertet.
27
cc) Der Kläger hat den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unstreitig vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG).
28
dd) Darüber hinaus erscheint es gewährleistet, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Das Gericht verkennt dabei nicht, dass das Verhalten des Klägers sowohl schulisch, aber auch außerschulisch, zum Teil Anlass für Beanstandungen gab. Zuletzt wurde ihm aber im aktuellen Schulzeugnis ein einwandfreies Verhalten bescheinigt. Auch wurde er bislang nicht strafrechtlich verurteilt, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass dies zumindest in einem Fall nur an der Strafunmündigkeit des Klägers gelegen haben könnte. Darüber hinaus engagiert sich der Kläger als Schulweghelfer und Ministrant und ist auch in Sportvereinen aktiv. In der Gesamtschau ist das Gericht daher der Überzeugung, dass es gewährleistet erscheint, dass der Kläger sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse, insbesondere des gewandelten und zuletzt gezeigten Verhaltens, das den Fortschritt der Integration zum Ausdruck bringt, in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann.
29
ee) Weiter bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er sich nicht zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (§ 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG).
30
ff) Nachdem sich der Kläger in einer schulischen Ausbildung befindet, schließt die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ebenfalls nicht aus (§ 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Zudem kommt eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 Satz 3 AufenthG nicht in Betracht. Nach § 25a Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu versagen, wenn die Abschiebung allein aufgrund eigener falscher Angaben des Ausländers ausgesetzt ist. Unabhängig von der Frage, wie das verschwiegene Aufenthaltsrecht in Spanien zu werten ist, hat - soweit ersichtlich - jedenfalls nicht der Kläger, sondern dessen Mutter für diesen gehandelt und entsprechende Angaben gemacht. Aus dem Wortlaut des § 25a Abs. 1 Satz 3 AufenthG geht hingegen eindeutig hervor, dass nur ein Fehlverhalten des Jugendlichen zu berücksichtigen ist („eigener“) und ihm ein Fehlverhalten seiner Eltern nicht zugerechnet werden kann (Wunderle/Röcker in: Bergmann/ Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 25a AufenthG Rn. 18).
31
c) Sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG - wie im Fall des Klägers - erfüllt, soll dem Jugendlichen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dem gesetzlichen Regelfall nach besteht daher bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich ein Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis („soll … erteilt werden“). Allein im Falle einer atypischen Fallgestaltung oder wegen besonderer Umstände ist ein Ausnahmefall anzunehmen, der der Ausländerbehörde ein Ermessen einräumt (Wunderle/Röcker in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 25a AufenthG Rn. 10). Im Fall des Klägers ist aber keine atypische Fallgestaltung anzunehmen und es sind auch keine besonderen Umstände gegeben. So ist zunächst festzustellen, dass der Beklagte diesbezüglich keinerlei Feststellungen getroffen hat. Im Bescheid des Beklagten findet sich zu dieser Fragestellung nichts. Auch nach Erlass des Beschlusses des Gerichts vom 9. November 2020, mit dem dem Kläger Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, hat der Beklagte sich weder schriftsätzlich geäußert, noch ist er zur mündlichen Verhandlung erschienen, obwohl in diesem Beschluss die Frage nach einer Atypik oder besonderer Umstände ausdrücklich aufgeworfen wurde. Unabhängig davon ist zur Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Fall keine atypische Fallgestaltung anzunehmen und es bestehen keine besonderen Umstände, die einen Ausnahmefall begründen. Zwar hat der Kläger zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis ein Aufenthaltsrecht in Spanien besessen, das gegenüber dem Beklagten nicht offengelegt worden ist. Diesen Umstand hat allerdings allenfalls die Mutter des Klägers, nicht aber der Kläger selbst zu vertreten. Wie bereits ausgeführt, ist im Rahmen des § 25a AufenthG aber nur das eigene Fehlverhalten des Jugendlichen zu berücksichtigen. Würde ein Fehlverhalten der Angehörigen, insbesondere des gesetzlichen Vertreters, aber im Rahmen der Prüfung der Atypik bzw. der besonderen Umstände zu Lasten des Jugendlichen gehen, bliebe die Wertung des § 25a Abs. 1 Satz 3 AufenthG zumindest teilweise unberücksichtigt, weil der Jugendliche seinen gebundenen Anspruch verlöre und ihm lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung verbliebe. Auch losgelöst von Verschuldenserwägungen im Hinblick auf das Verschweigen des Aufenthaltsrechts, begründet allein das in der Vergangenheit bestandene Aufenthaltsrecht in Spanien weder eine Atypik noch besondere Umstände. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die Aufenthaltserlaubnis in Spanien - soweit bekannt und vom Beklagten selbst vorgetragen - bereits abgelaufen. Darüber hinaus ist der Kläger mit seiner Mutter bereits im Alter von acht Jahren nach Deutschland umgezogen. Es ist nicht ersichtlich, dass er seitdem das Bundesgebiet verlassen hat. Allein der Umstand, dass der Kläger im Besitz einer spanischen Aufenthaltserlaubnis war, schmälert daher in keiner Weise die Integrationsleistung der letzten sechs Jahre, die er durch Erfüllen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 25a AufenthG erbracht hat.
32
3. Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beklagte hat als unterlegener Teil die Verfahrenskosten zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.