Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 07.12.2020 – M 9 K 19.4747
Titel:

Kein Nachbarschutz gegen erteilte Baugenehmigung für Neubau

Normenketten:
VwGO § 84
BauGB § 30 Abs. 3, § 34
Leitsatz:
Ungeachtet dessen, dass bauplanungsrechtlich das Maß der baulichen Nutzung nicht drittschützend ist, kann nicht ansatzweise erkannt werden, wieso ein 4 Stockwerke hohes Wohnhaus rücksichtslos gegenüber einem 11 Stockwerke hohem Wohnhaus sein könnte. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
keine Nachbarrechtsverletzung durch ein 4-stöckiges Wohnhaus neben einem 11-stöckigen Wohnhaus, Neubau, Baugenehmigung, Nachbarschutz, Gebot der Rücksichtnahme, Einfügensgebot, Befreiung, Baugrenze, Baumschutzverordnung, Maß der baulichen Nutzung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 34761

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen. 
II.    Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. Die Beigeladene zu 2 trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.    Der Streitwert wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen eine Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus mit 20 Wohneinheiten und Tiefgarage auf Fl.Nr. 557/3 (* …*), genehmigt mit Bescheid des Landratsamts vom 21. August 2019.
2
Das Vorhabensgrundstück ist ein Eckgrundstück. Ausweislich der genehmigten Pläne soll der Neubau vier Stockwerke haben. Die Tiefgarage und die Zufahrt verlaufen entlang der Südgrenze des Vorhabensgrundstücks. von der M2. Straße aus. Geplant sind 20 Wohneinheiten. Die Grundfläche beträgt 25,86 Meter x 12,61 Meter, insgesamt 365,74 qm. Das angrenzende Grundstück der Klägerin, Fl.Nr. 557, liegt nordöstlich des Vorhabensgrundstücks und ist mit mehrstöckigen Wohnhäusern bebaut. Das unmittelbar benachbarte Wohnhaus hat elf Stockwerke. Die Klägerin, eine WEG, hat ca. 200 Mitglieder.
3
Die beigeladene Gemeinde hat am 3. Juli 2019 mit Beschluss ihr Einvernehmen zu den Plänen in Gestalt der Tekturpläne, den Abweichungen sowie zu der beantragten Befreiung von den Baugrenzen des einfachen Baulinienplans Nr. 162/B/25 für eine Überschreitung der Baugrenze straßenseitig u.a. durch einen Balkon, einen Lichtschacht und die unter der Erde liegende Tiefgarage erteilt (Blatt 163 BA). Das Bauvorhaben füge sich in die Umgebungsbebauung ein und werde geprägt durch die fünf bzw. elf Geschosse auf dem Nachbargrundstück Fl.Nr. 557, dem Grundstück der Kläger.
4
Mit Bescheid vom 21. August 2019 erteilte das Landratsamt die Baugenehmigung unter Befreiung von der straßenseitigen Baugrenze und unter Erteilung von Abweichungen von der Kinderspielplatzsatzung, der Fahrradstellplatzsatzung und der Rampenneigung. Der Bescheid wurde öffentlich zugestellt.
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Mit Schriftsatz vom 18. September 2019 erhob der Bevollmächtigte der WEG Klage und beantragte,
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Aufhebung des Bescheids.
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Der Neubau sei doppelt so hoch wie das jetzige Bestandsgebäude. Aus Sicht der WEG gäbe es zu wenig KFZ-Stellplätze. Ein Baum auf dem WEG-Grundstück solle erhalten bleiben. Bereits 2014 habe die WEG einen Neubau mit sechs Stockwerken durch 130 Unterschriften verhindert. Es läge eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften vor. In der ordentlichen Eigentümerversammlung im Mai 2019 sei der Beschluss gefasst worden, dass die WEG die Hausverwaltung ermächtige, zu klagen. Es entstehe ein viel zu hoher Wohnklotz.
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Das Landratsamt beantragte,
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Klageabweisung.
10
Die Bauherrin habe am 12. Dezember 2019 die Errichtung einer weiteren Wohneinheit im 3. Obergeschoss bei unveränderter äußerer Gestalt des Gebäudes beantragt. Wegen des fehlenden Nachweises der Nachbarbeteiligung stehe die Genehmigung noch aus (Stand: Oktober 2020). Das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben liege im Geltungsbereich des einfachen Baulinienplans Nr. 162/B/25 vom 15. Februar 1927, der lediglich die überbaubare Grundstücksfläche regele und im hier gegenständlichen Bereich eine Baugrenze zur M2. Straße festsetze. Das Vorhaben füge sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die erteilten Abweichungen und Befreiungen beträfen keine nachbarschützenden Vorschriften. Insbesondere diene die Festsetzung der Baugrenze in einem Abstand von fünf Meter zur M2. Straße lediglich städtebaulichen Zielen. Das oberirdische Gebäude überschreite die Baugrenze nur marginal und die Überschreitung durch die Tiefgarage trete städtebaulich nicht in Erscheinung. Das Vorhaben füge sich auch hinsichtlich des nicht drittschützenden Maßes der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die Baukörper der WEG hätten bis zu 11 Geschossen und eine Grundfläche von bis zu 700 qm. Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots bestünden keine. Die zugelassenen Abweichungen von den gemeindlichen Satzungen ließen keine Rechtsverletzungen der Kläger erkennen. Soweit sich die WEG gegen die Fällung des auf ihrem Grundstück stehenden Ahorns wendet, werde darauf hingewiesen, dass nach fachlicher Beurteilung die Standsicherheit wegen Schäden nicht mehr gewährleistet sei. Vorschriften der Bauschutzverordnung seien außerdem nicht drittschützend.
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Die beigeladene Bauherrin beantragte,
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Klageabweisung.
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Die Höhenentwicklung des geplanten Gebäudes verstoße nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Das Maß der baulichen Nutzung sei nicht drittschützend. Die Befreiung beträfe die von den Klägern abgewandte straßenseitige Baugrenze und habe keine nachbarschützende Funktion, dies gelte auch für die Zahl der erforderlichen Stellplätze, die hier der Stellplatzsatzung entspräche. Die bewilligte Baumfällung beträfe keine nachbarschützenden Regelungen.
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Die beigeladene Gemeinde nahm mit Schreiben vom 28. Oktober 2020 Stellung. Die Baugrenze werde unterirdisch durch die Tiefgarage auf einer Breite von 2,36 bzw. 2,63 Meter und einer Tiefe von 4,07 Meter bzw. 4,52 Meter überschritten und habe eine Überdeckung von 1,00 Meter. An der südwestlichen Seite werde die Baugrenze oberirdisch auf einer Breite von 0,39 Meter und einer Tiefe von 0,17 Meter überschritten sowie an der Südseite durch einen westlichen Balkon mit einer Breite von 0,71 cm und einer Tiefe von 0,17 cm. Aus Sicht der Gemeinde konnte den Befreiungen zugestimmt werden, da die Überschreitungen nur geringfügig seien. Dies gelte auch für die genehmigten 42 Fahrradabstellplätzen anstelle der nach der Satzung vorgesehenen 44 Fahrradabstellplätzen im Hinblick darauf, dass es sich um eine große Zahl von Einzimmerwohnungen handele. Der durch die Baumschutzverordnung geschützte Ahornbaum des Klägergrundstücks sei zu fällen, da er zu nah an der Tiefgarage stehe und die Verkehrssicherheit nicht mehr gegeben sei. Aus Sicht der Gemeinde sei die angeordnete Ersatzpflanzung als Ausgleich ausreichend.
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Die Beteiligten wurden zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid angehört und haben zugestimmt.
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Im Hinblick auf die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie wurde ein Termin zum Augenschein und zur mündlichen Verhandlung abgesetzt. Unter Berücksichtigung der vorgelegten Luftbilder besteht keine Veranlassung für eine Beweiserhebung durch Augenschein und für eine mündliche Verhandlung, da die Größenverhältnisse und die örtliche Situation im Hinblick auf das Gebot des Einfügens offensichtlich sind. Der Beweisbeschluss wurde daher mit Beschluss vom 7. Dezember 2020 aufgehoben.
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Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte, insbesondere auf die Luftaufnahme (Google Earth) Blatt 77 der Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Beteiligten haben zugestimmt.
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Die Baugenehmigung vom 21. August 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 VwGO. Eine Verletzung subjektiver Rechte der Klägerin als Nachbarin ist nicht erkennbar. Insbesondere liegt keine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme als Bestandteil des Einfügensgebotes, § 34 BauGB, vor. Auch die Befreiungen und Abweichungen betreffen keine nachbarschützenden Regelungen.
21
Soweit seitens der Klägerin vorgetragen wird, dass der Neubau doppelt so hoch wie der Bestand sei und deshalb Rechte der Nachbarn verletze ist dies nicht ansatzweise nachvollziehbar, da das dem Bauvorhaben nächstgelegene Wohngebäude der Klägerin 11 Stockwerke hat. Ungeachtet dessen, dass bauplanungsrechtlich das Maß der baulichen Nutzung nicht drittschützend ist, kann nicht ansatzweise erkannt werden, wieso ein 4 Stockwerke hohes Wohnhaus rücksichtslos gegenüber einem 11 Stockwerke hohem Wohnhaus sein könnte.
22
Soweit die WEG sich gegen die erteilten Befreiungen und Abweichungen wendet, betreffen diese keine nachbarrechtlich relevanten Festsetzungen. Die Befreiung betrifft die straßenseitige Baugrenze, die ihrerseits gegenüber der Klägerin keine nachbarschützende Wirkung haben kann, da sich das Grundstück der Klägerin an der abgewandten Rückseite des Vorhabensgrundstücks befindet. Ungeachtet dessen ist auch nicht erkennbar, dass die Festsetzung einer Baugrenze zur Straße hin in dem hier vorliegenden Baulinienplan nachbarschützend sein sollte, da es sich um eine typische städtebauliche Festsetzung eines unbebauten Vorgartenbereichs handelt und keine Anhaltspunkte erkennbar sind, dass im Bebauungsplan diese Festsetzung auch im Interesse der Nachbarn getroffen wurde. Wiederum ungeachtet dessen liegt der Befreiung zugrunde, dass die straßenseitige Baugrenze lediglich durch einen Lichtschacht und einen einzelnen Balkon geringfügig überschritten wird und deshalb nicht einmal die Grundzüge der Planung nachteilig betroffen sind.
23
Soweit in der Baugenehmigung im Einvernehmen mit der Gemeinde Abweichungen von der Kinderspielplatzsatzung (Sandkasten 4,00 qm statt 20,00 qm), der Fahrradstellplatzsatzung (42 statt 44 Stellplätze) und der Rampenneigung für die Tiefgarageneinfahrt (20 Grad statt 15 Grad) erteilt wurden, erschließt sich nicht, wieso dies gegen rechtlich geschützte Nachbarinteressen verstoßen sollte. Die Festsetzung in den Satzungen dienen nicht dem Nachbarschutz. Die geänderte Rampenneigung ist nachbarrechtlich irrelevant.
24
Sofern die Klägerin sich gegen die Fällung des Baumes auf ihrem Grundstück wendet, wird darauf hingewiesen, dass die Baumschutzverordnung nach ständiger Rechtsprechung der Kammer nicht drittschützend ist.
25
Da insgesamt nicht ansatzweise eine Verletzung des allein hier in Betracht kommenden Gebots der Rücksichtnahme erkennbar ist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO abzuweisen. Es entspricht der Billigkeit, dass die Klägerin die Kosten der beigeladenen Bauherrin trägt, da diese durch Stellung eines Antrags ein Kostenrisiko eingegangen ist. Die beigeladene Gemeinde hat keinen Antrag gestellt und trägt daher ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
26
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.