Titel:
Abschiebeverbot wegen Gefahr der Verelendung im Falle der Rückkehr in den Irak
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
ZPO § 708
Leitsätze:
1. Die Stellungnahme eines Diplom-Psychologen kann als ärztliche Bescheinigung iSd § 60a Abs. 2c S. 2 AufenthG verstanden werden, wenn dieser zumindest in einschlägigen Einrichtungen arbeitet und von einer nachhaltigen beruflichen Tätigkeit ausgegangen werden kann, die allgemein eine Qualitätserwartung, welche der Gesetzgeber mit der Regelung sichern wollte, rechtfertigt. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Abschiebungsverbot liegt vor, nachdem erkennbar ist, dass die Kläger im Falle der Abschiebung in den Irak zeitnah verelenden würden und schweren bleibenden körperlichen und psychischen Leiden ausgesetzt wären, da sie sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht wirtschaftlich unterhalten können. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Irak (Region, Kirkuk), Abschiebeverbot wegen Gefahr der Verelendung im Falle der Rückkehr in den Irak, „Gesamtbetrachtung“ der Familie, Herkunftsland Irak, Region Kirkuk, Kindeswohl, psychotherapeutische Behandlung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 31854
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG für die Kläger hinsichtlich des Irak vorliegen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 26. August 2016 wird in den Nummern 3 bis 5 aufgehoben. Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte trägt ein Drittel ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten selbst sowie jeweils ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Kläger. Die Kläger tragen ihre eigenen außergerichtlichen Kosten jeweils zu zwei Dritteln selbst sowie jeweils ein Neuntel der außergerichtlichen Kosten der Beklagten.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Nach eigenen Angaben reisten die Kläger zu 1) bis 5), irakische Staatsangehörige kurdischer Herkunft mit sunnitischer Glaubensüberzeugung, im November 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellten am 3. Mai 2016 förmliche Asylanträge. Die Kläger zu 1) und 2) sind miteinander verheiratet und Eltern der übrigen Kläger. Der Kläger zu 6) ist im Jahr 2016 in Deutschland geboren.
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Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gaben sie an, den Irak im November 2015 verlassen zu haben. Grund hierfür seien zum einen private Auseinandersetzungen, zum anderen die Angst vor dem IS gewesen. Aus privaten Gründen hätten Feinde des Vaters des Klägers zu 1) im Jahr 2008 diesen und seine zwei Brüder überfallen; die Brüder seien dabei erschossen worden. Es handele sich um einen sehr alten Familienkonflikt. Die Feinde hätte im Jahr 2011 die vom Kläger zu 1) bewirtschafteten Felder angezündet und dies auch im Jahr 2013 (vergeblich) versucht. Danach sei nichts mehr passiert, weil die Peschmerga in das Dorf gekommen seien, um es vor dem IS zu schützen. Der IS habe im Jahr 2014 weite Teile der Gegend eingenommen. Der Kläger zu 1) habe als Zivilist die Peschmerga in ihrem Kampf gegen den IS unterstützt.
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Die Klägerin zu 2) berichtete, sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie die beiden Brüder ihres Mannes erschossen worden seien. Sie habe das Haus verlassen wollen, um zu sehen, was draußen passiert sei. Dabei sei sie schwer gestürzt und habe starke Schmerzen an der Hüfte gehabt. Sie sei operiert worden, aber habe immer wieder Schmerzen gehabt. 2013 habe man ihr ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt. In Deutschland habe man ihr gesagt, dass das Hüftgelenk nur aus Kunststoff, aber nicht - wie im Irak behauptet - aus Platin sei. Der IS habe versucht, das Dorf zu erobern, die Peschmerga hätten sie aber beschützt. Da die Dorfbewohner später von den Peschermerga aufgefordert worden seien, das Dorf zu verlassen, haben sich die Kläger zur Ausreise entschlossen. Sie hätten ohnehin schon Angst vor den Feinden des Klägers zu 1) gehabt, das Dorf als letzter Schutzort sei dann weggefallen. Vorgetragen wurde ferner, dass der Kläger zu 6) an einer linksseitigen kompletten Lippen-Kiefer-Gaumenspalte leide.
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Der Heimatort der Kläger sei J... gewesen; nach der Tötung der Brüder des Klägers zu 1) habe die Familie den Ort verlassen und sei nach A... in die Nähe von Kirkuk umgezogen.
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Mit Bescheid vom 26. August 2016, am 31. August 2016 zugestellt, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf subsidiären Schutz (Nr. 2) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte den Klägern mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 5).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes lägen nicht vor. Aus dem Sachvortrag der Kläger sei weder eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrelevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz seien ebenfalls nicht gegeben. Soweit die Kläger sich auf Angriffe vor Feinden des Vaters beriefen, sei die Furcht vor sich wiederholenden Übergriffen angesichts der zeitlichen Abläufe - der Anschlag auf die Brüder sei mehr als acht Jahre her - nicht begründet. Insgesamt sei der Vortrag nicht ausreichend substantiiert. Soweit die Kläger Angst vor dem IS vortragen hätten, lägen jedenfalls die Voraussetzungen für subsidiären Schutz nicht vor. Den Klägern drohten bei Rückkehr in den Irak aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Ebenso lägen die Tatbestandsmerkmale von Abschiebungsverboten nicht vor. Die Erkrankung der Klägerin zu 2) sei nicht durch entsprechende Atteste nachgewiesen. Jedenfalls sei auch keine wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustands nach Rückkehr in den Irak zu erwarten. Auch hinsichtlich des Klägers zu 6) sei nicht erkennbar, dass sich sein Gesundheitszustand bei Rückkehr wesentlich oder lebensbedrohlich verändern würde.
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Am 6. September 2016 erhoben die Kläger durch eine bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München. Zuletzt wurde beantragt,
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festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen, und den Bescheid der Beklagten vom 26. August 2016 insoweit aufzuheben.
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Zur Begründung wurde auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 24. Juli 2018 wurde ein Brief einer Facharztpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie aus München vom 21. Juni 2018 vorgelegt. In diesem wurde hinsichtlich des Klägers zu 4) mitgeteilt, dass dieser in den ersten beiden Quartalen des Jahres 2018 untersucht worden sei. Diagnostiziert worden sei eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotion (ICD-10: F92.9) sowie eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). Ihm seien ein Gruppenangebot bei Refugio sowie ein (Schul-)Wechsel in ein Förderzentrum mit emotionalem Schwerpunkt empfohlen worden. Eine Abschiebung sei kontraindiziert und würde das Kindeswohl gefährden, da die Sicherheit der Familie im Irak ungewiss und der Aufenthalt dort von sehr schlechten Erinnerungen geprägt sei.
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Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2018 wurde ein fachärztliches Attest eines ärztlichen Psychotherapeuten vom 21. September 2018 hinsichtlich der Klägerin zu 2) übersandt. Diagnostiziert wurde dort eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F32.1) und eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). Um eine weitere Genesung zu ermöglichen und die Restgesundheit nicht in erheblichem Ausmaß zu gefährden, sei aus psychiatrischer Sicht die Rückkehr in den Irak kontraindiziert. Prognostisch würde sich die Erkrankung erheblich verschlechtern und weiter chronifizieren.
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Mit Schriftsatz vom 17. Januar 2020 übermittelte die bevollmächtigte Kanzlei einen psychologisch-psychotherapeutischen und fachärztlich-psychiatrischen Befundbericht von Refugio München vom 24. Oktober 2019 über den Gesundheitszustand der Klägerin zu 2). In dem Bericht wird mitgeteilt, dass sie sich am 30. Januar 2019 bei Refugio München zum diagnostischen Erstgespräch für eine psychotherapeutische Behandlung vorgestellt habe. Eine dringende Behandlungsbedürftigkeit sei festgestellt worden. Es seien 20 Stunden ambulante Psychotherapie mit Dolmetscher und fachärztlicher Begleitung durchgeführt worden. Diagnostiziert worden sei eine generalisierte Angststörung (ICD-10: F41.1) bei Verdacht auf Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlich-dependenten und histrionen Zügen, außerdem eine depressive Episode, gegenwärtig mittelgradig (ICD-10: F32.1) mit Symptomen einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung. Mitgeteilt wird in den Bericht, dass ohne massive Unterstützung des Ehemannes die Klägerin zu 2) kaum in der Lage ist, ihren Alltag zu bewältigen. Angesichts der Zähigkeit, mit der sie sich um die Therapie, aber auch um die notwendige Unterstützung für ihre Kinder bemüht habe, könne trotz der Schwere der Erkrankung von einem positiven Therapieverlauf ausgegangen werden.
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Mit Schriftsatz vom 20. Februar 2020 wurde hinsichtlich der Klägerin zu 2) ein interdisziplinärer Befundbericht einer Tagesklinik für Schmerzmedizin vom 6. Februar 2020 übersandt. Diagnostisch sei bei der Klägerin zu 2) von einem chronischen Schmerzsyndrom bei im Vordergrund stehender Cervicobrachialgie mit pseudoradikulärer Ausbreitung, Lumbalgie mit Zustand nach Bandscheibenoperation 2017, Coxalgie bei Zustand nach Schenkelhalsfraktur und mehrmaliger operativer Intervention sowie einem häufig auftretenden episodischen Kopfschmerz vom Spannungstyp auszugehen. Es hätten sich zudem im Rahmen des interdisziplinären Assessments psychosoziale Belastungsfaktoren und eine psychische Co-Morbidität explodieren lassen, die schmerzverstärkend wirkten. Insgesamt ergebe sich daraus eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41) im Stadium III des Mainzer Stadienmodells der Schmerzkodifizierung (MPSS).
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Übersandt wurde ferner ein Arztbrief eines medizinischen Versorgungszentrums hinsichtlich der Klägerin zu 2) vom 7. Januar 2020. Diagnostiziert wurde in Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41) im Stadium III nach Gerbershagen.
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Vorgelegt wurde auch eine psychologische Stellungnahme des SOS-Kinderdorfs München vom 12. November 2019 zur Klägerin zu 3). Diese klage über häufig wiederkehrende Erinnerungen an ihre Erlebnisse auf der Flucht. Sie habe berichtet, dass sie auf der Schulabschlussfahrt im Juli 2019 nach Barcelona beim Anblick des Meeres Herzrasen, Beklemmungsgefühle und Atemnot bekommen habe. Es sei ein Gefühl gewesen, als ob sie nicht bei sich selbst gewesen sei. Über die Erinnerung an die Bootsfahrt auf der Flucht habe sie nicht sprechen wollen. Es würde sich dabei um unkontrollierbare Flashbacks und Intrusionen handeln. Der Bericht teilt mit, dass die Symptome auf eine bestehende posttraumatische Belastungsstörung hindeuten würden (ICD-10: F43.01).
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Die Beklagte hat die Verwaltungsakten auf elektronischem Weg vorgelegt, ohne einen Antrag zu stellen.
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Mit Beschluss vom 16. Januar 2020 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 10. März 2020 wurden die Kläger informatorisch gehört. Für die Beklagte erschien niemand. Die Bevollmächtigte erklärte das Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren.
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Vorgelegt wurde in der Folge eine ärztliche Bescheinigung eines Orthopäden vom 16. März 2020, derzufolge der Kläger zu 1) aufgrund einer orthopädischen Diagnose aktuell nicht arbeitsfähig sei. Ein Attest einer orthopädischen Praxis vom 9. April 2020 bestätigt, dass der Kläger zu 1) an einer degenerativen Meniskusläsion mit horizontalem Hinterhorneinriss leide und eine nachhaltige Beschwerdebesserung unter konservativen Therapieoptionen nicht möglich gewesen sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte ohne weitere Durchführung einer mündlichen Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Die Kläger haben im Rahmen der mündlichen Verhandlung, die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Soweit die Klagen durch die Antragsbeschränkung in der mündlichen Verhandlung konkludent zurückgenommen worden sind (hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus), ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Im Übrigen haben die zulässige Klagen Erfolg.
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1. Die inzwischen volljährige Klägerin zu 3) hat allerdings keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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a) Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Konkret ist die Gefahr, wenn sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Aus den Tatbestandsmerkmalen der „Konkretheit“ der Gefahr für „diesen“ Ausländer ergibt sich zudem das zusätzliche Erfordernis einer auf den Einzelfall bezogenen, individuell bestimmten und erheblichen, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretenden Gefahrensituation. Diese Gefahrensituation muss landesweit drohen. Unerheblich ist allerdings, ob die Gefahr vom Staat ausgeht oder ihm zumindest zuzurechnen ist (vgl. OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 224).
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b) Für die Klägerin zu 3) besteht keine erhebliche konkret-individuelle Gefahr, insbesondere nicht aus gesundheitlichen Gründen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine solche Gefahr bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
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(1) Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (ständige Rechtsprechung vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris). Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, wobei der Standard des deutschen Gesundheitssystems nicht gefordert werden kann (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).
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Ob eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt, bedarf der Darlegung durch den jeweiligen Kläger (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO; vgl. dazu BVerwG, B.v. 26.7.2012 - 10 B 21.12; U.v. 11.9.2007 - 10 C 8.07, jeweils juris). Dabei entspricht es gefestigter Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 10.1.2018 - 10 ZB 16.30735 - juris Rn. 8; OVG LSA, B.v. 28.9. 2017 - 2 L 85/17 - juris Rn. 2 ff.; OVG NW, B.v. 9.10.2017 - 13 A 1807/17.A - juris Rn. 19 ff., BayVGH, B.v. 9.11.2017 - 21 ZB 17.30468 - juris Rn. 4), dass die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen sind. Schließlich umfasst die Regelung in § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG auch nach ihrem Sinn und Zweck die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
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(2) Aus der von der Klägerin zu 3) vorgelegten Stellungnahme vom 12. November 2019 ergibt sich nicht zur Überzeugung des Gerichts, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) leidet. Die Stellungnahme ist zwar nicht von vorherein außer Betracht zu lassen, weil sie „nur“ von einer Diplom-Psychologin und systemischen Therapeutin (Familientherapeutin) und somit nicht von einem Arzt stammt. Denn die gesetzliche Wendung „ärztliche Bescheinigung“ (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG) ist erweiternd auszulegen. Das gilt nicht nur für Psychologische Psychotherapeuten (hierzu VG München, U.v. 2.10.2019 - M 19 K 17.35935 - juris Rn. 34), sondern jedenfalls dann auch für Diplom-Psychologen, wenn diese zumindest in einschlägigen Einrichtungen arbeiten und insoweit von einer nachhaltigen beruflichen Tätigkeit ausgegangen werden kann, die allgemein eine Qualitätserwartung, welche der Gesetzgeber mit der Regelung sichern wollte, rechtfertigt. So verhält es sich hier (SOS Kinderdorf; Kinder-, Jugend- und Familienhilfe). Allerdings genügt das vorliegende Attest dennoch nicht den gesetzlichen Angaben. Es enthält nicht ansatzweise eine Darlegung der Methodik, die den (nur) Verdacht einer posttraumatischen Belastungsstörung rechtfertigt und für das Gericht nachvollziehbar erscheinen lässt. Der Stellungnahme lässt sich nicht mehr entnehmen als die Schilderungen der Klägerin und ihrer Empfindungen. Es fehlt eine objektivierte Einordnung und Qualifizierung dieser Empfindungen als Krankheit und die Begründung für die Beimessung eines Krankheitswerts und damit die Abgrenzung zu einer - zweifelsohne vorhandenen und intuitiv nachvollziehbaren - „bloßen“ Belastungsreaktion als Folge der seit Jahren unsicheren Aufenthaltssituation. Bezieht man zudem ein, dass die Klägerin nach ihren Aussagen in der mündlichen Verhandlung gegenwärtig auch nicht mehr an einer Therapie teilnimmt, kann nicht von einer ausreichenden Glaubhaftmachung einer Erkrankung ausgegangen werden.
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2. Alle Kläger - auch die Klägerin zu 3) - haben jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse). In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr, sondern auch dann anwendbar, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind, jedenfalls dann, wenn die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 66 und 105). Für die Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob entsprechende Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 175).
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b) Der gebotenen Gefahrenprognose ist eine gemeinsame Rückkehr sämtlicher Kläger als Familie zugrunde zu legen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 15 ff.; U.v. 4.7.2019 - 1 C 49/18 - juris Rn. 11 ff.; BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 22 ff. und U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 18 ff.). In die Prognose sind nicht nur die Kläger zu 1) und 2) als Eltern mit ihren minderjährigen Kindern, den Klägern zu 4) bis 6), sondern auch die inzwischen volljährige Tochter, die Klägerin zu 3), einzubeziehen. Zwar sind volljährige Personen nicht ohne weiteres mehr Teil der gelebten Kernfamilie, auf die sich die Hypothese einer realitätsnahen Rückkehrsituation grundsätzlich beschränkt. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie rechtfertigen für sich allein nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose. Im konkreten Fall ist allerdings dennoch die Rückkehr auch der Klägerin zu 3) zu berücksichtigen. Sie ist erst seit kurzem volljährig, lebt seit jeher und auch noch gegenwärtig in der gemeinsamen Unterkunft mit ihren Eltern und Geschwistern und hat überdies keinen Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutzstatus (der Bescheid des Bundesamts ist mit der Klagerücknahme bestandskräftig geworden, weil die Klagerücknahme das Verfahren beendet) und ebenso wenig einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
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c) Für die Beurteilung, ob den Klägern als Familie eine entsprechende Gefahr droht, ist daher die Frage zu beantworten, ob diese sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wirtschaftlich unterhalten können. Die Frage ist im konkreten Fall zu verneinen. Die Verbürgungen der EMRK begründen im vorliegenden Fall der Kläger wegen der Umstände des Einzelfalls ein Abschiebungsverbot, obwohl wegen schlechter sozio-ökonomischer und humanitärer Verhältnisse im Bestimmungsland nur in ganz außergewöhnlichen Fällen eine Verletzung von Art. 3 EMRK angenommen werden kann (vgl. VGH BW, U.v. 17.7.2019 - A 9 S 1566/18 - juris Rn. 28). Die vorliegend gefahrerhöhenden individuellen Umstände (vgl. zu dieser Anforderung VGH BW, U.v. 24.1.2018 - A 11 S 1265/17 - juris Rn. 149; VGH BW, U.v. 17.7.2019 - A 9 S 1566/18 - juris Rn. 47; VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris Rn. 53), gründen in der (mit Ausnahme der Klägerin zu 5) schlechten gesundheitlichen Verfassung der einzelnen Familienmitglieder, die es in einer Gesamtbetrachtung ausreichend wahrscheinlich erscheinen lässt, dass im Falle der Abschiebung der Kläger in die Region Kirkuk mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang käme, in dem diese zeitnah verelenden würden und schweren bleibenden körperlichen und psychischen Leiden ausgesetzt wären. Es kann daher wegen des einheitlichen Streitgegenstands offenbleiben, ob einzelne Mitglieder der Kernfamilie (zugleich) einen Anspruch auf Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG haben.
Der Kläger zu 1) war überwiegend als Landwirt tätig und hat nun einen diagnostizierten Meniskusschaden, der ihn jedenfalls gegenwärtig darin hindert, körperliche Arbeit in nennenswertem Umfang zu verrichten, wie sie aber in der Landwirtschaft - und sei es nur im Rahmen von Hilfstätigkeiten - erforderlich ist. Er ist nach seiner glaubhaften Aussage in der mündlichen Verhandlung, die durch die vorgelegten Atteste gestützt wird, zur Fortbewegung teilweise sogar auf die Benutzung von Krücken angewiesen. Er wird daher schon kaum in der Lage sein, sich selbst wirtschaftlich zu unterhalten, geschweige denn seine (Kern-)Familie. Die Klägerin zu 2) ist - ungeachtet des zumindest für die Kläger zu 5) und zu 6) noch bestehenden (bei letztgenanntem Kläger durch seine Erkrankung wiederum erhöhten) Betreuungsbedarfs - jedenfalls aufgrund ihrer psychischen und körperlichen Leiden nicht in der Lage, einen Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten. Insbesondere der fundierte psychologisch-psychotherapeutische und fachärztlich-psychiatrische Befundbericht von Refugio München vom 24. Oktober 2019 bestätigt den auch in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck einer wenig leistungsfähigen Person. Der Bericht weist ausdrücklich darauf hin, dass die Klägerin zu 2) auf die Unterstützung des Klägers zu 1) angewiesen ist. Folglich kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass sie den Kläger zu 1) bei dessen beschränkt möglichen Erwirtschaftungsbemühungen unterstützen kann. Eine nachhaltige und quantitativ relevante Unterstützung durch die minderjährigen Kinder ist ebenfalls nicht anzunehmen, auch nicht durch den immerhin dreizehnjährigen Kläger zu 4). Hinzukommt, dass auch dieser psychisch und in seinem Sozialverhalten beeinträchtigt ist. Schließlich kann auch die volljährige Tochter, die Klägerin zu 3), keine Unterstützungsleistung erbringen, die das wirtschaftliche Überleben der Gesamtfamilie im Zusammenspiel mit den Erwerbsmöglichkeiten des Klägers zu 1) in ausreichender Weise sichern kann. Abgesehen davon, dass eine Erwerbstätigkeit von Frauen außerhalb der Familie im Irak nicht ohne weiteres möglich ist, ist jedenfalls angesichts der bereits beschriebenen psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin zu 3) - erreichen sie auch nicht das für die Feststellung eines Abschiebverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG notwendige Niveau -, nicht zu erwarten, dass sie die festgestellten Versorgungsdefizite der Kläger zu 1) und zu 2) in ausreichendem Maße kompensieren kann. Denn auch ohne ausreichenden Krankheitswert war in der mündlichen Verhandlung die Instabilität der Klägerin zu 3) deutlich zu erkennen. Schließlich verfügen die Kläger im Irak auch nicht mehr über nennenswerte Familienstrukturen, deren Kräfte die zu erwartenden Versorgungslücken kompensieren könnten. In Betrachtung aller Umstände ist daher davon auszugehen, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr einer Verletzung des Art. 3 EMRK ausgesetzt werden. Die genannten Umstände sind für die Kläger auch nicht im Rahmen einer innerstaatlichen Fluchtalternative vermeidbar.
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3. Soweit die Abschiebung in den Irak angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verfügt wurde, ist der Bescheid ebenfalls aufzuheben. Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, was nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
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4. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und trägt dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung. Die Norm ist anwendbar, wenn mehrere Streitgenossen teils unterliegen und teils obsiegen. Die Beklagte obsiegt und unterliegt dann ebenfalls teils (jeweils im Verhältnis zu den jeweiligen Klägern). Es ist daher erforderlich, zwischen den außergerichtlichen Kosten in den einzelnen Prozessrechtverhältnissen zu unterscheiden (vgl. Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 155 Rn. 42 ff.; zur Drittel-Quote der jeweiligen Anträge vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 83b AsylG Rn. 9). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).