Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 20.07.2020 – B 8 K 18.50777
Titel:

Frist zur Überstellung in zuständigen Mitgliedstaat

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 4, Art. 27 Abs. 4, Art. 29 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwGO § 80 Abs. 4
Leitsätze:
1. Einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO sind durch das in Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO iVm Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO angestrebte Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen, Grenzen der Ermessensausübung gesetzt.  (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist davon auszugehen, dass die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebung im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise bei einer Restlaufzeit von einem Monat seit Erlass der Aussetzungsentscheidung bis zum Ende der Überstellungsfrist allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin III-VO, Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt, Ermessensfehler, Asylantrag, Abschiebung, Italien, Schengen-Visum, zuständiger Mitgliedsstaat, Überstellungsfrist, Kirchenasyl, Zuständigkeitsübergang, Aussetzung der Vollziehung, Covid-19-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2020, 33046

Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 12.10.2018 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich im Rahmen eines Dublin-Verfahrens gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig.
2
Der Kläger, eritreischer Staatsangehöriger, war ausweislich der Akte am 6.6.2018 mit einem Schengen-Visum vom 4.6.2018 (Visum-Nr. ITA030213860), gültig vom 5.6. bis 14.7.2018, nach Italien eingereist. Eigenen Angaben zufolge reiste er am 12.6.2018 in die Bundesrepublik Deutschland weiter und stellte dort am 24.7.2018 einen Asylantrag.
3
Auf die Anhörungen des Klägers beim Bundesamt am 24.7. und 7.8.2018 wird Bezug genommen.
4
Am 10.8.2018 richtete die Beklagte ein Übernahmeersuchen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO) an Italien. Die italienischen Behörden reagierten auf das Übernahmeersuchen nicht.
5
Mit Bescheid vom 12.10.2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag als unzulässig ab (Ziff. 1). Unter Ziff. 2 wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Es wurde die Abschiebung nach Italien angeordnet (Ziff. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4).
6
Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Unzulässigkeit des Antrags aus § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ergebe, da Italien aufgrund des erteilten Schengen-Visums (gültig bis 14.7.2018) gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig sei. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids, die sich v.a. mit dem Nichtvorliegen systemischer Mängel in Italien und den fehlenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG auseinandersetzt, Bezug genommen.
7
Der Bescheid wurde am 15.10.2018 als Einschreiben zur Post gegeben.
8
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 24.10.2018, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag, erhob der Kläger Klage. Er beantragt,
1.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom „12.7.2018 (zugestellt am 17.10.2018)“ wird aufgehoben.
2.
Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren fortzuführen.
3.
Weiter hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, die Flüchtlingseigenschaft gemäß § AsylVfG zuzuerkennen.
9
Hilfsweise, subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylVfG zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
10
Zur Begründung wird im Wesentlichen auf systemische Mängel im Asylverfahren Italiens verwiesen.
11
Die Beklagte beantragt im Schriftsatz vom 26.10.2018,
die Klage abzuweisen.
12
Sie bezog sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
13
Das Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes hatte keinen Erfolg (vgl. Verwaltungsgericht Bayreuth B.v. 29.10.2018 - B 8 S 18.50776 -, zugestellt am 2.11.2018).
14
Dem Kläger wurde mit Schreiben der Regierung von Oberfranken, Zentrale Ausländerbehörde, vom 14.2.2019 mitgeteilt, dass seine Überstellung nach Italien am 11.4.2019 stattfinden soll; dieses Schreiben nahm dieser gegen Unterschrift am 18.2.2019 entgegen. Das Kloster … meldete dem Bundesamt mit Email vom 13.3.2019 „ein Kirchenasyl an“. Die Regierung von Oberfranken teilte dem Gericht daraufhin mit Email vom 14.3.2019 mit, dass sich der Kläger seit dem 13.3.2019 im Kirchenasyl befinde. Das Bundesamt stornierte daraufhin die Überstellung am 14.3.2019 und informierte Italien hierüber unter dem gleichen Datum.
15
Der Kläger verließ das Kirchenasyl in der Folgezeit nicht (vgl. Email vom 24.4.2019), obwohl das Bundesamt dargelegt hatte, dass das vorgelegte Härtefalldossier keine besonderen, individuellen Härten erkennen lasse. Das Bundesamt informierte Italien am 24.4.2019, dass der Kläger flüchtig sei und sich deshalb die Überstellungsfrist bis zum 29.4.2020 verlängere.
16
Mit Schriftsatz vom 28.6.2019 zeigte sich ein Prozessbevollmächtigter des Klägers an und verwies darauf, dass der Kläger sich in einem sogenannten „offenen Kirchenasyl“ unter einer den Behörden bekannten Adresse aufhalte und deshalb nicht flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO sei.
17
Das Bundesamt erklärte im Schriftsatz vom 30.3.2020 gegenüber dem Verwaltungsgericht Bayreuth, dass die Vollziehung der Abschiebung im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise ausgesetzt werde, da derzeit Dublin Überstellungen nicht zu vertreten seien. Der Vollzug sei vorübergehend nicht möglich. Zur Begründung wurde auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8.1.2019 - 1 C 16.18 - und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.9.2014 - 2 BvR 1795/14 - Bezug genommen. Diese Erklärung gelte unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Das Verwaltungsgericht leitete diesen Schriftsatz an den Prozessbevollmächtigten weiter.
18
Im Schreiben vom 31.3.2020 teilte das Bundesamt Italien mit, dass am 30.3.2020 ein Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung erhoben worden sei.
19
Mit Email vom 17.4.2020 informierte das Kloster das Bundesamt über die Beendigung des Kirchenasyls am 17.4.2020. Der Kläger halte sich aber weiter unter der bisherigen Adresse auf, weil ein Umzug nach … zu diesem Zeitpunkt aufgrund behördlicher Einschränkungen nicht erfolgen könne.
20
Auf Aufforderung des Verwaltungsgerichts führte das Bundesamt mit Schriftsatz vom 26.5.2020 noch aus, dass im Falle einer nicht erfolgten Aussetzung der Vollziehung eine Überstellung nach Italien weiterhin (theoretisch) bis 29.4.2020 möglich gewesen wäre. Die Überstellung sei nicht mehr möglich gewesen, weil Italien die Dublin-Überstellungen bereits zum Zeitpunkt des Verlassens des Kirchenasyls ausgesetzt gehabt habe. Die sachlich vertretbaren, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Erwägungen für eine Aussetzung bestünden darin, dass diese zum einen eine Schutzmaßnahme gegen die weitere Verbreitung des Corona-Virus bzw. Vermeidung weiterer grenzüberschreitender Infektionsketten sei, welche Dublinüberstellungen derzeit als nicht vertretbar erscheinen ließen. Zum anderen reagiere das Bundesamt damit auf die von den meisten Mitgliedsstaaten ausgesprochenen Reise- und Einreiseverbote. Im Übrigen werden davon ausgegangen, dass die Überstellung nach Widerruf der Aussetzungsentscheidung neu zu laufen beginne, geplant und durchgeführt werden könne.
21
Mit Schreiben vom 26.4.2019 hörte das Gericht den Kläger zur in Betracht gezogenen Entscheidung des Rechtsstreits durch Gerichtsbescheid an.
22
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Behördenakte, die Gerichtsakte des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes - B 8 S 18.50776 - sowie auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe

I.
23
Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Der Kläger wurde gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört. Die Beklagte hat mit ihrer allgemeinen Prozesserklärung vom 27.6.2017 vorab auf eine Anhörung vor Erlass eines Gerichtsbescheids verzichtet.
II.
24
1. Die zulässige Klage hat Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12.10.2018 ist rechtswidrig (geworden). Der Bescheid verletzt den Kläger deshalb in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO) und ist umfänglich aufzuheben. Aus diesem Grund kommen die Hilfsanträge nicht zum Tragen.
25
1.1 Der streitgegenständliche Bescheid ist in seiner Ziffer 1 aufzuheben, da die Beklagte durch Fristablauf gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig geworden ist und deshalb den Asylantrag des Klägers im nationalen Verfahren zu prüfen hat. Es kann deshalb dahinstehen, ob nach der Dublin III-VO anfänglich eine Zuständigkeit Italiens bestanden hat. Denn eine etwaige Zuständigkeit Italiens ist jedenfalls gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Die streitgegenständliche Entscheidung, der Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland sei wegen der Zuständigkeit Italiens unzulässig, lässt sich deshalb nicht mehr aufrechterhalten.
26
Nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet mit der Folge, dass die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von 6 Monaten durchgeführt wird. Die Frist kann höchstens auf 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist (§ 29 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO).
27
Ungeachtet der Frage, ob nicht bereits die Entscheidung über die Verlängerung der Überstellungsfrist mit der Begründung, der Kläger sei aufgrund des Kirchenasyls flüchtig, angesichts der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH U.v. 19.3.2019 - C -163/17 - juris; BayVGH B.v. 7.1.2020 - 13a ZB 19.50042 - juris; OVG Rheinland-Pfalz, B.v. 3.2.2020 - 7 A 10885/19 - juris) rechtswidrig erfolgte, mit der Folge, dass die Beklagte bereits nach Ablauf von 6 Monaten zuständig geworden wäre, ist diese spätestens jedenfalls aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist von 18 Monaten (bereits Anfang Mai 2020) ohne eine erfolgte Überstellung zuständig geworden. Auf den Ablauf von Überstellungsfristen kann sich der Kläger auch berufen (vgl. EuGH U.v. 7.6.2016 - C-63/15 -juris)
28
1.1.1  Die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes vom 30.3.2020 führt vorliegend nicht zur Unterbrechung des Ablaufs der achtzehnmonatigen Überstellungsfrist.
29
Gemäß § 80 Abs. 4 VwGO kann die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, in den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO die Vollziehung aussetzen. Die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO ist grundsätzlich geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen.
30
Das Asylrecht sieht bundesrechtlich nichts Gegenteiliges vor (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO). § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO beschränkt das behördliche Aussetzungsermessen für das Asylverfahren ebenfalls nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.1.2019 - 1 C 16.18 -, BVerwGE 164, 165-179, Rn. 23 f.). Unionsrechtlich gibt Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit für eine Regelung, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedsstaaten beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit füllt im nationalen Recht im Wesentlichen § 80 Abs. 4 VwGO aus (vgl. BVerwG U.v. 8.1.2019 - 1 C 16/18 - mit weiteren Ausführungen).
31
Auch wenn Unionsrecht nicht grundsätzlich der Anwendbarkeit von § 80 Abs. 4 VwGO entgegensteht, so sind vorliegend allerdings die weiteren Voraussetzungen nicht gegeben, so dass deshalb die ausgesprochene Unterbrechung nicht eingetreten ist.
32
a. Zwar ist die Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO insofern erfüllt, als der Kläger einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO). Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die vorliegende Aussetzungsentscheidung vom Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gedeckt ist. Denn sie dient im vorliegenden Fall nicht der Gewährleistung eines effektiven Rechtsbehelfs (gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Bescheid vom 12.10.2018); vielmehr sind Ursache der Aussetzungsentscheidung die fehlenden Überstellungsmöglichkeiten im Rahmen der aufgetretenen Covid-19 Pandemie. Es erscheint äußerst fraglich, ob dieser Grund vom Wortlaut und Zweck des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gedeckt ist (vgl. dazu ausführlich VG Schleswig-Holstein U.v. 15.5.2020 - 10 A 576/19 -).
33
Diese Frage kann jedoch dahinstehen, da die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Ermessensausübung nicht vorliegen (s.u.).
34
b. So sind der nach § 80 Abs. 4 VwGO notwendigen Ermessensausübung Grenzen durch das in Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO angestrebte Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen
- einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und
- andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration),
gesetzt.
35
Die behördliche Aussetzungsentscheidung begünstigt den Antragsteller nicht nur, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung zunächst nicht mehr erfolgen können, sondern belastet diesen auch mittelbar, weil sie die Überstellungsfrist unterbricht und so dazu führt, dass ein vom Antragsteller möglicherweise erstrebter Zuständigkeitsübergang nicht erfolgt und er zu seinen Asylgründen deshalb nicht angehört wird. So soll der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind oder der Beschleunigungsgedanke zu Lasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird, vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, (auch unterhalb der Schwelle der Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung) erfolgen, wenn diese Erwägungen den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 - 1 C 16.18 -, BVerwGE 164, 165-179, Rn. 22 ff. m.w.N.). So muss die Aussetzungsentscheidung einen angemessenen Ausgleich zwischen einem effektiven Rechtschutz und der raschen Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates zum Ziel haben und sachlich vertretbare Erwägungen (vgl. Ziffer 1.1.2), die weder willkürlich noch missbräuchlich sind (vgl. Ziffer 1.1.3), beinhalten. Diese Willkür- oder Missbrauchsschwelle ist dann überschritten, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.
36
Eine solche Abwägung der oben genannten unionsrechtlichen Erwägungsgründe lässt die vorliegende streitgegenständliche Aussetzungsentscheidung allerdings vermissen.
37
Sie lässt nicht erkennen, dass die Grenzen, die durch das nationale Recht und Unionsrecht vorgegeben sind, in ihre Abwägung einbezogen worden sind.
38
1.1.2  Auch wenn der Verwaltungsakt - Aussetzung der Vollziehung - im Schriftsatz des Bundesamtes vom 30.3.2020 ab Bekanntgabe im Rahmen der Zustellung des Schriftsatzes durch das Gericht wirksam ist (§ 41 VwVfG) und vorliegend Zweifel an der ursprünglichen Rechtmäßigkeit des Bescheides des Bundesamtes vom 12.10.2018 nicht bestanden (vgl. VG Bayreuth B.v. 29.10.2018 - B S 18.50776 -), lässt die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes Defizite in der Ermessensentscheidung erkennen (§ 114 VwGO).
39
Die hier streitgegenständliche Aussetzungsentscheidung vom 30.3.2020 setzt sich schon in keiner Weise mit der behördlichen Untätigkeit von nahezu einem Jahr seit der zuletzt beabsichtigten Abschiebung am 11.4.2019 bis zu den bekannten Auswirkungen der Covid-19 Pandemie im März 2020 auseinander. Da diese Untätigkeit der Behörde selbst hinlänglich bekannt ist und dieser Gesichtspunkt angesichts einer im Wesentlichen fristenbestimmten Rechtsmaterie offensichtlich einen wesentlichen Gesichtspunkt darstellt ist, ist bereits allein deswegen ein Ermessensdefizit festzustellen.
40
Darüber hinaus wurden weder auf die im Rahmen des internationalen Rechts wie der Dublin III-VO wesentlichen Interessen der Mitgliedsstaaten, namentlich das Beschleunigungsgebot der Dublin III-VO zur Klärung der Zuständigkeit, noch die davon unmittelbar und mittelbar betroffenen Interessen des Klägers eingegangen: Die Interessen der Mitgliedsstaaten werden von der Aussetzungsentscheidung direkt betroffen, wenn nach der Unterbrechung durch die Aussetzungsentscheidung erneut eine Überstellungsfrist von zusammenhängenden 6 Monaten (vgl. EuGH, U.v. 29.1.2009 - C 19/08 - Rn. 43 ff.; BVerwG U.v. 8.1.2019 - 1 C 16/18 -juris, Rn. 18) zu laufen beginnt, die im Ergebnis dazu führt, dass eine Klärung der Zuständigkeit erst nach einer Zeitdauer von mehr als 2 Jahren nach der Asylantragstellung des Klägers erfolgt. Dies steht im Widerspruch zu den Vorgaben der Dublin III-VO, die hierfür - nur unter bestimmten Voraussetzungen - höchstens 18 Monate vorsieht.
41
Auch die Effektivität des Rechtsschutzes als wesentliches Element der Dublin III-VO, die insbesondere den Kläger betrifft, fand als wesentliches unionsrechtliches Element keine Würdigung im streitgegenständlichen Bescheid. Die Aussetzung bewirkt, dass im vorliegenden Fall der Kläger erst nach der Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates, mithin zwei Jahre nach Stellung des Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland, erstmalig überhaupt zu seinen Fluchtgründen in Italien oder in der Bundesrepublik Deutschland angehört werden könnte. Da dieses Ergebnis kaum mit den Zielvorgaben der Dublin III-VO in Übereinstimmung zu bringen ist, hätte es einer dezidierten Auseinandersetzung hiermit bedurft. Eine entsprechende Berücksichtigung dieser rechtlichen Interessenlagen fehlt jedoch.
42
Auch dem ergänzenden Schriftsatz der Beklagten vom 26.5.2020 sind entsprechende Ermessensergänzungen nicht zu entnehmen. Dort ist lediglich ausgeführt, dass eine Überstellung ohne die Pandemie ohne die Aussetzungsentscheidung vom 30.3.2020 noch bis 29.4.2020 möglich gewesen wäre. Auf die Untätigkeit bis zum 30.3.2020, im Wesentlichen die Zeit, in der der Kläger sich im „Kirchenasyl“ aufgehalten hat, auf die Interessen der Mitgliedsstaaten und insbesondere die Interessen des Klägers wird nicht eingegangen.
43
Den obigen Ausführungen ist zu entnehmen, dass das Bundesamt keine Einzelfallabwägung, sondern vielmehr eine „schematische“ Entscheidung vorgenommen hat. Eine solche wird jedoch den Anforderungen, die § 114 VwGO im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung an eine Ermessensentscheidung stellt, in keiner Weise gerecht und ist rechtswidrig.
44
Dass dem Gericht gleichlautende Aussetzungsentscheidungen in einer Vielzahl von Verfahren vorliegen, verstärkt den Eindruck einer schematischen Vorgehensweise.
45
Einer Nachholung entsprechender Ermessenserwägungen steht nach Fristablauf gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO der bereits erfolgte Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland entgegen.
46
1.1.3 Darüber hinaus ist festzustellen, dass im vorliegenden Verfahren auch die Willkür- und Missbrauchsschwelle, die im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (s.o., BVerwG U.v. 8.1.2019 - 1 C 16/18 -) näher ausgeführt wurden, überschritten ist.
47
So sind innerhalb von 18 Monaten - bis auf den einzigen Überstellungsversuch zum 11.4.2019 - bis zur Aussetzungsentscheidung vom 30.3.2020 keine behördlichen Tätigkeiten für eine Überstellung des Klägers nach Italien ersichtlich. Dabei steht insbesondere die Meldung eines „offenen Kirchenasyls“ (d.h. der Aufenthalt des Ausländers ist den Behörden bekannt) einer Überstellung rechtlich nicht entgegen (inzwischen ständige Rechtsprechung, vgl. OVG Lüneburg B.v. 25.7.2019 - 10 LA 155/19 -; OVG Schleswig-Holstein, B.v. 23.3.2018 - 1 LA 7/18 -, juris 5. Leitsatz und Rn. 18; Bayerischer VGH, Beschluss vom 16.5.2018 - 20 ZB 18.50011 -, juris Rn. 2). Dies gilt erst recht, da ein wie auch immer geartetes „Kirchenasyl“ weder im Recht der Bundesrepublik Deutschland noch im Europarecht noch im Kirchenrecht existiert. Da dem Bundesamt der Aufenthalt des Klägers im Kloster … während der gesamten Zeit des „Kirchenasyls“ bekannt gewesen ist, stellt dieses „Kirchenasyl“ einer Abschiebung nicht entgegen.
48
Da darüber hinaus angesichts der Restlaufzeit von nur noch etwa einem Monat seit Erlass der Aussetzungsentscheidung vom 30.3.2020 bis zum Ende der Überstellungsfrist Ende April/Anfang Mai 2020 - nach hiesiger Kenntnis über die notwendige Vorbereitungszeit für die Durchführung einer Überstellung - kaum anzunehmen ist, dass ein erneuter Überstellungsversuch zeitlich überhaupt noch möglich gewesen wäre, wird davon ausgegangen, dass die Covid-19 Pandemie lediglich als Möglichkeit genutzt wurde, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, und damit die Folge behördlicher Versäumnisse, den Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland, zu verhindern. Dies allerdings stellt keine sachlich gerechtfertigte Erwägung nach den im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8.1.2019 (a.a.O.) ausgeführten Willkür- und Missbrauchsgrenzen dar.
49
Nur der Vollständigkeit halber wird ergänzend darauf aufmerksam gemacht, dass die Unterbringung des Klägers nach Beendigung des „Kirchenasyls“ nicht wechselte, sondern unter gleicher Adresse erfolgte, und auch insofern die Annahme eines „Kirchenasyls“ einen bemerkenswerten Aspekt erhält.
50
1.2 Da die Ziffer 1 des Bescheides keinen Bestand mehr hat, ist auch die Entscheidung in Ziffer 2 zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Italiens sinnentleert und damit aufzuheben. Da der Asylantrag nunmehr in der Bundesrepublik Deutschland zu prüfen ist, sind auch die Ziffern 3 (Abschiebungsanordnung) und 4 (Einreise- und Aufenthaltsverbot) aufzuheben.
51
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.