Titel:
Ablehnung der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung wegen Cannabiskonsums nach Nichtvorlage eines Fahreignungsgutachtens – Verpflichtungsklage in Form der Bescheidungsklage
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 2
BtMG § 13 Abs. 1 S. 1, S. 2
StVG § 2 Abs. 1, Abs. 4 S. 1
FeV § 11 Abs. 1, Abs. 6, Abs. 8, § 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 Nr. 2, § 20 Abs. 1, § 46 Abs. 3, Anl. 4 Nr. 9.2.1, Nr. 9.2.2, Nr. 9.4, Nr. 9.6.2
Leitsätze:
1. Der Schluss auf die Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen Nichtvorlage eines Fahreignungsgutachtens darf nicht gezogen werden, wenn in der Gutachtensanordnung auf die Rechtsfolgen des § 11 Abs. 8 FeV nicht hingewiesen wurde und die Anordnung ungeachtet dessen auch nicht den Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV entsprach, insbesondere nicht verhältnismäßig war. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Einnahme von ärztlich verordnetem Medizinal-Cannabis entfällt die Fahreignung grundsätzlich nicht schon wegen regelmäßigen Cannabiskonsums. Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist und iRd Behandlung einer Erkrankung erfolgt, dass das Medizinal-Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird; hierbei ist stets eine einzelfallorientierte Betrachtung erforderlich (VGH München BeckRS 2020, 1237 Rn. 22). (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Aufklärung ist ein besonderer Schwerpunkt hinsichtlich der zuverlässigen Einnahme des Medizinal-Cannabis nur nach der ärztlichen Verordnung und damit der Compliance bzw. Adhärenz zu setzen. Für Konsumenten, die eine Missbrauchsvorgeschichte und/oder eine drogenbezogene Delinquenz aufweisen und die eine Cannabisverschreibung aus medizinischen Gründen anstreben, um missbräuchlichen Konsum zu legalisieren, gilt es, sie nicht mit Cannabis zu versorgen und insbesondere auch von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen. Bei diesen Personen ist im psychologischen Teil der Untersuchung das Bestehen und Qualifizieren einer etwaigen früheren Drogenproblematik abzuklären. Medizinal-Cannabis darf nur im Rahmen einer ordnungsgemäßen Behandlung ärztlich verschrieben, verabreicht oder überlassen werden und dies nur dann, wenn der beabsichtigte Zweck nicht auf andere Weise erreicht werden kann. Zwingende Voraussetzung ist deshalb eine eigene Untersuchung durch den verschreibenden oder die Behandlung veranlassenden Arzt und dass das Betäubungsmittel immer die Ultima Ratio darstellt. (Rn. 22, 23 und 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Versagungsgegenklage, Neuerteilung der Fahrerlaubnis, Medizinal-Cannabis, illegaler Cannabiskonsum in der Vergangenheit, Arzneimittelprivileg, Fahreignungszweifel, Aufklärungsumfang, fehlerhafte Gutachtensanordnung, Compliance bzw. Adhärenz, Missbrauchsvorgeschichte, drogenbezogene Delinquenz, psychologischer Teil der Untersuchung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 33740
Tenor
I. Der Bescheid des Landratsamtes ... vom 13. März 2020 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers vom 29. Mai 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der 1978 geborene Kläger begehrt die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B.
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1. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Gemünden a.Main vom 15. November 2005 (Az.: …; rechtskräftig seit 4.3.2006) wurde dem Kläger gemäß § 69 und § 69a StGB die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperrfrist von zwölf Monaten verhängt, nachdem er am 9. April 2005 ein Kraftfahrzeug geführt hatte, obwohl er aufgrund vorangegangenen Genusses berauschender Mittel fahruntüchtig war. Die entnommene Blutprobe hatte eine THC-Konzentration von 11,1 ng/ml, eine THC-OH-Konzentration von 2,1 ng/ml und eine THC-Carbonsäure Konzentration von 126,9 ng/ml ergeben. Der Kläger wurde deswegen der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 Abs. 1, Abs. 2 StGB schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen verurteilt.
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Einen Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis vom 3. Januar 2018 nahm der Kläger am 30. Juli 2018 zurück.
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Am 29. Mai 2019 beantragte der Kläger erneut die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B beim Landratsamt ... (nachfolgend: Landratsamt). Seinem Antrag legte er eine ärztliche Bescheinigung der Allgemeinarztpraxis Dr. med. S. M. in Leipzig vom 16. Mai 2019 vor, ausweislich derer der Kläger aufgrund von Acne inversa seit dem 28. Januar 2019 eine inhalative Therapie mit medizinischem Cannabis erhalte; die Verordnung erfolge aus Krankheitsgründen mit Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Sodann forderte das Landratsamt den Kläger mit Schreiben vom 11. Juli 2019 auf, ein ärztliches Gutachten gemäß § 46 Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV bis zum 20. September 2019 vorzulegen. Folgende Fragen sollen geklärt werden: „Liegt eine Grunderkrankung vor (Diagnose nach ICD-10), die die Verordnung von Cannabis rechtfertigt? Im Falle, dass eine solche Grunderkrankung vorliegt: 1. Weist die Grunderkrankung bzw. die Symptomatik eine verkehrsrelevante Ausprägung auf und ist der Kläger trotz der Erkrankung in er Lage ein Fahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen? 2. Liegt eine ausreichende Compliance vor? Wenn nein, liegt möglicherweise ein Missbrauch vor? 3. Sind Auflagen oder fachlich einzelfallbegründete Kontrolluntersuchungen notwendig? Wenn ja, in welchem Umfang und wie lange, sowie was regelmäßig kontrolliert und attestiert werden soll. 4. Sind weitere Begutachtungen notwendig? Wenn ja, in welchem Umfang?“
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Der Kläger legte am 19. September 2019 das ärztliche Gutachten des Instituts für Beratung - Begutachtung - Kraftfahreignung GmbH (IBBK) vom 18. September 2019 (Untersuchungsdatum: 29.8.2019) vor. Der ärztliche Gutachter kommt hierbei zu dem Ergebnis, dass die Grunderkrankung Acne inversa (ICD-10: L73.2) die Verordnung von Cannabis rechtfertigt. In Beantwortung der behördlichen Fragestellung stellt er fest, dass die Erkrankung keine verkehrsrelevante Ausprägung aufweist und der Kläger trotz der Erkrankung in der Lage ist, ein Fahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen (1.). Die Compliance des Klägers sei hoch, Hinweise auf den Missbrauch von Cannabis oder anderen psychoaktiv wirkenden Substanzen bestünden nicht (2.). Auflagen oder fachlich einzelfallbegründete Kontrolluntersuchungen (3.) sowie weitere Begutachtungen (4.) seien nicht notwendig.
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2. Daraufhin forderte das Landratsamt den Kläger mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung nach § 46 Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 2 Nr. 2 FeV i.V.m. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV bis zum 10. Januar 2020 vorzulegen. Es bestünden trotz des ärztlichen Gutachtens wegen der Drogenproblematik des Klägers in der Vergangenheit weiterhin Zweifel an seiner Fahreignung. Zweck der Anordnung sei es zu klären, ob der Kläger zukünftig den Konsum von Cannabis und das Führen eines Kraftfahrzeuges sicher trennen könne. Es sei zu überprüfen, ob der Kläger angesichts der aktenkundigen Vorfälle und der medizinischen Behandlung zukünftig den fahrsicherheitsbeeinträchtigenden Cannabiskonsum und das Führen eines Kraftfahrzeugs sicher trennen könne. Es seien folgende Fragen zu klären: „1. Ist die Fahreignung trotz der bekannten Erkrankung und der damit verbundenen Dauermedikation mit Cannabis gegeben? Ist bei [dem Kläger] die notwendige Zuverlässigkeit und das Verantwortungsbewusstsein, Cannabis ausschließlich mittels Inhalationsgerät zu den festgelegten Zeiten einzunehmen, gegeben? Wie wird die verordnete Einnahme von Cannabis ärztlich überwacht? 2. Liegt bei [dem Kläger] eine ausreichende Compliance vor? Liegen Hinweise auf eine Unter- oder Überdosierung vor? 3. Welche Medikamente wurden bisher verabreicht, sind alle bisherigen kurativen Behandlungsmöglichkeiten (ohne Verordnung von Cannabis) erschöpft? 4. Ist es erforderlich, dass die Behandlung dieser Hauterkrankung nur durch einen Facharzt für Allgemeinmedizin in Leipzig erfolgt? 5. Was soll regelmäßig kontrolliert und attestiert werden? Sind weitere Nachbegutachtungen notwendig? Falls ja, in welchem Umfang?“ Es wurde darauf hingewiesen, dass es dem Kläger freistehe, die Untersuchung zu einem Zeitpunkt seiner Wahl durchführen zu lassen, er bei Nichteinhaltung der Frist sich jedoch mit dem Landratsamt in Verbindung setzen möge. Zudem wurde darauf verwiesen, dass vor Neuerteilung der Fahrerlaubnis zusätzlich eine erneute theoretische und praktische Prüfung für die gewünschten Fahrerlaubnisklassen notwendig sei.
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Am 31. Oktober 2019 zeigte der Bevollmächtigte des Klägers seine Vertretung an und erbat Akteneinsicht sowie eine Fristverlängerung. Mit Schreiben vom 10. Februar 2020 erklärte der Bevollmächtigte, dass die in der Gutachtensanordnung vom 21. Oktober 2019 benannten Zweifel der Fahrerlaubnisbehörde nicht nachvollziehbar seien. Soweit darauf abgestellt werde, dass der Kläger sich aktuell von einem Arzt in Leipzig behandeln lasse, sei dies unerheblich, da er in der Wahl seines behandelnden Arztes frei sei. Die Einnahme von Cannabis erfolge nicht aufgrund einer bestehenden Suchtproblematik, sondern aufgrund einer medizinischen Notwendigkeit, die sich u.a. aus dem vorliegenden ärztlichen Attest vom 16. Mai 2019 ergebe, und wofür eine Kostenübernahme der Krankenkasse bestehe. Nachdem der Kläger vorliegend Medizinal-Cannabis auf Grundlage einer ärztlichen Verordnung einnehme und keine die Fahreignung ausschließende Grunderkrankung vorliege, sei nur noch zu prüfen, ob der Konsum des medizinisch verordneten Cannabis die Fahreignung beeinträchtige, was vorliegend zwar in Ziffer 1 der Anordnung vom 21. Oktober 2019 formuliert worden sei, jedoch gingen die weiteren Fragestellungen entweder an der Sache vorbei oder überstiegen den vorliegenden Ermittlungsbedarf. So sei bereits die Frage nach der Zuverlässigkeit beantwortet; soweit nach der Überwachung der Einnahme gefragt werde, gebe es keine Kontrolle. Da der Kläger an eine dauerhafte Einnahme angewiesen sei, werde er den verordneten „Vorrat“ nicht vor Erhalt eines neuen Rezepts verbrauchen. Die weiteren Fragestellungen der Ziffern 3 bis 5 entbehrten jedweder Grundlage, insbesondere sei es nicht Aufgabe der Führerscheinstelle, die Entscheidungen des verordnenden Arztes zu hinterfragen. Soweit die Leistungsfähigkeit des Klägers zu prüfen sei, ergebe sich bereits aus dem Gutachten der IBBK vom 18. September 2019, dass keine Bedenken bestünden. Unter der Prämisse, dass der Kläger die theoretische und praktische Prüfung ablege, seien die Voraussetzungen für eine Wiedererteilung gegeben.
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Das Landratsamt entgegnete mit Schreiben vom 17. Februar 2020, dass angesichts der Vorgeschichte des Klägers mit Betäubungsmitteln Zweifel an seiner Fahreignung bestünden und weiterhin keine Aussage vorliege, ob bzw. dass alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden seien. Es werde eine Fristverlängerung zur Vorlage des geforderten Gutachtens bzw. der Beauftragung eines Gutachters bis zum 20. März 2020 gewährt. Daraufhin erbat der Klägerbevollmächtigte einen rechtsmittelfähigen Bescheid.
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Mit kostenpflichtigem Bescheid vom 13. März 2020 wurde der Antrag des Klägers vom 29. Mai 2019 auf Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen B und BE abgelehnt. Zur Begründung wurde vorgebracht, die Fahrerlaubnis sei nur zu erteilen, wenn der Bewerber die hierfür notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfülle. Ungeeignet sei ein Bewerber insbesondere dann, wenn bei ihm eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlagen 4, 5 oder 6 vorliege, § 11 Abs. 1 FeV. Nach § 11 Abs. 8 FeV dürfe die Fahreignungsbehörde auf die Nichteinigung des Bewerbers schließen und die Erteilung der Fahrerlaubnis versagen, wenn dieser ein zu Recht gefordertes Gutachten nicht beibringe. Die Anordnung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen, sei zu Recht erfolgt, denn nur so könnten die bestehenden Zweifel ausgeräumt werden. Bei der Betäubungsmittel-Vorgeschichte des Klägers und der insoweit ungewöhnlichen Verordnung des Medizinal-Cannabis durch einen Allgemeinmediziner in Leipzig könne eine Missbrauchsproblematik nicht ausgeschlossen werden. Es fehle an ausreichender wissenschaftlicher Evidenz für den medizinischen Einsatz von Cannabis. Der Kläger habe zudem keine Nachweise von Fachärzten für Hauterkrankungen vorgelegt, nach denen alle Behandlungsmöglichkeiten erschöpft worden seien. Da seitens des Klägers erklärt worden sei, dass das geforderte Gutachten nicht vorgelegt werde, seien die Voraussetzungen des § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV gegeben. Der Bescheid wurde dem Klägerbevollmächtigten am 16. März 2020 zugestellt.
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3. Hiergegen ließ der Kläger am 6. April 2020 Klage erheben und beantragen,
der Bescheid des Landratsamtes ... vom 13. März 2020 wird aufgehoben,
der Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Wiedererteilung seiner Fahrerlaubnis unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu behandeln.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf das Vorbringen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens verwiesen (Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten v. 10.2.2020) und vorgebracht, dass die im Rahmen des Wiedererteilungsverfahrens aufgeworfenen Fragestellungen - soweit zulässig - bereits beantwortet seien, sowohl die Frage nach Auswirkungen der Grunderkrankung auf die Fahreignung als auch nach der Leistungsfähigkeit des Klägers. Die mit Gutachtensanordnung vom 21. Oktober 2019 formulierten weiteren Fragen seien unzulässig. Insbesondere müsse der Kläger nicht die Wahl seines behandelnden Arztes erklären. In dem bereits vorgelegten ärztlichen Gutachten sei dem Kläger eine hohe Compliance bescheinigt worden. Da die zur Verordnung des Medizinal-Cannabis führende Grunderkrankung sich in erheblichem Maß auf die Lebensqualität des Klägers auswirke, bestehe ein ausreichendes Eigeninteresse an der Einnahme des Medikaments gemäß ärztlicher Verordnung, da das Medikament immer nur in konkreten Mengen und für konkrete Zeiträume verordnet werde. Der angefochtene Bescheid vom 13. März 2020 sei daher rechtswidrig und das Fahrerlaubnisverfahren fortzusetzen.
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Der Beklagte, vertreten durch das Landratsamt ..., beantragte,
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Die Klage sei unbegründet, da die Ablehnung des Antrags auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis zu Recht erfolgt sei. Die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens vom 21. Oktober 2019 sei rechtmäßig gewesen, sodass gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden konnte. Gemäß Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV sei nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet, wer regelmäßig Cannabis konsumiere. Der Kläger habe 2005 ein Kraftfahrzeug mit einer erheblichen THC-Konzentration geführt, sodass Zweifel an seiner Fähigkeit und Bereitschaft zum verantwortlichen Umgang mit Betäubungsmitteln bestünden, welche nicht durch das vorgelegte ärztliche Gutachten ausgeräumt worden seien. Der Kläger habe bisher nicht erklärt, warum ein Allgemeinmediziner in großer Entfernung zu seinem Wohnort die Behandlung seiner Hauterkrankung fortsetze und es lägen keine fachärztlichen Gutachten über eine Erschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten vor. Den Kläger treffe insoweit die Darlegungslast. Nur wenn medizinisches Cannabis strikt nach der ärztlichen Verordnung eingenommen werde, bestehe die Fahreignung. Im Regelfall schließe sich bei Medizinal-Cannabis nach der erfolgten Vorlage eines ärztlichen Gutachtens eine weitere medizinisch-psychologische Untersuchung an.
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Mit Schriftsatz vom 4. November 2020 legte der Klägerbevollmächtigte neben einer aktuellen ärztlichen Verordnung und einer Dosierungsanleitung zudem die unbefristete Zusage der Krankenkasse über die Kostenübernahme vor.
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In der mündlichen Verhandlung stellten die Beteiligten die o.g. Anträge; auf das Protokoll wird Bezug genommen. Wegen den Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat Erfolg, denn der Kläger hat einen Anspruch auf die beantragte erneute Verbescheidung seines Antrags auf Erteilung der Fahrerlaubnis vom 29. Mai 2019, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Die im Ablehnungsbescheid des Landratsamts ... vom 13. März 2020 angeführten Gründe rechtfertigen die Versagung der begehrten Fahrerlaubnis nicht.
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1. Da dem Kläger mit Strafbefehl des Amtsgerichts Gemünden a.Main vom 15. November 2005 (Az.: … … … …) rechtskräftig die Fahrerlaubnis entzogen wurde, gelten nach § 20 Abs. 1 FeV im Verfahren auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung die Vorschriften über die Ersterteilung. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG müssen Fahrerlaubnisbewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sein. Dies ist gemäß § 2 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 StVG, § 11 Abs. 1 Satz 1 FeV der Fall, wenn sie die körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen haben. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV sind die Anforderungen insbesondere dann nicht erfüllt, wenn ein Mangel oder eine Erkrankung im Sinne von Anlage 4 oder 5 zur FeV vorliegt. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass ein solcher Mangel vorliegen könnte, ist die Fahrerlaubnisbehörde je nach Ausgestaltung der entsprechenden gesetzlichen Regelung gemäß den §§ 11 bis 14 FeV dazu berechtigt oder gar verpflichtet, Maßnahmen zur Aufklärung bestehender Fahreignungszweifel zu ergreifen. Der Bewerber um eine Fahrerlaubnis hat seine Eignung nachzuweisen, denn es besteht keine Eignungsvermutung zu seinen Gunsten. Vielmehr muss die Eignung bei der (Neu-)Erteilung der Fahrerlaubnis positiv festgestellt werden (Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 26. Aufl. 2020, StVG § 2 Rn. 7).
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Die Ablehnung des Antrags des Klägers auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis war rechtswidrig, da mangels Hinweises auf die Rechtsfolgen des § 11 Abs. 8 FeV in der Gutachtensanordnung vom 21. Oktober 2019 der Schluss auf die Nichteignung des Klägers wegen Nichtvorlage des Gutachtens gerade nicht gezogen werden durfte. Ungeachtet dessen entsprach die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung nicht den Anforderungen des § 11 Abs. 6 FeV, insbesondere ist sie nicht verhältnismäßig gewesen. Da die vom Beklagten angeführten Gründe die Versagung der Fahrerlaubnis nicht tragen und sich die Fahrerlaubnisbehörde mit weiteren entscheidungserheblichen Gesichtspunkten nicht befasst hat, ist der Ablehnungsbescheid vom 13. März 2020 aufzuheben und das Verwaltungsverfahren vom Beklagten weiter zu betreiben sowie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.
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Entgegen seiner Ansicht hat der Kläger bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seine Fahreignung jedoch nicht abschließend nachgewiesen, sodass ungeachtet des - zwischen den Beteiligten unbestrittenen Erfordernisses des (erneuten) Ablegens der theoretischen und praktischen Fahrprüfung - weiterer Aufklärungsbedarf besteht. Wegen des jahrelangen illegalen Cannabiskonsums in der Vergangenheit bestehen nämlich weitere Fahreignungszweifel hinsichtlich der Adhärenz des Klägers.
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1.1. Mit dem Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017 (BGBl. I S. 403) wurde Cannabis in die Anlage III zum Betäubungsmittelgesetz - BtMG - aufgenommen, wodurch seine Verkehrs- und Verschreibungsfähigkeit hergestellt wurde. Es ist im Hinblick hierauf rechtlich geboten, den Konsum von Medizinal-Cannabis aus dem Anwendungsbereich der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung auszuklammern. Denn bei der Einnahme von ärztlich verordnetem Medizinal-Cannabis entfällt die Fahreignung grundsätzlich nicht schon nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV wegen regelmäßigem Cannabiskonsum, wenn es sich um die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels i.S.d. Nr. 3.14.1 der Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung vom 27. Januar 2014 (Begutachtungs-Leitlinien, VkBl. S. 110; Stand: 31.12.2019, die nach § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind) handelt (sog. Arzneimittelprivileg, vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 2 StVG Rn. 65). Insoweit definieren Nr. 9.4 und Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV speziellere Anforderungen für Eignungsmängel, die aus dem Gebrauch von psychoaktiven Arzneimitteln resultieren (vgl. Dauer, a.a.O., Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, § 11 FeV Rn. 51).
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Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis im Sinne von Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist und im Rahmen der Behandlung einer Erkrankung erfolgt (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 303). Dies setzt voraus, dass das Medizinal-Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird; hierbei ist stets eine einzelfallorientierte Betrachtung erforderlich (BayVGH, B.v. 16.1.2020 - 11 CS 19.1535 - BeckRS 2020, 1237 - Rn. 22 unter Verweis auf: Handlungsempfehlung der Ständigen Arbeitsgruppe Beurteilungskriterien [StAB] zur Fahreignungsbegutachtung bei Cannabismedikation, aktualisierte Fassung vom August 2018, abgedruckt in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O., S. 440 ff. - nachfolgend: Handlungsempfehlung Cannabismedikation - S. 443; vgl. auch OVG NW, B.v. 5.7.2019 - 16 B 1544/18 - Blutalkohol 56, 342 = juris Rn. 4 ff.; VGH BW, B.v. 31.1.2017 - 10 S 1503/16 - VRS 131, 207 = juris Rn. 8 f.).
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Aus Sicht der erkennenden Kammer ist gerade hinsichtlich der zuverlässigen Einnahme des Medizinal-Cannabis nur nach der ärztlichen Verordnung und damit der Compliance bzw. Adhärenz bei der Aufklärung ein besonderer Schwerpunkt zu setzen, der je nach der konkret zu beurteilenden Sachverhaltsgestaltung aus verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtet werden muss. Dies gilt zum einen, weil gerade auch Patienten mit Medizinal-Cannabis behandelt werden, die bereits eine Vorgeschichte mit illegalem Cannabiskonsum haben. Zum anderen fällt anhand vorliegender Literatur auf, dass obwohl es sich bei der Behandlung mit Medizinal-Cannabis aufgrund unzureichender Studienlage stets um einen individuellen Heilversuch handelt, dennoch bereits im Jahr 2017, d.h. dem Jahr der Gesetzesänderung, eine erstaunlich hohe Zahl an Anträgen bei den Krankenkassen verzeichnet wurde (ohne Erfassung von Privatrezepten); es liegt daher nahe, dass auch cannabisaffine Personen versuchen, über den Weg einer ärztlichen Verschreibung den Gebrauch zu legalisieren (vgl. Mußhoff/Graw, Blutalkohol 2019, 73). Da Patienten mit einer Sucht- oder Missbrauchsvorgeschichte sich von den Patienten, die aus rein medizinischen Gründen erstmalig Cannabis in einem Therapiekontext erhalten, unterscheiden, differenziert folglich die Handlungsempfehlung Cannabismedikation drei verschiedene Fallgruppen abhängig von der Cannabisvorerfahrung: 1. Patienten, bei denen der Arzt die Indikation stellt und Cannabis als Medikament verschreibt, 2. Patienten, die in der Krankheitsvorgeschichte Erfahrungen mit (illegaler) Cannabis-Eigentherapie gemacht haben und nun auf eine Verschreibung durch den Arzt wechseln und 3. Konsumenten, die eine Missbrauchsvorgeschichte und/oder eine drogenbezogene Delinquenz aufweisen und die eine Cannabisverschreibung aus medizinischen Gründen anstreben, um missbräuchlichen Konsum zu legalisieren (Handlungsempfehlung Cannabismedikation, a.a.O., S. 442). Personen vom Typ 3) gilt es, nicht mit Cannabis zu versorgen und insbesondere auch von der Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen. Auch sind sie verantwortlich für den derzeit sehr skeptischen Eindruck in der Öffentlichkeit, was die Therapie mit Cannabisprodukten betrifft, was sich äußerst negativ auf den verantwortungsbewussten Patienten auswirkt, der durchaus adhärent und leistungsfähig ist und dem der Erhalt der Mobilität dann auch ermöglicht werden sollte (Mußhoff/Graw, Blutalkohol 2019, 73, 80f.).
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Diese Differenzierung findet ihre Stütze auch in § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 BtMG. Hieraus ergibt sich, dass Medizinal-Cannabis nur im Rahmen einer ordnungsgemäßen Behandlung ärztlich verschrieben, verabreicht oder überlassen werden darf und dies nur dann, wenn die Anwendung am oder im Körper begründet ist, was insbesondere dann nicht der Fall ist, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann. Hieraus ist zum einen abzuleiten, dass zwingende Voraussetzung einer medizinischen Indikation eine eigene Untersuchung des Patienten durch den verschreibenden oder die Behandlung veranlassenden Arzt darstellen muss. Auf diese Weise soll den Anforderungen an die Sicherheit und Kontrolle des legalen Betäubungsmittelverkehrs Genüge getan und die Eignung und Erforderlichkeit einer Behandlung mit Betäubungsmitteln sichergestellt werden (Bohnen/Schmidt in BeckOK, Stand 15.9.2019, § 13 BtMG Rn. 16). Zudem dürfen Betäubungsmittel immer nur die Ultima Ratio darstellen: Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, wie eine Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlungen, eine Psycho- oder Verhaltenstherapie oder die Anwendung nicht den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegender Arzneimittel, ist diesen der Vorrang zu geben (Bohnen/Schmidt in BeckOK, Stand 15.9.2019, § 13 BtMG Rn. 25; Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 13 Rn. 20 ff.). An diesen hohen Hürden wollte auch das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6. März 2017 nichts ändern: Beabsichtigt war mit der Gesetzesänderung ausweislich der Begründung, Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen nach entsprechender Indikationsstellung und bei fehlenden Therapiealternativen zu ermöglichen, Cannabis-Arzneimittel zu therapeutischen Zwecken in standardisierter Qualität durch Abgabe in Apotheken zu erhalten. Die behandelnden Ärzte haben hierbei insbesondere das Vorliegen der - auch schon nach geltender Rechtslage - für alle übrigen verschreibungsfähigen Betäubungsmittel geltenden Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 BtMG zu berücksichtigen (BT-Drs. 18/8965, S. 13).
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1.2. Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen bestehen jedenfalls keine Zweifel (mehr), dass für den Kläger hinsichtlich der gegebenen Behandlung seiner Erkrankung (Acne inversa) mit Medizinal-Cannabis das Arzneimittelprivileg gilt. Einer weitergehenden Aufklärung dieser Frage durch die Fahrerlaubnisbehörde bedurfte es daher nicht, sodass die Gutachtensanforderung vom 21. Oktober 2019 (vgl. Fragen Nrn. 3 und 4) schon deshalb rechtswidrig gewesen ist.
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Im ärztlichen Gutachten der IBBK vom 18. September 2019 (Untersuchungstag: 29.8.2019) wird festgestellt, dass die Grunderkrankung Acne inversa (ICD-10: L73.2) die Verordnung von Cannabis rechtfertigt. Der Gutachter kommt zu diesem Ergebnis auf der Grundlage von umfangreichen, durch den Kläger bereitgestellten Unterlagen (vgl. ärztl. Gutachten v. 18.9.2019, S. 6: ärztliche Bescheinigung v. 8.4.2017 zur Vorlage bei der gesetzlichen Krankenversicherung durch den damals behandelnden Hautarzt, Befundbericht des Universitätsklinikums Würzburg v. 13.6.2018 und je zwei Kostenübernahmeerklärungen der Krankenversicherung des Klägers) sowie durch einen Fragebogen und eine eigene Anamnese (ärztl. Gutachten v. 18.9.2019, S. 5). Der Gutachter stellt abschließend fest, dass bei der Behandlung des Klägers mehrere verschiedene Versuche stattgefunden hätten, die hinsichtlich ihres Erfolges unzureichend gewesen seien und sich seit der Behandlung mit Medizinal-Cannabis ein zufriedenstellender Erfolg eingestellt habe (ärztl. Gutachten v. 18.9.2019, S. 10). Dieser Beurteilung legte der Gutachter offenkundig auch die gesetzlichen Anforderungen des § 13 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 BtMG zugrunde, da er auf Seite 4 des Gutachtens darauf hinweist, dass die Notwenigkeit der Einnahme von Medizinal-Cannabis medizinisch hinreichend begründet sein muss. Anhaltspunkte, welche die Tragfähigkeit dieser fachlichen Feststellungen erschüttern könnten, sind weder ersichtlich noch wurden sie von der Behörde vorgetragen.
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Soweit sich der Beklagte daran stößt, dass der in Unterfranken wohnende Kläger in Behandlung bei einem Arzt in Leipzig ist, vermag dieser Umstand alleine die Feststellung des medizinischen Gutachtens, dass die Behandlung mit Medizinal-Cannabis gerechtfertigt ist, nicht zu erschüttern. Bei dem behandelnden Arzt Dr. S. M. handelt es sich unstrittig um einen zugelassenen und praktizierenden Arzt, der ausweislich des vorgelegten Attestes ein Facharzt für Allgemeinmedizin/Naturheilverfahren/Ernährungsmedizin/Reisemedizin ist. Weshalb es einem solchen Arzt nicht möglich sein sollte, eine Therapie mit Medizinal-Cannabis zu verordnen und zu überwachen, erschließt sich nicht, insbesondere da ausweislich § 13 Abs. 1 BtMG die Verschreibung von Betäubungsmitteln und deren Verwendung im Rahmen einer ärztlichen Behandlung nicht einer bestimmten medizinischen Fachrichtung vorbehalten ist, sondern (nur) an den ärztlichen Heilauftrag geknüpft ist. Des Weiteren steht es dem Kläger grundsätzlich frei, an welchen Arzt - auch räumlich gesehen - er sich mit seiner Behandlung wendet, wobei der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erklärt hat, dass es schwierig sei, überhaupt einen entsprechenden Arzt zu finden.
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1.3. Jedoch hat der Kläger bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seine Fahreignung (noch) nicht abschließend nachgewiesen, denn es bestehen noch aufzuklärende Zweifel aufgrund der Auffälligkeit im Jahr 2005, als der Kläger unter erheblichem Cannabiseinfluss ein Kraftfahrzeug geführt hatte, sowie des Umstands, dass er in der Vergangenheit jahrelang illegal beschafftes Cannabis konsumiert hat.
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Wie bereits oben (1.1) ausgeführt, ist eine zentrale Frage die nach der zwingend zu fordernden Compliance bzw. Adhärenz. Die Begriffe Compliance und Adhärenz werden mitunter synonym verwendet, der Begriff der Compliance wird zunehmend vom Begriff der Adhärenz abgelöst. Hinter dem Adhärenz-Konstrukt steckt gegenüber dem Gedanken der reinen Befolgung ärztlicher Anordnungen die Idee der aktiveren und verantwortungsbewussteren Rolle des Patienten beim Umgang mit der Erkrankung und bei der Planung, Gestaltung und dem Erreichen des Therapieziels (vgl. Handlungsempfehlung Cannabismedikation, a.a.O., S. 443 - Fn 5). Der diesbezügliche Aufklärungsumfang muss sich unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalls auch danach richten, ob der Betroffene bereits in der Vergangenheit in Zusammenhang mit illegalem Cannabiskonsum aufgefallen ist oder dahingehende Vorerfahrung hat. Bejahendenfalls sieht die Handlungsempfehlung Cannabismedikation bei diesen Personen vor, im psychologischen Teil der Untersuchung das Bestehen und Qualifizieren einer etwaigen früheren Drogenproblematik abzuklären (Handlungsempfehlung Cannabismedikation, a.a.O., S. 444), sodass im Rahmen des psychologischen Untersuchungsgesprächs Aspekte eines möglichen missbräuchlichen Umgangs mit dem Medizinal-Cannabis, des Risikos eines Beikonsums sowie des Rückfalls in eine frühere Suchtproblematik geklärt werden können (Handlungsempfehlung Cannabismedikation, a.a.O., S. 446).
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Ausweislich seiner Angaben bei der medizinischen Untersuchung am 29. August 2019 konsumiere der Kläger, seit er 17 bzw. 18 Jahre alt war, in wechselnder Intensität und Häufigkeit Cannabis, teilweise unterbrochen von Konsumpausen bis zu drei Monaten. Im Jahr 2006 sei er für acht Monate während und einige Zeit nach einer hautärztlichen Behandlung abstinent gewesen. Nach seinen eigenen Angaben habe sich der Hautzustand in Zeiten der Abstinenz verschlechtert, seit Juni 2017 erhalte er Medizinal-Cannabis (ärztl. Gutachten v. 18.9.2019, S. 4-5). Infolgedessen ist in Einklang mit der Handlungsempfehlung Cannabismedikation aufzuklären, ob der Kläger als jahrelanger Konsument von illegalem Cannabis dennoch die notwendige Compliance bzw. Adhärenz mit sich bringt. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass in dem bereits vorgelegten ärztlichen Gutachten vom 18. September 2019 dem Kläger bescheinigt wird, dass seine Compliance hoch ist (ärztl. Gutachten v. 18.9.2019, S. 10). Jedoch kann das lediglich eine medizinische Beurteilung der Compliance des Klägers sein, die sich gerade nicht mit seiner Drogenvergangenheit und der diesbezüglichen inneren Einstellung auseinandersetzt. Denn hinsichtlich der Behandlung mit Medizinal-Cannabis kann nichts anderes gelten, als bei verkehrsmedizinisch relevanten Arzneimitteln, bei deren Einnahme der Überprüfung der Compliance bzw. Adhärenz besondere Beachtung geschenkt werden muss (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 309). Denn nur im Rahmen eines psychologischen Untersuchungsgesprächs können die Vorgeschichte und insbesondere die Lerngeschichte im Umgang mit der Substanzwirkung bei der Beurteilung eines verantwortlichen Umgangs mit den ärztlich verordneten Cannabismedikamenten berücksichtigt werden (Handlungsempfehlung Cannabismedikation, a.a.O., S. 446).
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Rein vorsorglich ist anzumerken, dass aus dem ärztlichen Gutachten der IBBK vom 18. September 2019 nicht hervorgeht, ob ein Psychologe konsiliarisch für die Durchführung der psycho-physischen Leistungstest herangezogen worden ist. Das ärztliche Gutachten ist ausschließlich von einem Arzt unterzeichnet und aus dem Abschnitt zu den Leistungstestverfahren (ärztl. Gutachten v. 18.9.2019, S. 7-9) geht nicht hervor, dass und welcher Psychologe die Tests durchgeführt hat, was jedoch zwingend erforderlich ist. Die psychische Leistungsfähigkeit, insbesondere die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung sowie Reaktionsfähigkeit, werden nämlich mit (rein) psychologischen Testverfahren untersucht (vgl. Nr. 2.5 der Begutachtungs-Leitlinien). Bevor eine erneute psycho-physische Leistungsüberprüfung angeordnet wird, sollte von der Begutachtungsstelle eine ergänzende Stellungnahme zu dieser Frage angefordert werden.
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2. Nach alldem ist die Versagung der beantragten Erteilung der Fahrerlaubnis in der vorliegenden Form rechtswidrig gewesen. Das Landratsamt war unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom 13. März 2020 zur Neuentscheidung unter Beachtung der oben dargestellten Rechtsauffassung des Gerichts - insbesondere hinsichtlich der noch aufzuklärenden Zweifel - zu verpflichten.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.