Inhalt

VGH München, Beschluss v. 11.11.2020 – 9 ZB 20.32134
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung 

Normenkette:
AsylG § 78 Abs. 3
Leitsätze:
1. Es fehlt an einer Tatsachenfrage von verallgemeinerungsfähiger Tragweite, weil das weltweite Pandemiegeschehen noch von einer großen Dynamik gekennzeichnet ist, die eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern, wie etwa Sierra Leone, (noch) nicht erlaubt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG iVm § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Sierra Leone), Asylverfahren, Berufungszulassung, Corona-Pandemie, Sierra Leone, rechtliches Gehör, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 03.08.2020 – RN 14 K 18.32196
Fundstelle:
BeckRS 2020, 32789

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt erfolglos. Es liegt weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), noch ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen ein Verfahrensmangel (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG).
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1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
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Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 22.10.2019 - 9 ZB 18.30670 - juris Rn. 3 m.w.N.). Dem wird das Zulassungsvorbringen, mit dem schon keine konkrete Frage formuliert wird, nicht gerecht.
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Soweit dem Zulassungsvorbringen entnommen werden kann, dass grundsätzlich geklärt werden soll, ob aufgrund der Corona-Pandemie (Sars-COV2 bzw. Covid-19) speziell für rückkehrende Asylbewerber von einer Verschlechterung der in Sierra Leone ohnehin schon äußerst schwierigen Lebensumstände auszugehen ist, die es diesen unmöglich macht, den Lebensunterhalt sicherzustellen, ist jedenfalls die allgemeine, über den Einzelfall der Klägerin hinausgehende Klärungsbedürftigkeit einer solchen Fragestellung nicht ausreichend dargelegt. Abgesehen davon, dass die Klägerin, die durch Covid 19 bedingte Gefahren in Sierra Leone im erstinstanzlichen Verfahren, insbesondere auch in der mündlichen Verhandlung vom 29. Juli 2020, nicht thematisiert hat, mit ihrem Zulassungsantrag keine Tatsachen- und Erkenntnisquellen (z.B. Gutachten, Auskünfte, Presseberichte, andere Gerichtsentscheidungen) benannte, aus denen sich ergeben würde, dass die Fragestellung im Berufungsverfahren zu einer vom angefochtenen Urteil abweichenden Entscheidung führen könnte (vgl. BayVGH, B.v 29.7.2020 - 9 ZB 20.31477 - juris Rn. 4), hat sie drohende, durch Covid 19 bedingte Widrigkeiten in Sierra Leone, die zum Vorliegen von Abschiebungsverboten führen könnten, auch ansonsten nicht nachvollziehbar dargelegt. Die Klägerin verweist lediglich darauf, dass die Corona-Pandemie auch vor Sierra Leone nicht Halt gemacht habe und sich schon aus den wirtschaftlichen Auswirkungen des Virus auf das verhältnismäßig gut vorbereitete und ausgestattete Deutschland sowie daraus, dass selbst „robuste Erste-Welt-Staaten“ eine langanhaltende Wirtschaftskrise erwarten, ableiten lasse, dass die Lebensumstände in Anbetracht der schwachen nationalen Wirtschaft Sierra Leones nun noch viel schwieriger seien, als vom Gericht im Urteil unterstellt. Auch eine Erholung werde länger als in Deutschland dauern. Diese Argumentation gelte auch, soweit das Gericht sich in den Urteilsgründen darauf bezogen habe, dass im Fall der Rückkehr des Vaters der Kinder der Klägerin dieser die Familie ernähren würde. Es sei nicht mehr damit zu rechnen, dass er auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen könne.
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Mit alldem ist nicht dargetan, dass die Klägerin bei der zu unterstellenden gemeinsamen Rückkehr mit ihren Kindern und deren Vater entgegen den Feststellungen im Urteil keine Möglichkeit hätte, den Lebensunterhalt im Familienverband sicherzustellen - wovon das Verwaltungsgericht ausgegangen ist - und deshalb wegen außergewöhnlich prekärer Lebensbedingungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu besorgen und ein nationales Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen wäre (vgl. VGH BW, U.v. 26.6.2019 - A 11 S 2108/18 - juris Rn. 22 ff. m.w.N.). In Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat die Kläger somit auch nicht dargetan, dass sich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG trotz des Fehlens einer politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wegen einer vorliegenden Extremgefahr, wegen der sie „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde, für sie nicht auswirkt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - juris Rn. 20, 23; OVG NW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris Rn. 38, 48; VGH BW, U.v. 26.6.2019 - A 11 S 2108/18 - juris Rn. 131 ff. m.w.N.). Anhand des Zulassungsvorbringens ist außerdem nicht zu ersehen, dass die aufgeworfene Frage überhaupt verallgemeinernd, zumindest im Hinblick auf Umstände bzw. Merkmale, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (vgl. BayVGH BW, U.v. 26.6.2019 - A 11 S 2108/18 - juris Rn. 30) und nicht nur nach Würdigung der konkreten Verhältnisse im Einzelfall der Klägerin beurteilt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 29.7.2020 - 9 ZB 20.31477 - juris Rn. 4). Ferner dürfte es an einer Tatsachenfrage von verallgemeinerungsfähiger Tragweite auch deshalb fehlen, weil das weltweite Pandemiegeschehen noch von einer großen Dynamik gekennzeichnet ist, die eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern, wie etwa Sierra Leone, (noch) nicht erlaubt (vgl. BayVGH, B.v. 16.6.2020 - 9 ZB 20.31250 - juris Rn. 4 m.w.N; U.v. 1.10.2020 - 13a B 20.31004 - juris Rn. 48; OVG NW, B.v. 21.9.2020 - 2 A 2255/20.A - juris Rn. 7).
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Aktuelle Entwicklungen, die einer Abschiebung entgegenstehen, wären im Übrigen im Rahmen der Abschiebung von der Ausländerbehörde zu berücksichtigen (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Ggf. wäre ihnen mit einem Folgeantrag zu begegnen (vgl. BayVGH, B.v. 16.2020 - 9 ZB 20.31250 - juris Rn. 4; U.v. 1.10.2020 - 13a B 20.31004 - juris Rn. 48).
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen der geltend gemachten Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
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Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (BayVGH, B.v. 19.10.2018 - 9 ZB 16.30023 - juris Rn. 10). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht schon dann verletzt, wenn der Richter zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist. Auch die bloße Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, B.v. 15.2.2017 - 2 BvR 395/16 - juris Rn. 5 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.10.2019 - 9 ZB 19.31503 - juris Rn. 8).
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Soweit mit dem Zulassungsvorbringen geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht habe die Verschärfung der schwierigen Situation in Sierra Leone aufgrund der Covid-19 Pandemie nicht aufgeklärt, führt dies nicht zum Erfolg des Antrags. Art. 103 Abs. 1 GG statuiert keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 - 1 BvR 1011/17 - juris Rn. 16). Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2019 - 9 ZB 19.31904 - juris Rn. 3). Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise zwar dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. BayVGH, B.v. 24.6.2019 - 15 ZB 19.32283 - juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 8.5.2018 - 20 ZB 18.30551 - juris Rn. 2 m.w.N.). Demgemäß kommt eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht, soweit das Gericht eine Beweisanregung nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat oder ihr nicht gefolgt ist, obwohl sich dies hätte aufdrängen müssen (BVerwG, B.v. 4.3.2014 - 3 B 60.13 - juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 1.10.2019 - 9 ZB 19.33217 - juris Rn. 8). Dass ein solcher Mangel vorliegt, zeigt der Zulassungsantrag aber nicht auf. Vielmehr hat die anwaltlich vertretene Klägerin vor dem Verwaltungsgericht hierzu keinerlei Vortrag gemacht oder einen Beweisantrag gestellt. Die Rüge eines Verfahrensmangels ist aber kein Mittel, Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten im vorangegangenen Instanzenzug zu kompensieren (BVerwG, B.v. 20.12.2012 - 4 B 20.12 - juris Rn. 6). Dass sich eine weitere Sachaufklärung zum für das Verwaltungsgericht maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung vom 3. August 2020 für dieses hätte aufdrängen müssen, wird ebenso wenig dargelegt, zumal selbst im Zulassungsvorbringen auf Gefahren durch die Covid-19 Pandemie in Sierra Leone nur aufgrund aktueller allgemeiner wirtschaftlicher Entwicklungen und Einschätzungen, insbesondere in Deutschland und insbesondere seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 3. August 2020, geschlossen wird.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Mit der gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).