Titel:
Keine (weitere) Aufenthaltserlaubnis nach Rücknahme eines Asylantrags
Normenketten:
AufenthG § 10 Abs. 3, § 25 Abs. 4, 5, § 31 Abs. 4 S. 2
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. § 10 Abs. 3 S. 1 AufenthG findet zwar nach S. 3 Hs. 1 der Vorschrift im Fall eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Anwendung; dies gilt jedoch nur bei gesetzlichen Ansprüchen und nicht auch bei einer Ermessensvorschrift im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null (Rn. 28). (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 S. 2 AufenthG ist nur für Notfallsituationen anzunehmen, die der Gesetzgeber nicht voraussehen und nicht regeln konnte. Es muss sich um eine exzeptionelle Ausnahmesituation handeln, in der die Aufenthaltsbeendigung den Ausländer deutlich härter trifft als andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation (Rn. 32). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sperrwirkung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Rücknahme eines Asylantrags, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bei Verwurzelung (verneint), Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Rücknahme eines Asylantrags, Sperrwirkung für Aufenthaltstitel, Ermessensvorschrift, Ermessensreduzierung auf Null, außergewöhnliche Härte, Verwurzelung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 3269
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.
2
Die … 1979 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige und reiste nach Aktenlage erstmals am 7. Dezember 2001 mit einem bei dem Deutschen Generalkonsulat … ausgestellten entsprechenden Visum zum Nachzug zu ihrem damaligen Ehemann - zu diesem Zeitpunkt ebenfalls türkischer Staatsangehöriger - ein, den sie bereits am 27. September 2001 in der Türkei geheiratet hatte. Der damalige Ehemann der Klägerin ist nach Aktenlage spätestens seit dem 12. August 2002 deutscher Staatsangehöriger.
3
Der Klägerin wurde am 22. Februar 2002 erstmals eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 18 AuslG (Ehegattennachzug) erteilt, welche auf Grund der Einbürgerung des Ehemannes am 8. November 2002 gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (ausländische Familienangehörige Deutscher) verlängert wurde. Die letzte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erfolgte gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG am 13. November 2009, gültig bis 20. November 2013. Der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis lag eine von der Klägerin unterschriebene Eheerklärung vom 13. November 2009 zugrunde, in der bestätigt wurde, dass eine eheliche Lebensgemeinschaft geführt und eine gemeinsame Wohnung bewohnt werde.
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Durch Endbeschluss des Amtsgerichts … vom 17. Januar 2012 wurde die Ehe zwischen der Klägerin und ihrem damaligen Ehemann geschieden. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung haben die damaligen Ehegatten übereinstimmend erklärt, seit Anfang Januar 2009 getrennt zu leben.
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Am 21. November 2013 wurde der Klägerin eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 AufenthG bis 20. November 2014 erteilt.
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Am 3. Dezember 2014 beantragte die Klägerin eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Auf Grund der nur geringfügig verspäteten Antragstellung wurde die Fiktionswirkung angeordnet und eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt.
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Mit Schreiben vom 24. Februar 2015 zeigte sich die damalige Betreuerin der Klägerin bei der Beklagten unter Vorlage eines Betreuerausweises vom 26. Januar 2015 an.
8
Mit Anhörungsschreiben der Beklagten vom 16. März 2015 wurde die Klägerin darüber informiert, dass beabsichtigt sei, die am 13. November 2009 sowie die am 16. Oktober 2013 befristet erteilten Aufenthaltserlaubnisse gemäß Art. 48 BayVwVfG rückwirkend zum Erteilungszeitpunkt zurückzunehmen, den Sofortvollzug dieser Maßnahmen anzuordnen, die Klägerin aus dem Bundesgebiet auszuweisen, den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abzulehnen und die Abschiebung in das Heimatland der Klägerin anzudrohen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aus dem Protokoll des Scheidungsverfahrens hervorgehe, dass die Klägerin und ihr Mann seit Anfang Januar 2009 getrennt lebten. Damit sei die gemeinsame Eheerklärung vom 13. November 2009 falsch gewesen und es stünde fest, dass sich die Klägerin die Aufenthaltserlaubnis vom 13. November 2009 durch falsche Angaben erschlichen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Anhörungsschreiben Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom 22. April 2015 trug die damalige Betreuerin der Klägerin im Wesentlichen vor, dass die Klägerin im September 2001 im Alter von 21 Jahren an einen 37 Jahre älteren Mann zwangsverheiratet worden sei. Die Ehe sei nicht harmonisch verlaufen. Die Klägerin habe für sich im Laufe der Ehe erkannt, dass sie dem eigenen Geschlecht zugewandt sei, ohne dies jedoch zu leben. Spätestens seit 2005 leide die Klägerin, nicht zuletzt auf Grund ihrer Biografie und Lebenssituation nachweislich unter schweren Depressionen und Angststörungen. Die Ehe sei zum Zeitpunkt der hier relevanten Erklärung vom 13. November 2009 noch in der beschriebenen Form geführt worden. Die Erklärung sei daher nicht falsch gewesen. Anfang 2010 habe sich die Klägerin mit der ebenfalls lesbischen … … angefreundet. Die Beziehung sei zunächst heimlich verlaufen. Der Ehemann der Klägerin habe erst nach einigen Monaten davon erfahren. Im Anschluss habe er versucht, mit noch mehr sexuellen Übergriffen erhöhten Druck aufzubauen, um die Ehe aufrechtzuerhalten, bis die Klägerin schließlich im Oktober 2010 aus der Ehewohnung ausgezogen sei. Nach dem Auszug habe sie dann vom 15. Oktober 2010 bis 16. Mai 2011 bei ihrer Lebensgefährtin gelebt. Es sei heute nicht mehr nachvollziehbar, warum sich die Klägerin nicht gegen den fehlerhaften Sachverhaltsvortrag des Ehemannes, die Trennung innerhalb der Wohnung betreffend, gewandt habe. Heute könne sich die Klägerin kaum an die genauen Abläufe erinnern, denn damals wie heute sei sie unter dem Einfluss starker Psychopharmaka gestanden. Ferner habe die Klägerin im April 2011, nach dem Scheitern der Beziehung zu Frau … einen Selbstmordversuch unternommen und sich vom 17. April 2014 bis 21. April 2014 im Bezirksklinikum … befunden. Die Klägerin habe zu ihrer Familie in der Türkei keinerlei Kontakt, dies sei schon seit der von dieser initiierten Zwangsverheiratung der Fall. Die spätere Scheidung und die Neigung der Klägerin machten es auch zukünftig unmöglich, zur Familie zurückzukehren. Die Klägerin sei nach über 14 Jahren, fast der Hälfte ihres Lebens, in Deutschland in ihrem Freundeskreis sozial integriert, mit der Türkei verbinde sie nichts mehr. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz Bezug genommen.
10
Mit Schreiben vom 16. Dezember 2015 teilte die damalige Betreuerin der Klägerin im Wesentlichen mit, dass rein vorsorglich ein Asylantrag gestellt worden sei.
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Mit Schreiben vom 11. August 2016 wurde die Klägerin zu einer beabsichtigten Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis angehört. Es wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten könne.
12
Mit Schreiben vom 25. August 2015 teilte die damalige Betreuerin der Klägerin mit, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könne, weil sie erkrankt sei. Dem Schreiben wurde ein Rentenbescheid vom 12. August 2016 beigelegt, aus dem hervorgeht, dass die Klägerin über den bisherigen Befristungszeitraum hinaus ab dem 1. Januar 2017 Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalte. Dem Rentenbescheid ist weiter zu entnehmen, dass die Rente mit Ablauf des Monats Dezember 2019 ohne einen besonderen Entziehungsbescheid wegfalle, da es auf Grund der medizinischen Untersuchungsbefunde nicht unwahrscheinlich sei, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein könne.
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Mit Schreiben vom 20. Mai 2016 informierte die damalige Betreuerin der Klägerin die Beklagte über die Rücknahme des Asylantrags der Klägerin.
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Mit Bescheid vom 22. September 2016 wurde in Ziffer I. die beantragte Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels abgelehnt. In Ziffer II. wurde die Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland bis spätestens 21. Oktober 2016 zu verlassen. In Ziffer III. wurde die Abschiebung insbesondere in die Türkei angedroht. Der Bescheid wurde im Wesentlichen damit begründet, dass ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht bestehe. Die Voraussetzungen für eine Titelerteilung im Ermessenswege lägen nach Aktenlage nicht vor. Die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) sei auch im vorliegenden Sachverhalt zu erfüllen. Der Lebensunterhalt der Klägerin sei nicht gesichert, weil sie eine geringe Erwerbsunfähigkeitsrente sowie aufstockende Grundsicherung beziehe. Einer Beschäftigung gehe die Klägerin nicht nach. Hinsichtlich der speziellen Erteilungsvoraussetzungen richte sich der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 AufenthG. Der Aufenthalt der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland sei der Klägerin bislang ausschließlich im Hinblick auf ihre Eheführung mit einem zunächst noch die türkische, später die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Ehemann bzw. - nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft und Scheidung - als eheunabhängiges, eigenständiges Aufenthaltsrecht erteilt worden. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG werde die Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich zu den im Aufenthaltsgesetz genannten Aufenthaltszwecken erteilt. Ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ergebe sich jedoch daraus für die Klägerin nicht, da sie keinen der in diesen Anspruchsgrundlagen bezeichneten Sachverhalte erfülle. Insbesondere ergebe sich für die Klägerin kein Rechtsanspruch auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels in der Form der Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 AufenthG. Die weitere Verlängerung dieser Aufenthaltserlaubnis richte sich nach den Bestimmungen des § 31 Abs. 4 AufenthG. Nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG könne u.a. eine dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen zum Zwecke des Familiennachzugs erteilte Aufenthaltserlaubnis, die bereits erstmalig gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verlängert worden sei, grundsätzlich erneut verlängert werden. Dies richte sich nunmehr nach den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen und komme somit nur in Betracht, wenn die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG vorlägen. Die Beklagte sehe keine Anhaltspunkte, die ein Absehen von der Erfüllung dieser Regelerteilungsvoraussetzungen rechtfertigten. Schließlich stünden der Klägerin auch keine Rechte nach dem Beschluss des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 - ARB 1/80 - zu. Nach Artikel 7 Abs. 1 ARB 1/80 hätten Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers privilegierte Aufenthaltsrechte, wobei der nachziehende Ehegatte mindestens seit drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Bundesgebiet haben müsse. Zusätzliche Voraussetzung sei grundsätzlich, dass der Familienangehörige und die Bezugsperson (der türkische Arbeitnehmer) während der ersten drei Jahre tatsächlich in häuslicher Gemeinschaft zusammenlebten, zumindest aber eine familiäre bzw. eheliche Lebensgemeinschaft hätten. Voraussetzung für den Erwerb der Rechtsstellung des Familienangehörigen sei aber, dass die Bezugsperson türkischer Staatsangehöriger sei. Eine privilegierte aufenthaltsrechtliche Position nach Art. 7 ARB 1/80 könne deshalb nicht mehr erworben werden, wenn die Bezugsperson zum Zeitpunkt der Erfüllung der letzten Erwerbsvoraussetzung beispielsweise auf Grund seiner Einbürgerung kein türkischer Staatsangehöriger mehr sei (vgl. insoweit auch VGH BW, U.v. 23.10.2012 - 11 S 1470/11). Nachdem die Klägerin im Dezember 2001 im Visumswege in das Bundesgebiet eingereist sei und ihr Ehemann sich knapp ein Jahr später (im August 2002) unter Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit einbürgern habe lassen, könnten der Klägerin aus Art. 7 ARB 1/80 keine entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Privilegien erwachsen sein. Auch eine eigene assoziationsrechtliche Position aus Art. 6 ARB 1/80 habe die Klägerin nicht erwerben können. Danach erwerbe ein türkischer Arbeitnehmer diese Privilegien, wenn er bestimmte Beschäftigungszeiten unter bestimmten Bedingungen auf dem regulären Arbeitsmarkt erfülle. Solche Zeiten seien von der Klägerin nicht nachgewiesen worden. Sonstige Gründe, die für einen weiteren Aufenthalt hier sprechen würden, seien nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden. Dies gelte insbesondere auch hinsichtlich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG (humanitäre Gründe), weil die in diesen Vorschriften genannten Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Bei der Entscheidung der Ausländerbehörde über den Aufenthalt von Ausländern seien insbesondere die Folgen für die persönlichen Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. Die Klägerin habe bis zu ihrem 21. Lebensjahr in der Türkei gelebt und befinde sich erst seit knapp 15 Jahren im Bundesgebiet. Sie habe somit den weit überwiegenden Teil ihres Lebens in ihrem Heimatland verbracht. Es könne ihr daher zugemutet werden, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren, um dort ihren weiteren Aufenthalt und eine neue Existenz zu begründen. Von der Rücknahme der Aufenthaltstitel sowie der Verfügung einer Ausweisung, wie mit Anhörungsschreiben vom 16. März 2015 angekündigt, werde vor dem Hintergrund des im Zeitraum 2001 bis 2009 erworbenen eigenständigen Aufenthaltsrechts, auf dessen Grundlage die Aufenthaltserlaubnis am 16. Oktober 2013 verlängert worden sei, abgesehen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid Bezug genommen.
15
Mit Schriftsatz ihrer damaligen Betreuerin vom 28. September 2016 an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach, eingegangen am selben Tag, erhob die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 22. September 2016 und beantragte,
die Beklagtenpartei unter Aufhebung des Bescheides vom 22. September 2016 zu verpflichten, einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen.
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Zur Begründung der Klage wurde ausgeführt, dass es richtig sei, dass eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts nicht gegeben sei. Die Klägerin sei in Deutschland schwer erkrankt. Sie leide an einer in § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB aufgeführten Krankheit, nämlich einer rezidivierenden depressiven Störung, die es der Klägerin nicht erlaube, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Krankheit sei von der Klägerin nicht verschuldet. Somit könne ihr die Nichtabsicherung ihres eigenen Lebensunterhalts nicht zugerechnet werden. Die Klägerin beziehe auf Grund ihrer Erkrankung eine Erwerbsunfähigkeitsrente wegen voller Erwerbsunfähigkeit. Richtig sei, dass die Begründung eines Aufenthalts in Deutschland durch Familiennachzug, konkret durch ihren Ehemann, erfolgt sei. Dies sei bereits im Jahr 2001 geschehen. Seitdem lebe die Klägerin in Deutschland. Sie habe sich damit auf Grund der Verfestigung ihrer Lebenssituation einen Anspruch auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verschafft. Die Bestreitung des eigenständigen Lebensunterhalts bestimme sich nach den jeweiligen festen oder regelmäßigen Einkünften gemäß § 9a AufenthG. Neben dem Ausländer mit regelmäßigen Einkünften würden jene Ausländer durch die Spezialvorschrift des § 9c Ziffer 2 AufenthG gleichgestellt, die an eigenständigen Einkünften gehindert würden infolge einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit. Ein solcher Sonderfall des § 9c Ziffer 2 AufenthG liege in diesem Fall vor. Die Klägerin sei sowohl geistig als auch seelisch behindert. Auf Grund ihrer dauerhaften Krankheit sei sie vom Betreuungsgericht unter Betreuung gestellt worden. Die Tatsachen für die Erkrankung ergäben sich aus dem Beschluss des Amtsgerichts … Unter Berücksichtigung der Tatsache einer geistigen und seelischen Behinderung der Klägerin, sowie des Umstandes, dass sie seit 2001 ununterbrochen in Deutschland lebe, hätte die Sachentscheidung zugunsten der Klägerin getroffen werden müssen. Die Klägerin ist immer wieder in stationärer Behandlung, auch wegen Suizidgefahr. Zudem bestünden erhebliche Bedenken in der Argumentation der Ausgangsbehörde bezüglich der Nichtanwendung des Assoziationsabkommens der Türkei mit der EU. Dieses solle keine Gültigkeit für die Klägerin haben, da der Ehegatte ein Jahr nach der Einreise der Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit erworben habe. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit des Ehegatten könne aber nicht der Klägerin als Ehefrau zum Nachteil gereichen. Dies widerspreche allen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz Bezug genommen. Dem Schriftsatz wurden der Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts … vom 20. Januar 2015, ein Rentenbescheid vom 12. August 2016, ein nervenärztliches Gutachten vom 16. Dezember 2014 sowie ein Arztbrief der Bezirkskliniken … vom 23. Juni 2016 beigelegt. Auf den Inhalt der Anlagen wird Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom 12. Oktober 2016 beantragte die Beklagte,
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass in der Klageschrift angeführt worden sei, dass die fehlende Lebensunterhaltssicherung der Klägerin auf Grund ihrer Erkrankung nicht zuzurechnen sei. Dies sei für die Entscheidung nicht erheblich. Es sei diesbezüglich festzustellen, dass eine Erteilungsvoraussetzung für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, mithin die Lebensunterhaltssicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu fordern und nach Prüfung nicht vorliegend sei. Weiter werde durch die Klägervertreterin auf die Regelung des § 9c AufenthG hingewiesen. Diese sei jedoch als Spezialregelung nur für die Prüfung der Voraussetzungen einer Erteilung der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU vorgesehen, für die jedoch die weiteren Erteilungsvoraussetzungen nicht vorlägen. Es sei deshalb die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bei der zu prüfenden Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 31 Abs. 4 AufenthG anzuwenden. Ergänzend werde wegen des zurückgenommenen Asylantrags auf die Vorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hingewiesen; ein Anspruch auf Titelerteilung bestehe nicht. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben der Beklagten Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 15. Juni 2018 teilte die damalige Betreuerin der Klägerin mit, dass die Klägerin am 12. Juni 2018 einen Herrn … geheiratet habe und seit dem 1. Juli 2018 keine Sozialleistungen mehr beziehe, sondern von ihrem Ehemann versorgt werde.
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Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2018 zeigten sich die Bevollmächtigten der Klägerin an und teilten mit, dass die Betreuung der Klägerin aufgehoben worden sei. Dem beigefügten Beschluss des Amtsgerichts … vom 3. Dezember 2018 kann entnommen werden, dass Ermittlungen ergeben hätten, dass die Voraussetzungen für eine Betreuung weggefallen seien, was sich insbesondere aus einer Stellungnahme der Betreuerin ergebe.
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Mit zwei Schriftsätzen vom 23. Januar 2020 legten die Bevollmächtigten der Klägerin einen Arbeitsvertrag und Gehaltsabrechnungen vor und führten im Wesentlichen aus, dass die Klägerin nicht mehr mit Herrn … zusammenlebe. Sei leite ihr eigenständiges Aufenthaltsrecht bereits aufgrund der vorhergehenden Ehe mit Herrn … … ab. Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen seien gegeben. Im Übrigen ergebe sich eine Aufenthaltserlaubnis auch aus § 25 Abs. 5 AufenhG i.V.m. Art. 8 EMRK. Hierfür sei entgegen der Ansicht der Beklagten auch keine familiäre Lebensgemeinschaft erforderlich. Der Schutzbereich des Art. 8 EMRK sei eröffnet. Es sei einerseits maßgeblich zu berücksichtigen, inwieweit die Ausländerin oder der Ausländer unter Beachtung des Lebensalters und der persönlichen Befähigung in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert sei. Es sei auch in den Blick zu nehmen, welche Schwierigkeiten für die Klägerin mit einer (Re-)Integration in den Staat verbunden wären, in den sie ausreisen solle. Im Rahmen der Abwägung seien alle konkreten, individuellen Lebensumstände und auch Lebensperspektiven in eine gewichtende Gesamtbewertung einzustellen und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprächen, abzuwägen. Die 1979 geborene Klägerin sei nunmehr die letzte Hälfte ihres Lebens in Deutschland. Einen Bezug zur Türkei gebe es nicht. Sie sei strafrechtlich unbescholten, ihr bisheriger Aufenthalt sei zumindest überwiegend rechtmäßig. Im Hinblick auf die Zwangsverheiratung, ihr Lebensschicksal, die sexuelle Orientierung und die zwei gescheiterten Ehen sei die Reintegration in die Türkei evident problematisch. Die Klägerin sei im Übrigen faktische Inländerin. Betrachte man den Sachverhalt in einer Gesamtschau, sei von einer Anwendbarkeit des Art. 8 EMRK i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG auszugehen. Selbst wenn man davon ausginge, dass der Lebensunterhalt nicht gesichert sei, läge hier ein atypischer Ausnahmefall vor. Ein solcher Ausnahmefall könne auch aufgrund höherrangigen Rechts, insbesondere im Hinblick auf Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK geboten sein.
22
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen. Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid vom 22. September 2016 nicht rechtswidrig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
24
Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung ihres Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (im Folgenden unter I.) bzw. ihres Antrags auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG (im Folgenden unter II.). Der streitgegenständliche Bescheid begegnet auch im Übrigen keinen rechtlichen Bedenken (im Folgenden unter III.).
25
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Bescheidung ihres Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts, da vorliegend bereits die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht. Es kann somit als entscheidungsunerheblich dahinstehen, ob die allgemeinen und speziellen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sind, insbesondere, ob die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) gegeben ist.
26
Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist oder der seinen Asylantrag zurückgenommen hat, vor der Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 erteilt werden.
27
Ausweislich des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Februar 2017 stellte die Klägerin am 11. Januar 2016 einen Asylantrag, welchen sie am 20. Mai 2016 wieder zurückgenommen hat. Der Tatbestand des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist erfüllt. Der Klägerin darf demnach vor der Ausreise keine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erteilt werden, da sich diese Anspruchsgrundlage nicht in Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes befindet.
28
Die Ausnahme von der Sperrwirkung nach § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG, wonach Satz 1 im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Anwendung findet, ist vorliegend nicht einschlägig, da es sich bei der Anspruchsgrundlage des § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG um eine Ermessensvorschrift handelt. Selbst bei Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null käme man nicht zur Anwendung der Ausnahme des § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 1 AufenthG, da mit „Anspruch“ der „gesetzliche Anspruch“ gemeint ist, nicht jedoch die Ermessensreduzierung auf Null (Maor in BeckOK AuslR, AufenthG, 24. Ed. 1.8.2019, § 10 Rn. 11).
29
Der Vortrag des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, dass die Klägerin seitens der Ausländerbehörde angehalten worden sei, einen Asylantrag zu stellen und dass die damalige Betreuerin der Klägerin wohl keine Kenntnis von § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gehabt habe, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen sind die Ausnahmen in § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nach der eindeutigen Gesetzesformulierung als abschließend zu verstehen (Dienelt in Bergmann/Dienelt, AufenthG, 12. Aufl. 2018, § 10 Rn. 35), zum anderen ist anzumerken, dass die Betreuerin der Klägerin eine Rechtsanwältin war, die die Auswirkungen einer Asylantragstellung in der Situation der Klägerin kennen musste.
30
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Bescheidung ihres Antrags auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Zwar sind diese Anspruchsgrundlagen nicht von der Sperrwirkung des § 10 Ab. 3 Satz 1 AufenthG umfasst und damit grundsätzlich auch im vorliegenden Fall anwendbar. Die Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis jedoch zu Recht mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG abgelehnt.
31
1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 4 AufenthG liegen nicht vor, insbesondere stellt es nach Auffassung der Kammer für die Klägerin keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG dar, wenn sie das Bundesgebiet verlassen muss.
32
Das Tatbestandsmerkmal der außergewöhnlichen Härte ist nur für Notsituationen vorbehalten, die der Gesetzgeber nicht voraussehen und nicht regeln konnte. Eine außergewöhnliche Härte kann erst bei einer exzeptionellen Ausnahmesituation als gegeben angesehen werden. Die Aufenthaltsbeendigung muss den Ausländer deutlich härter treffen als andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation (Maaßen/Kluth in BeckOK AuslR, AufenthG, Stand: 1.11.2019, § 25 Rn. 85). Bei in Deutschland aufgewachsenen Ausländern kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, inwieweit der Ausländer in Deutschland verwurzelt ist. Das Ausmaß der Verwurzelung bzw. die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbundenen Folgen sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (BVerwG, U.v. 27.1.2009 - 1 C 40/07 - juris Rn. 26). Dabei sind insbesondere die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland, die Lebensunterhaltssicherung, die Berufsausbildung, soziale Bindungen in Deutschland außerhalb der Kernfamilie und die Frage eines Zusammenlebens mit den Familienangehörigen im Ausland zu berücksichtigen. Die Annahme einer außergewöhnlichen Härte auf Grund von Verwurzelung ist jedoch restriktiv handzuhaben (Maaßen/Kluth in BeckOK AuslR, AufenthG, § 25 Rn. 86.1). Eine Verwurzelung des Ausländers im Bundesgebiet setzt eine abgeschlossene und gelungene Integration des Ausländers in die Lebensverhältnisse in Deutschland voraus, von der nicht bereits dann ausgegangen werden kann, wenn sich der Ausländer für einen längeren Zeitraum in Deutschland aufgehalten hat. Ein konventionswidriger Eingriff in das Privatleben ist erst dann gegeben, wenn der Ausländer aufgrund seines längeren Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum „Aufnahmestaat“ verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung „faktisch zu einem Inländer“ geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug - mehr - hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (OVG Saarl, B.v. 3.9.2012 - 2 B 199/12 - juris Rn. 9).
33
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegt im konkreten Einzelfall der Klägerin keine außergewöhnliche Härte vor. Die … 1979 geborene Klägerin reiste erstmals am 7. Dezember 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein. In der Türkei ist die Klägerin nach ihren eigenen Angaben zur Schule gegangen und hat später in einer Getränkefabrik in der Produktion gearbeitet. Ihre wesentliche Sozialisierung fand somit in der Türkei statt und war im Zeitpunkt ihrer Einreise nach Deutschland schon abgeschlossen. Trotz des mittlerweile fast 20-jährigen Aufenthalts in Deutschland ist eine Verwurzelung in die deutsche Gesellschaft nicht zu erkennen. Ein wesentlicher Bestandteil der Integration bzw. Grundvoraussetzung für eine Integration in die Lebensverhältnisse des Aufnahmestaates ist das Erlernen der Sprache. Die Klägerin benötigte für die Durchführung der mündlichen Verhandlung einen Dolmetscher für die türkische Sprache. Der Klägerin gelang es auch auf Zureden ihres Bevollmächtigten nicht, einfache Fragen des Gerichts in deutscher Sprache zu beantworten. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin nicht (allein) aufgrund der Nervosität in der mündlichen Verhandlung daran gehindert war, ihre Sprachkenntnisse zu zeigen, sondern dass die Klägerin bislang keine ernsthaften Bemühungen unternommen hat, die deutsche Sprache zu erlernen. Nach ihrer eigenen Aussage hat sie lediglich im Jahr 2002 oder 2003 eine Sprachschule besucht. Dementsprechend ist der Klägerin bisher auch keine berufliche Integration in Deutschland gelungen. In der mündlichen Verhandlung erklärte sie, dass sie in Deutschland keine Ausbildung absolviert habe und dass sie erstmals 2018 oder 2019 gearbeitet habe. Familiäre Anknüpfungspunkte in Deutschland sind ebenfalls nicht erkennbar. Die Klägerin hat keine Kinder oder andere Verwandte in Deutschland; ihre zwei Ehen sind gescheitert. Demgegenüber hat die Klägerin - wie sie selbst bestätigt hat - enge familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Dort leben ihre Eltern sowie ein Bruder und eine Schwester. Sie habe eine große Familie in der Türkei. Besonders starke soziale Bindungen in Deutschland außerhalb der Kernfamilie, die über bloße Bekanntschaften oder Freundschaften hinausgehen, wurden nicht vorgetragen. Das Gericht verkennt nicht, dass die Klägerin aufgrund ihrer ersten Ehe und der zeitweise bestehenden psychischen Problemen zunächst unter erschwerten Bedingungen in Deutschland leben musste und möglicherweise an einer Integration in die deutschen Lebensverhältnisse gehindert war. Die Trennung von ihrem ersten Ehemann erfolgte jedoch ausweislich des Protokolls des Amtsgerichts … vom 17. Januar 2012 schon im Januar 2009. Dennoch ist es der Klägerin nicht gelungen, sich in die Lebensverhältnisse in Deutschland zu integrieren. Das Gericht ist davon überzeugt, dass es der Klägerin trotz ihrer gescheiterten Ehen und ihrer geltend gemachten Bisexualität gelingen kann, wieder in der Türkei Fuß zu fassen. Die Klägerin spricht die türkische Sprache und ist mit den dortigen Gepflogenheiten vertraut. Zudem lebt die komplette Familie der Klägerin in der Türkei. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es für die Klägerin aufgrund ihrer sexuellen Orientierung unzumutbar wäre, in ihr Heimatland zu gehen, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin mit ihrer damaligen Lebensgefährten im Jahr 2013 oder 2014 ihren Urlaub in der Türkei verbracht hat.
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Im Rahmen einer Gesamtabwägung ist auch unter Berücksichtigung der Regelung des Art. 8 EMRK und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gegeben. Auf das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG kommt es somit nicht mehr entscheidungserheblich an.
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2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor, insbesondere ist die Ausreise der Klägerin nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich. Zwar kann nach der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung ein rechtliches Ausreisehindernis in sogenannten „Verwurzelungsfällen“ aus den Menschenrechten auf Schutz des Familienlebens und des Privatlebens nach Art. 8 EMRK hergeleitet werden. Eine derartige Verwurzelung ist jedoch im Falle der Klägerin nicht gegeben. Auf die Ausführungen unter Ziffer II.1. wird verwiesen.
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Die Beklagte hat auch in nicht zu beanstandender Weise eine Rechtsstellung der Klägerin nach ARB 1/80 abgelehnt, ebenso begegnen der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung keine rechtlichen Bedenken. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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Die Klage war somit vollumfänglich abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt geht zurück auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.