Inhalt

VGH München, Beschluss v. 15.12.2020 – 20 NE 20.2526
Titel:

Erfolgloser Eilantrag gegen coronaschutzbedingte Betriebsuntersagung von Wettannahmestellen in Bayern

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, § 28a Abs. 1 Nr. 6, § 32
BayIfSMV § 11 Abs. 6 Nr. 10
Leitsätze:
1. In der derzeitigen pandemischen Situation eines stark zunehmenden und diffusen Infektionsgeschehens begegnet die Entscheidung des Verordnungsgebers, den Betrieb von Freizeiteinrichtungen vorübergehend zu untersagen, so dass in diesem Bereich physische Kontakte ausgeschlossen werden können, keinen durchgreifenden Bedenken. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch im Rahmen einer Folgenabwägung müssen die Schutzgüter der Normadressaten, insbesondere ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG, mit Blick auf das erheblich verstärkte pandemische Geschehen derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten (Anschluss an BVerfG BeckRS 2020, 30293; BayVerfGH BeckRS 2020, 31088). (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Betriebsuntersagung von Freizeiteinrichtungen (hier: Wettannahmestelle), Ablehnung, Untersagung, Betriebsuntersagung, Freizeiteinrichtung, Wettannahmestelle, Ansteckung, Kontakt, Infektionsgefahr
Fundstelle:
BeckRS 2020, 35630

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
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1. Die Antragstellerin, die in Bayern mehrere Wettannahmestellen betreibt, beantragt zuletzt, den Vollzug von § 11 Abs. 6 der Zehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 8. Dezember 2020 (10. BayIfSMV; BayMBl. 2020 Nr. 711) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 10. Dezember 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 734) einstweilen auszusetzen, soweit er sich auf Wettannahmestellen bezieht.
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2. Die angegriffene Regelung hat folgenden Wortlaut:
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㤠11 Freizeiteinrichtungen
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(6) Bordellbetriebe, Prostitutionsstätten, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen, Clubs, Diskotheken, sonstige Vergnügungsstätten und vergleichbare Freizeiteinrichtungen sind geschlossen.“
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3. Die Antragstellerin trägt zur Begründung ihres mit Schriftsatz vom 3. November 2020 gestellten und zuletzt mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2020 auf die aktuell geltende Verordnung umgestellten Eilantrags u.a. vor, Betriebe zur reinen Wettvermittlung ohne Freizeit- bzw. Vergnügungscharakter stellten einen Fremdkörper im Regelungsgefüge des § 11 Abs. 6 10. BayIfSMV dar, weil sie kein erhebliches Besucheraufkommen aufwiesen und hygienisch unkritisch seien. Die Schließung reiner Wettannahmestellen verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Relevante infektionsschutzrechtliche Gründe (z.B. hohes Besucheraufkommen oder längere Verweildauer) lägen dort - anders als bei den übrigen in § 11 Abs. 6 10. BayIfSMV genannten Freizeiteinrichtungen (z.B. Diskotheken, Kinos, Theater, Fitnessstudios) - nicht vor. Auch bei einer Folgenabwägung überwögen die wirtschaftlichen Belange der Antragstellerin, da keine vollständige, sondern eine extrem reduzierte Öffnung angestrebt werde, die dem Infektionsschutz bestmöglich Rechnung trage.
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Im Übrigen ergebe sich aus der 7. Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina vom 8. Dezember 2020, dass die Schließung von Freizeiteinrichtungen nicht die behauptete Wirkung entfaltet habe: Im November 2020 sei lediglich eine Kontaktreduzierung gegenüber dem Oktoberwert von 12% festzustellen. Tiefgreifende Grundrechtseingriffe wie Betriebsschließungen würden also mit Behauptungen über ihre angebliche Wirksamkeit gerechtfertigt, deren tatsächliche Basis sich schon bei oberflächlicher Betrachtung in Luft auflöse.
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4. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen und beantragt dessen Ablehnung.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Ein noch zu erhebender Normenkontrollantrag in der Hauptsache gegen § 11 Abs. 6 10. BayIfSMV hätte unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei summarischer Prüfung bereits keine durchgreifende Aussicht auf Erfolg (2.). Unabhängig davon ginge auch eine Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerin aus (3.).
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1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
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Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12).
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Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
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2. Nach diesen Maßstäben ist der Eilantrag auf einstweilige Außervollzugsetzung der angegriffenen Bestimmungen abzulehnen, weil ein (noch zu stellender) Normenkontrollantrag bei summarischer Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg hätte.
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a) Im Hinblick auf die Frage, ob die angegriffene Untersagung des Betriebs von Wettannahmestellen durch § 11 Abs. 6 10. BayIfSMV auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht, insbesondere den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Parlamentsvorbehalt und an das Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG genügt, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen auf den Beschluss des Senats vom 8. Dezember 2020 (20 NE 20.2461, vgl. https://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/20a02461b.pdf, dort Rn. 22 ff.), wonach gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 28a IfSG jedenfalls im Rahmen des Eilrechtsschutzes keine durchgreifenden Bedenken bestehen.
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Die von der Antragstellerin angegriffene Bestimmung des § 11 Abs. 6 10. BayIfSMV steht mit der Ermächtigungsgrundlage der §§ 32 Satz 1, 28a Abs. 1 Nr. 6 („Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzurechnen sind“), 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG im Einklang und erweist sich im Rahmen einer summarischen Prüfung weder als offensichtlich unverhältnismäßig noch als gleichheitswidrig. Hierzu kann im Grundsatz auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 26. November 2020 (20 NE 20.2484 - juris Rn. 20 f.) betreffend § 11 Abs. 6 8. BayIfSMV i.d.F.v. 30. Oktober 2020 Bezug genommen werden.
17
Die angegriffenen Regelungen stehen in Einklang mit dem Gesamtkonzept des Verordnungsgebers, freizeitbezogene Aktivitäten weitgehend zu untersagen, um damit nicht zwingend erforderliche physische Kontakte zu verhindern und das Infektionsgeschehen abzuschwächen. Die Untersagung des Betriebs von Freizeiteinrichtungen erfolgt, um soziale Kontakte zu reduzieren und so Infektionsketten zu verhindern bzw. zu durchbrechen. Immer dann, wenn Menschen aufeinandertreffen, besteht das Risiko einer Ansteckung. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht im Wege der Tröpfcheninfektion und über Aerosole von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus voraussichtlich nur durch eine strikte Minimierung der physischen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann (BT-Drs. 19/23944 S. 31). In der derzeitigen pandemischen Situation eines stark zunehmenden und diffusen Infektionsgeschehens begegnet die Entscheidung des Verordnungsgebers, den Betrieb von Freizeiteinrichtungen vorübergehend zu untersagen, so dass in diesem Bereich physische Kontakte ausgeschlossen werden können, keinen durchgreifenden Bedenken. Insofern kommt es auf die Frage, ob in Wettannahmestellen eine spezifische Infektionsgefahr besteht, nicht maßgeblich an.
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Gleichzeitig dürfte die Erwägung, andere Wirtschaftszweige von Schließungen auszunehmen, weil dies gesamtwirtschaftlich mit noch schwereren Folgen verbunden wäre, von § 28 Abs. 6 Satz 3 IfSG noch gedeckt sein, da der Gesetzgeber den Infektionsschutzbehörden bei bereichsspezifischen Differenzierungen in einem Gesamtkonzept einen Gestaltungsspielraum eingeräumt hat (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 82).
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c) Unabhängig von Vorstehendem ergibt eine Folgenabwägung, dass die betroffenen Schutzgüter der Normadressaten, insbesondere ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG, derzeit hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen (vgl. auch BVerfG, B.v. 11.11.2020 - BvR 2530/20 - juris Rn. 12 ff.; BayVerfGH, E.v. 16.11.2020 - Vf. 90-VII-20 - BeckRS 2020, 31088 - Rn. 41); eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen kommt daher auch insofern nicht in Betracht.
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Das pandemische Geschehen hat sich erheblich verstärkt. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 14. Dezember 2020 (vgl. abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/2020-12-14-de.pdf? blob=publicationFile) ist weiterhin eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage liegt deutschlandweit bei 176 Fällen pro 100.000 Einwohner. In Sachsen liegt sie mehr als doppelt hoch, in Bayern mit 204 Fällen pro 100.000 Einwohner deutlich über der Gesamtinzidenz. Seit Anfang September nimmt der Anteil älterer Personen unter den COVID-19-Fällen wieder zu. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei Personen ≥ 60 Jahre liegt bei aktuell 165 Fällen pro 100.000 Einwohner. Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden verursacht durch zumeist diffuse Geschehen, mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten sowie in Alten- und Pflegeheimen, aber auch in beruflichen Situationen, in Gemeinschaftseinrichtungen und ausgehend von religiösen Veranstaltungen. Für einen großen Anteil der Fälle kann das Infektionsumfeld nicht ermittelt werden. Nach dem starken Anstieg der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle bis Mitte November (von 879 Fällen am 20.10 [abrufbar unter https://www.divi.de/divi-intensivregister-tagesreport-archiv] auf 3.615 Fälle am 20. November 2020), hat sich dieser mittlerweile etwas verlangsamt, die Gesamtzahl steigt aber derzeit weiter an (4.670 Fälle am 14.12.2020). Die Risikobewertung des RKI wurde angepasst. Das RKI schätzt nunmehr die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein (vgl. Risikobewertung vom 11.12.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html).
21
In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen - im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Rechte der Normadressaten. Dass der Betrieb von Wettannahmestellen derzeit entfällt, erreicht nicht das Gewicht des Schutzguts der angegriffenen Normen. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet ist, müssen die Interessen der von der Schließung von Freizeiteinrichtungen Betroffenen derzeit zurücktreten (vgl. auch BVerfG, B.v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 - juris Rn. 25; BVerfG, B.v. 11.11.2020 - 1 BvR 2530/20 - juris).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 5. Januar 2021 außer Kraft tritt (§ 30 Satz 1 10. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).