Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 03.09.2020 – AN 18 K 17.30328
Titel:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft -hilfsweise Gewährung subsidiären Schutzes

Normenketten:
GG Art. 16a Abs. 1, Abs. 2
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
RL 2011/95/EU Art. 8
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Trotz gelegentlich zu verzeichnender sozialer Diskriminierung in Form von Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung unterliegen Angehörige der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan keiner Gruppenverfolgung.    (Rn. 25 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für alleinstehende, erwerbsfähige und gesunde junge Männer besteht im Fall der Rückkehr nach Afghanistan im Regelfall selbst dann keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung, wenn diese weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen verfügen. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Keine Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan, Keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr für einen inzwischen volljährigen jungen Mann aufgrund eines im Kindes- oder Jugendalter erlittenen Missbrauchs als Tanzjunge („Bacha Bazi"), Interne Schutzmöglichkeit i.S.d. § 3e AsylG in den Provinzen Kabul, Herat und Balkh für einen alleinstehenden, arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann, Keine nachhaltige Beeinträchtigung der Existenzsicherungsmöglichkeit für einen alleinstehenden, arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann durch die Verbreitung des Corona-Virus und die damit einhergehenden staatlichen Beschränkungen in Afghanistan, Keine ersthafte und individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson durch das in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh und Ghazni vorherrschende Gewaltniveau, Kein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG aufgrund der Ausbreitung des Corona-Virus in Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Afghanistan, Bacha Bazı, Gruppenverfolgung, Asylberechtigter, Taliban, Tanzjunge, COVID-19
Fundstelle:
BeckRS 2020, 30754

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Anerkennung als Asylberechtigter bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.
2
Der … 1997 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volk der Hazara sowie schiitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 15. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 10. März 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für ...
3
Die persönliche Anhörung des Klägers durch das Bundesamt erfolgte am 23. November 2016. Zu seinen Fluchtgründen führte der Kläger aus, seine Familie habe ursprünglich in der Provinz Bamyan gelebt, wo der Vater von den Taliban umgebracht worden sei. Anschließend sei er mit der Mutter und dem Bruder in das Dorf … … im Distrikt … in der Provinz Ghazni umgezogen. Dort habe er die Schule bis zur sechsten Klasse besucht und zusammen mit seinem Bruder in der Landwirtschaft gearbeitet. Als Hazara hätten sie es nicht leicht gehabt. Etwa zwei Jahre lang seien die beiden Brüder sowohl auf dem Schulweg als auch zu Hause immer wieder von den Taliban angesprochen und dazu aufgefordert worden, mit diesen zu kämpfen. Als die Wahl einer neuen Regierung angestanden habe, sei der Bruder des Klägers, der wahlberechtigt gewesen sei, auf dem Weg zu einem Wahllokal von den Taliban abgefangen worden, die ihm vier Finger der rechten Hand abgeschnitten hätten. Nach diesem Vorfall hätten die Taliban den Kläger und seinen Bruder nicht mehr in Ruhe gelassen und als Kämpfer anwerben wollen. Zwei Nächte nach der letztmaligen Bedrohung durch die Taliban sei die Familie schließlich in den Iran ausgereist. Dort habe der Kläger über zwei Jahre lang auf Baustellen gearbeitet und auf diese Weise das Geld für eine Ausreise nach Deutschland - 20 Mio. Toman - erwirtschaften können. Am 15. Juli 2015 habe er den Iran verlassen. Seine Mutter, sein Bruder sowie ein Onkel väterlicherseits seien noch immer im Iran ansässig. Es würden außerdem zwei Onkel sowie zwei Tanten mütterlicherseits in Afghanistan leben, zu denen jedoch kein Kontakt bestehe.
4
Mit Bescheid des Bundesamts für ... vom 23. Januar 2017 - Geschäftszeichen: … -, welcher dem Kläger am 24. Januar 2017 zugestellt wurde, lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziffer 4) und drohte dem Kläger unter Setzung eine Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). In Ziffer 6 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
5
Die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft seien nicht gegeben. Soweit der Kläger darauf verweise, von den Taliban angesprochen worden zu sein, um mit diesen zu kämpfen, fehle es an einer Verknüpfung mit den Verfolgungsgründen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Auch aus der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara folge nicht die Gefahr einer landesweiten Verfolgung, zumal der Kläger nicht vorgetragen habe, deshalb bereits konkret verfolgt worden zu sein. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor; insbesondere könne für keine der afghanischen Provinzen ein genereller Gefährdungsgrad für Zivilpersonen angenommen werden, der die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr alleine aufgrund einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet rechtfertige, zumal im Fall des Klägers keine besonderen gefahrerhöhenden Umstände erkennbar seien. Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben, denn der Kläger sei als volljähriger und gesunder junger Mann ohne Unterhaltslasten im Fall einer Rückkehr auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt dazu in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten zumindest ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren.
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Gegen den Bescheid der Beklagten ließ der Kläger am 26. Januar 2017 Klage vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erheben.
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Zur Begründung wird ausgeführt, die Volksgruppe der Hazara, welcher der Kläger angehöre, werde von den Paschtunen und Tadschiken, aber auch durch die Taliban, bis hin zu Massakern mit vielen Toten diskriminiert und unterdrückt. Der Kläger habe zudem die politische Überzeugung besessen, bei Erreichen des Wahlalters an allgemeinen demokratischen Wahlen in Afghanistan teilzunehmen und seine Stimme seinem Willen entsprechend abgeben zu können. Solches aber sei durch die Taliban verhindert worden. Wie das Schicksal des Bruders des Klägers zeige, hätten die Taliban zur Wahl bereiten Personen als deutliches Zeichen der Ablehnung von Wahlen erhebliche Verletzungen zugefügt, die als Warnung und Bestrafung sowie dazu gedient hätten, die betreffende Person auf Dauer vom Wählen abzuhalten. Der Kläger selbst sei durch die Taliban verfolgt worden, als diese von ihm verlangt hätten, mit ihnen zu kämpfen und sich ihrer Organisation anzuschließen; dies habe nicht der politischen Überzeugung des Klägers entsprochen, der für demokratische Verhältnisse eintrete und kämpferischen Aktionismus sowie Terrorismus voll und ganz ablehne. Seit dem Abzug der alliierten Truppen aus Afghanistan hätten die Präsenz, der Einfluss und die Gewaltbereitschaft der Taliban - insbesondere im Großraum Kabul - stark zugenommen. Die Taliban würden dort gewissermaßen „staatliche Hoheitsmacht“ ausüben und die männliche Bevölkerung zum Kampf zwingen. Es stehe daher zu erwarten, dass den Taliban selbst der bloße Aufenthalt des Klägers in Kabul bekannt würde, was für diesen lebensgefährlich sei. Hinzu komme, dass sich der Kläger während seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland auf die westeuropäische Lebensweise eingestellt habe und als „verwestlicht“ wahrgenommene Person ohne Bezug zu Afghanistan dort in besonderem Maße gefährdet sei.
8
Im Übrigen stünden humanitäre Gesichtspunkte einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan entgegen. Angesichts der Verschlechterungen in der jüngeren Vergangenheit lägen in Afghanistan außergewöhnlich schlechte humanitäre Bedingungen vor, aufgrund derer ausnahmsweise auch für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann eine reale Gefahr bestehe, dass er weder in noch an anderen Orten dazu in der Lage sein werde, auf legalem Wege seine elementaren Bedürfnisse nach Nahrung und Unterkunft zu befriedigen. Dies gelte umso mehr, als es im Fall des Klägers an einem leistungsfähigen Netzwerk in Afghanistan, an nachhaltiger Unterstützung aus dem Ausland oder an einem nennenswerten Vermögen fehle. Der Tagelöhnermarkt, auf den der Kläger deshalb angewiesen sei, stehe schon seit längerem durch die Millionen von Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan sowie durch zahlreiche Binnenvertriebene massiv unter Druck. Durch die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie sei der Tagelöhnermarkt zudem stark eingebrochen, während die Kosten für Lebensmittel deutlich gestiegen seien. Die Corona-Pandemie habe Afghanistan stark im Griff; die Infektionszahlen seien sehr hoch. Vor diesem Hintergrund bestehe aktuell auch eine Reisewarnung für Afghanistan.
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Es wird daher beantragt,
dem Kläger Asyl- bzw. Flüchtlingsschutz zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
11
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre Ausführungen in dem streitgegenständlichen Bescheid.
12
Mit Beschluss vom 9. Juli 2020 hat die Kammer die Verwaltungsstreitsache dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
13
Der Einzelrichter hat am 28. August 2020 mündlich verhandelt und den Kläger ergänzend zu seinem Asylvorbringen angehört. Wegen der näheren Einzelheiten wird insoweit auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die in elektronischer Form vorgelegte Behördenakte sowie hinsichtlich der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan auf die aktuelle Auskunftsliste - Stand: Juli 2020 - und den Erkenntnismittelzusatz zur COVID-19-Pandemie - Stand: 26. August 2020 - Bezug genommen, die insgesamt auch Gegenstand der Entscheidung sind.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter konnte die Verwaltungsstreitsache gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Nichterscheinens eines Vertreters der Beklagten, die unter Hinweis auf diese Möglichkeit ordnungsgemäß und fristgerecht geladen worden war, verhandeln und entscheiden.
16
Die zulässige Klage bleibt in der Sache erfolglos.
I.
17
Die Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts für ... vom 23. Januar 2017 erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Insbesondere steht dem Kläger zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 28. August 2020 weder ein Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a GG bzw. auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder auf die Feststellung der nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. Zu Recht ergangen sind außerdem die in Ziffer 5 des Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung sowie das in Ziffer 6 enthaltene Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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Zur Vermeidung von Wiederholungen wird an dieser Stelle gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen. Ergänzend ist - auch im Hinblick auf das klägerische Vorbringen in der mündlichen Verhandlung und die sich zu diesem Zeitpunkt ergebende aktuelle Auskunftslage für Afghanistan - wie folgt auszuführen:
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1. Auf das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG kann sich der Kläger bereits deshalb nicht berufen, weil er eigenen Angaben zufolge über den Landweg, unter anderem über den EU- Mitgliedstaat Griechenland, und mithin über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 Alt. 1 AsylG.
21
Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 19). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 Rn. 32; U.v. 4.7.2019 - 1 C 31.18 - juris Rn. 16).
22
Eine derart begründete Furcht vor Verfolgung kann sich namentlich aufgrund einer in dem Heimatland bereits erlittenen Vorverfolgung ergeben. Der Ausländer wird insoweit durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert; danach ist die Tatsache, dass ein Schutzsuchender bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Dabei muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des von dem Ausländer behaupteten individuellen Vorverfolgungsschicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor erneuter Verfolgung herleitet, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Wegen der hinsichtlich der Geschehnisse im Herkunftsland häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten kann schon alleine der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180/182; B.v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 - juris Rn. 3).
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Eine im diesem Sinne begründete Furcht vor flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung kann nach der gerichtlichen Überzeugungsbildung aus dem klägerischen Vorbringen nicht hergeleitet werden. Die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer (Gruppen-)Verfolgung droht dem Kläger zunächst nicht bereits deshalb, weil er der Volksgruppe der Hazara angehört. In Bezug auf den in der mündlichen Verhandlung außerdem geltend gemachten sexuellen Missbrauch als sog. Tanzjunge durch Mitglieder der Taliban bestehen mit Blick auf die zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit des Klägers jedenfalls stichhaltige Gründe, die nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Wiederholungsträchtigkeit einer derartigen Vorverfolgung entkräften. Soweit sich der Kläger schließlich darauf beruft, in seinem vormaligen Wohnort … … mehrfach durch die örtliche Taliban-Gruppierung - teils unter Gewaltanwendung und zuletzt unter Inaussichtstellung einer konkreten Todesdrohung - dazu aufgefordert worden zu sein, sich dieser als Kämpfer anzuschließen, kann er sich einer derartigen Bedrohungslage jedenfalls durch die zumutbare Inanspruchnahme internen Verfolgungsschutzes entziehen.
24
a) Alleine aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara besteht für den Kläger keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr wegen seiner Rasse bzw. ethnischen Zugehörigkeit im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Insbesondere droht den Angehörigen dieser Volksgruppe nach aktueller Erkenntnislage für Afghanistan keine flüchtlingsrechtlich relevante Gruppenverfolgung.
25
Zwar kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Die Annahme einer solchen Gruppenverfolgung setzt grundsätzlich eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich nicht mehr um nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - juris Rn. 13; U.v. 1.2.2007 - 1 C 24.06 - juris Rn. 7).
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Für die Volksgruppe der Hazara, welcher der Kläger angehört, ist eine solche Gruppenverfolgung jedoch nicht feststellbar. Insbesondere kann nicht von einer Verfolgung der gesamten Volksgruppe ausgegangen werden. In Afghanistan stellen die Hazara mit einem Anteil von etwa 10% der Gesamtbevölkerung eine Minderheit von landesweit etwa 3 Mio. Menschen dar, die zu rund 90% der schiitischen Konfession angehören. Sie leben hauptsächlich in den westlichen (bis hinein nach Nordafghanistan) und zentralen Provinzen des Landes (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 8). Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert. Auch wenn mitunter weiterhin eine soziale Diskriminierung in Form von Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung zu verzeichnen ist, genießt die traditionell marginalisierte schiitische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (vgl. Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 277). So bekleiden Hazara inzwischen mitunter prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, obgleich sie in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 8). Im Durchschnitt sind die Hazara beispielsweise mit etwa 10% in der afghanischen Armee und der afghanischen Polizei vertreten (vgl. Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 278).
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Eine Gruppenverfolgung der Hazara kann im Übrigen nicht etwa deshalb angenommen werden, weil diese Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden. Zwar sind immer wieder Anschläge auf schiitische Einrichtungen zu verzeichnen, was wiederum zur Folge hat, dass oftmals auch die überwiegend dieser Konfession zugehörigen Hazara davon betroffen sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 8). Selbst vor diesem Hintergrund kann jedoch keine über eine nur latente oder potentiell bestehende Gefährdungslage hinausgehende Bedrohung angenommen werden, die die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Volksgruppe der Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Anschlägen getroffen würde. In vielen Fällen kann nämlich gerade nicht ausgeschlossen werden, dass kriminelles Unrecht lediglich zufällig zum Nachteil der Hazara wirkt oder diese aufgrund erhöhter Reisetätigkeit bzw. des überwiegenden Wohnens in den Stadtzentren betroffen sind (ebenso OVG NRW, U.v. 13.6.2019 - 13 A 3741/18.A - juris Rn. 167; VGH BW, U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 139).
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Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die Frage nach einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan bereits mehrfach Gegenstand der obergerichtlichen Rechtsprechung war und von dieser abgelehnt wurde (aus neuerer Zeit etwa: BayVGH, B.v. 24.2.2020 - 13a ZB 18.32368 - juris Rn. 11; B.v. 14.8.2017 - 13a ZB 17.30807 - juris Rn. 17; B.v 20.1.2017 - 13a ZB 16.30996 - juris Rn. 11 f.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 75; VGH BW, U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 77 ff.; U.v. 5.12.2017 - A 11 S 1144/17 - juris Rn. 54 ff.). Die Verneinung einer Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan entspricht im Übrigen der ständigen Rechtsprechung der Kammer (s. etwa VG Ansbach, U.v. 27.2.2020 - AN 18 K 17.30240 - juris Rn. 38 ff.; U.v. 20.1.2020 - AN 18 K 16.32583 - juris Rn. 35; U.v. 15.1.2020 - AN 18 K 17.30993 - juris Rn. 22 f.; U.v. 15.10.2019 - AN 18 K 17.30608 - juris Rn. 29 ff.; U.v. 15.10.2019 - AN 18 K 17.35413 - juris Rn. 38 ff.).
29
b) Auch aus dem klägerischen Vorbringen in der mündlichen Verhandlung, wonach er in dem Dorf … auf dem Schulweg des Öfteren durch Mitglieder der Taliban aufgegriffen und als Tanzjunge (sog. „Bacha Bazi“) verpflichtet worden sei, kann zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aufgrund der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit des Klägers nicht mehr auf eine begründete Furcht vor Verfolgung geschlossen werden.
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Insoweit kann dahinstehen, ob sich aus den Schilderungen des Klägers eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung als Tanzjunge („Bacha Bazi“) ergibt. Zwar stellt der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die als sog. Tanzjungen sexuellem Missbrauch und dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind, in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem dar (Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 305). Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 31.5.2018, S. 13). Zur Überzeugung des Einzelrichters kann deshalb aber - selbst bei Wahrunterstellung einer derartigen Vorverfolgung - für den Fall einer Rückkehr nicht (mehr) auf die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer erneuten Verfolgung des inzwischen volljährigen Klägers als Tanzjunge geschlossen werden (s. dazu auch VG München, U.v. 27.3.2013 - M 12 K 12.30368 - juris Rn. 30). Der zum Zeitpunkt der geschilderten Vorfälle etwa 15 bis 16 Jahre alte Kläger hat nunmehr ein Lebensalter von 23 Jahren erreicht und verfügt - wie sich in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat - zudem über ein erwachsenes Erscheinungsbild, so dass er nicht mehr der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen zuzurechnen ist und damit unter Berücksichtigung der Auskunftslage nicht mehr dem Opferkreis der „Bacha Bazi“-Praxis unterfällt. Die hiervon betroffenen Knaben sind üblicherweise zwischen zehn und 18 Jahren alt und werden weggegeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartwuchses aufweisen (vgl. Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 306).
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Von einer begründeten Furcht vor Verfolgung ist in diesem Zusammenhang schließlich nicht etwa deshalb auszugehen, weil missbrauchte Jungen und ihre Familien - wie den Erkenntnismitteln zu entnehmen ist - oftmals von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert werden (vgl. dazu Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 12). Es wird hierin nämlich in der Regel schon keine Verfolgungshandlung erblickt werden können, weil damit allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG einhergehen wird. Dass auch der Kläger eine derartige soziale Ausgrenzung zu befürchten hätte, vermag das Gericht indessen nicht zu erkennen. Zum einen ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass die Verpflichtung des Klägers als Tanzjunge durch Angehörige der Taliban in dem Dorf … überhaupt publik geworden wäre. Zum anderen soll es nach den klägerischen Angaben in der mündlichen Verhandlung überhaupt nicht zur Vornahme sexueller Handlungen gekommen sein. Vielmehr habe der Kläger, wenn ihn die Taliban hätten vergewaltigen wollen, angefangen, zu schreien und sich zu wehren, bis diese von ihm abgelassen und ihn anschließend wieder freigelassen hätten.
32
c) Soweit sich der Kläger schließlich darauf beruft, in seinem Heimatort … sowohl auf dem Schulweg als auch zu Hause des Öfteren durch Mitglieder der Taliban - unter Schlägen und zuletzt unter Äußerung einer konkreten Todesdrohung - dazu aufgefordert worden zu sein, sich diesen als Kämpfer anzuschließen, kann er einer derartigen Bedrohungslage jedenfalls durch die ihm zumutbare Inanspruchnahme internen Verfolgungsschutzes im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG entgehen.
33
Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes diese Voraussetzungen erfüllt, sind gemäß § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers im Sinne des Art. 4 RL 2011/95/EU zu berücksichtigen.
34
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist dem Kläger - besonders auch unter Berücksichtigung seiner Fluchtgeschichte sowie seiner sonstigen persönlichen Lebensumstände - die Inanspruchnahme inländischen Schutzes etwa in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh vernünftigerweise zuzumuten. So ermöglichen namentlich die dortigen Provinzhauptstädte Kabul, Herat und Mezar-e-Sharif dem Kläger nicht nur ein Abtauchen in die Anonymität der Großstadt, sondern halten darüber hinaus die für eine künftige Existenzsicherung notwendige Infrastruktur bereit (vgl. zum Bestehen einer internen Schutzmöglichkeit in den Städten Kabul, Herat und Mezar-e-Sharif auch die ausführliche Darstellung des VGH BW, U.v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 - juris Rn. 25 ff.).
35
aa) Zur Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger in den genannten Provinzen keine begründete Furcht vor Verfolgung. Insbesondere erscheint der Kläger dort in hinreichendem Umfang vor etwaigen Übergriffen der in seinem früheren Wohnort … ansässigen Taliban-Gruppierung geschützt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass es dieser gelingen könnte, den Kläger in den genannten Provinzen und besonders in den zugehörigen Provinzhauptstädten aufzuspüren, vermag das Gericht nicht zu erkennen.
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Es ist bereits nicht ersichtlich, wie den betreffenden Talibanmitgliedern eine Rückkehr des Klägers nach Afghanistan überhaupt bekannt werden könnte. So will der Kläger sein Heimatland bereits etwa zwei Jahre vor der Einreise nach Deutschland am 15. August 2015 - also gegen Mitte des Jahres 2013 - verlassen haben und dort seither über keinerlei verwandtschaftliche oder anderweitige persönliche Kontakte mehr verfügen. Im Übrigen liegen die Provinzen Kabul, Herat bzw. Balkh jeweils mehrere Autostunden von der klägerischen Herkunftsprovinz Ghazni entfernt. Ohnehin fehlt es in Afghanistan an einem zentralen Bevölkerungsregister ebenso wie an einer Registrierung von Neuankömmlingen an deren neuem Wohnort (vgl. Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 313), so dass ein Auffinden von unbekannt verzogenen Personen in der Anonymität der Großstadt, aber auch in ländlichen Gebieten nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen möglich erscheint. Zwar mag die Vereinigung der Taliban insbesondere in den Städten über ein Netzwerk von Informanten verfügen, welches es ihnen trotz bestehender Schwierigkeiten ermöglicht, gesuchte Personen ausfindig zu machen. Den damit verbundenen Aufwand jedoch nehmen die Taliban in der Regel nur für das Auffinden besonders bedeutsamer politischer Gegner auf sich, deren Anzahl in den größeren Städten auf wenige Dutzend bis maximal 100 Personen begrenzt sein dürfte. Bei weniger bedeutsamen Personen scheint es hingegen eher unwahrscheinlich, dass diese nach einem Umzug in die Großstadt aufgespürt werden können (vgl. EASO, Afghanistan - Individuals targeted by actors in the conflict, Dezember 2017, S. 63 f.).
37
Dass es sich auch bei dem Kläger um ein derart bedeutsames Individuum handeln würde, ist indessen nicht zu ersehen. Anhaltspunkte für ein gezieltes Interesse der Taliban an der Person des Klägers oder an dessen Familie können seiner Fluchtgeschichte nicht entnommen werden. So gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, das gesamte Dorf … habe sich in der Hand der Taliban befunden; es kann mithin davon ausgegangen werden, dass die geschilderten Anwerbungsversuche der Taliban nicht auf den Kläger und seinen Bruder beschränkt waren, sondern vielmehr die Mehrheit der jungen Männer in diesem Dorf davon betroffen war. Nichts anderes gilt hinsichtlich des ebenfalls geltend gemachten Missbrauchs als Tanzjunge durch die Mitglieder der Taliban, zumal der Kläger dazu angab, auch Freunde seien hiervon betroffen gewesen und durch die Taliban vergewaltigt worden. Auf ein besonderes Interesse der Taliban an dem Kläger kann nach der gerichtlichen Überzeugungsbildung schließlich nicht deshalb geschlossen werden, weil andere Familienangehörige - konkret der Vater und der Bruder - ebenfalls von Übergriffen durch die Taliban betroffen gewesen seien. Soweit sich der Kläger darauf beruft, dass sein Vater in der Provinz Bamyan von den Taliban umgebracht worden sei, ist ein Zusammenhang mit der eigenen Inanspruchnahme des Klägers, welche sich erst nach dem Umzug der Familie in das Dorf … … in der Provinz Ghazni ereignet haben soll, nicht erkennbar. Aus der Verstümmelung des Bruders, dem die Taliban vier Finger der rechten Hand mit Steinen gebrochen und abgeschnitten hätten, als sich dieser auf dem Weg in ein Wahllokal befunden habe, kann ebenfalls nicht auf ein gesteigertes Interesse der Taliban an der Person des Klägers geschlossen werden. Selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die Familie des Klägers der örtlichen Taliban-Gruppierung deshalb in Erinnerung geblieben sein sollte, vermag das erkennende Gericht nicht nachzuvollziehen, warum sich diese deshalb auf eine gezielte Suche nach dem Kläger begeben sollte. Dies gilt schon deshalb, weil die Taliban ihr damit verfolgtes Ziel - nämlich den Bruder an einer Stimmabgabe in Zuge der nationalen Wahlen zu hindern - bereits erreicht hatten.
38
Auch sonst droht dem Kläger nach der gerichtlichen Überzeugungsbildung in den Provinzen Kabul, Herat und Balkh keine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung durch etwaige Zwangsrekrutierungsmaßnahmen von Seiten der Taliban. Der in der Klagebegründung erhobene Einwand, die Präsenz, der Einfluss und die Gewaltbereitschaft der Taliban hätten seit dem Abzug der alliierten Truppen insbesondere im Großraum Kabul zugenommen, greift insoweit deutlich zu kurz. Er lässt namentlich außer Acht, dass die für den internen Schutz besonders bedeutsamen Provinzhauptstädte Kabul, Herat und Mezar-e-Sharif weiterhin unter der Kontrolle der Regierungskräfte stehen (vgl. EASO, Afghanistan - Security Situation, Juni 2019, S. 164, 152 und 99). Überdies mangelt es den Taliban nach aktueller Erkenntnislage nicht an freiwilligen Rekruten, weshalb sie von Zwangsrekrutierungen nur in Ausnahmefällen Gebrauch machen (vgl. Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 246). Diese Einschätzung wird schließlich nicht etwa dadurch erschüttert, dass der Kläger in seinem früheren Wohnort … … wiederholt von derartigen Zwangsrekrutierungsmaßnahmen der Taliban betroffen gewesen sein will. Eine mit Blick auf etwaige Zwangsrekrutierungen der Taliban vergleichbare Gefährdungslage ist in Bezug auf die betreffenden Provinzen schon deshalb nicht gegeben, weil diese - anders als dies nach den klägerischen Angaben in dem Dorf … … der Fall gewesen sein soll - gerade nicht der (alleinigen) Herrschaftsmacht der Taliban unterstehen.
39
bb) Es ist dem Kläger weiterhin möglich, legal und sicher in die Provinzen Kabul, Herat oder Balkh bzw. deren Provinzhauptstädte zu reisen.
40
Der Kläger kann sich legal in die genannten Provinzen begeben. Allen Bürgern Afghanistans ist es grundsätzlich erlaubt, sich im gesamten Land frei zu bewegen und sich niederzulassen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 18). Zwar war diese Bewegungsfreiheit, bedingt durch die COVID-19-Pandemie, vorübergehend eingeschränkt worden. Die großen Reisebeschränkungen wurden inzwischen aber aufgehoben, so dass es der Bevölkerung nunmehr wieder möglich ist, in alle Provinzen zu reisen (vgl. Republik Österreich - BFA, Kurzinformationen der Staatendokumentation - COVID-19 Afghanistan, 29.6.2020, S. 3).
41
Ebenso kann der Kläger sicher in die betreffenden Provinzen gelangen. Für die Hauptstadt bzw. Provinz Kabul gilt dies bereits deshalb, weil die aus Deutschland veranlassten Abschiebe- bzw. Rückkehrflüge in der Regel dort enden. Doch auch die Städte Herat und Mezar-e-Sharif verfügen jeweils über internationale Flughäfen (vgl. Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 221 f.). Nach Angaben der afghanischen Zivilluftfahrtbehörde wurde der inländische Flugverkehr, der wegen der COVID-19-Pandemie vorübergehend ausgesetzt worden war, inzwischen wiederaufgenommen. So ist etwa die Fluglinie „Kam Air“ am 15. Juli 2020 zu ihren regelmäßigen Inlandsflügen in die Provinzen zurückgekehrt. Außerdem bieten die Fluglinien „Ariana Airlines“, „Kam Air“ und „Emirates Airlines“ wieder internationale Flüge von und nach Kabul an (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 27.7.2020, S. 2).
42
cc) Schließlich kann von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh niederlässt.
43
Die „Erwartung“ im Sinne des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, knüpft sowohl an objektive wie auch an subjektive Umstände an. Für die objektive Zumutbarkeit der Niederlassung sind vor allem die Sicherheit der Region und die Möglichkeit der wirtschaftlichen Existenzsicherung von Bedeutung. Dabei ist unter dem Begriff der Niederlassung ein dauerhafter Aufenthalt zu verstehen. Die subjektive Zumutbarkeit verlangt eine Prüfung der individuellen Umstände des Asylsuchenden, insbesondere von individuellen gefahrerhöhenden Umständen (vgl. zum Ganzen: Dörig/Dörig, Handbuch Migrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 19 Rn. 147).
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(1) Dem Kläger kann eine Ansiedelung in den Provinzen Kabul, Herat und Balkh zunächst im Hinblick auf die dort vorherrschende Sicherheitslage zugemutet werden. Es kann insoweit namentlich nicht von einer ernsthaften und individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgegangen werden, wie dies nach § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vorausgesetzt wird.
45
Individuell in diesem Sinne sind schädigende Eingriffe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung für Leben und Unversehrtheit ausgesetzt zu sein (EuGH, U.v. 30.1.2014 - C-285/12 - juris Rn. 30; U.v. 17.2.2009 - C-465/07 - juris Rn. 35, 43). Der notwendige Grad willkürlicher Gewalt wird dabei umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH, U.v. 17.2.2009 - C-465/07 - juris Rn. 39; VGH BW, U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 193). Solche Umstände können sich beispielsweise aus dem Beruf des Schutzsuchenden - etwa als Arzt oder Journalist - sowie aus dessen religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit ergeben.
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Besondere persönliche Umstände, die auf eine derart spezifische Betroffenheit des Klägers durch den - zumindest nicht auszuschließenden - bewaffneten Konflikt in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh schließen ließen, sind nicht ersichtlich. Dies gilt zunächst unter Berücksichtigung der vorgetragenen Fluchtgeschichte, wonach der Kläger durch Mitglieder der Taliban-Gruppierung in seinem früheren Wohnort … … zum einen als Tanzjunge in Anspruch genommen worden und zum anderen unter Drohungen dazu aufgefordert worden sei, sich diesen als Kämpfer anzuschließen. Wie bereits dargelegt, besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die betreffende Taliban-Gruppierung von einer Rückkehr des Klägers überhaupt Kenntnis erlangen würde, geschweige denn dafür, dass diese den Aufwand einer gezielten Suche nach dem Kläger in der Anonymität der Großstädte Kabul, Herat oder Mezar-e-Sharif auf sich nehmen würde. Auch aus der Zugehörigkeit des Klägers zur Volksgruppe der Hazara folgt nichts anderes. Insbesondere kann trotz verschiedener Einzelfälle kriminellen Unrechts zulasten dieser Volksgruppe keine Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan festgestellt werden, s.o.
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Liegen demnach - wie im Fall des Klägers - gefahrerhöhende persönliche Umstände nicht vor, ist für die nach der Vorschrift notwendige Individualisierung der allgemeinen Gefahrenlage ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 19; U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33). Dieses wird durch eine quantitative Ermittlung der verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl sowie eine wertende Gesamtbetrachtung des statistischen Materials bestimmt (BVerwG, U.v. 13.2.2014 - 10 C 6.13 - juris Rn. 24; U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 22 f.). In diesem Zusammenhang geht die Rechtsprechung allerdings davon aus, dass - bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres - ein Risiko von 1:800 (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - juris Rn. 22 f.) bzw. von 1:1.000 (BVerwG, U.v. 17.11.2011 - 10 C 11.10 - juris Rn. 20 f.), verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt liegt, dass sich eine im Übrigen unterbliebene wertende Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht mehr auszuwirken vermag.
48
Das in Umsetzung dieser Rechtsprechung für die Provinzen Kabul, Herat und Balkh ermittelte Gewaltausmaß reicht indessen für die Annahme einer tatsächlichen Gefahr für den Kläger, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, nicht aus. Im Einzelnen ergeben sich nachfolgend berechnete Opferwahrscheinlichkeiten: Die Provinz Kabul verfügt über eine geschätzte Gesamteinwohnerzahl von gegenwärtig etwa 4 bis 6 Mio. Menschen (vgl. EASO, Afghanistan Security Situation, Juni 2019, S. 67). Im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2019 registrierte UNAMA dort 1.563 zivile Opfer, davon 261 Getötete und 1.302 Verletzte (UNAMA, Afghanistan - Protection of Civilians in an Armed Conflict, Februar 2020, S. 94). Das Gesamtrisiko, in der Provinz Kabul verletzt oder getötet zu werden, lag demnach im Jahr 2019 - selbst unter Zugrundelegung der geringsten Einwohnerzahl von 4 Mio. Menschen - bei etwa 0,039%. Die Provinz Herat hat derzeit etwa 1.967.180 Einwohner (vgl. EASO, Afghanistan Security Situation, Juni 2019, S. 149). Zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. Dezember 2019 erfasste UNAMA dort insgesamt 400 zivile Opfer, davon 144 Getötete und 256 Verletzte (UNAMA, Afghanistan - Protection of Civilians in an Armed Conflict, Februar 2020, S. 94). Demnach belief sich das Gesamtrisiko, in der Provinz Herat verletzt oder getötet zu werden, im Jahr 2019 auf etwa 0,041%. Die Provinz Balkh verfügt über eine Einwohnerzahl von etwa 1.442.847 Personen (vgl. EASO, Afghanistan Security Situation, Juni 2019, S. 96). Zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. Dezember 2019 verzeichnete UNAMA dort 277 zivile Opfer, darunter 108 Getötete und 169 Verletzte (UNAMA, Afghanistan - Protection of Civilians in an Armed Conflict, Februar 2020, S. 94), womit sich für die Provinz Balkh im Jahr 2019 ein Tötungs- und Verletzungsrisiko von insgesamt etwa 0,019% ergibt.
49
Mitunter aufgrund einer darin nicht abgebildeten Dunkelziffer erhobene Bedenken gegen die Aussagekraft des - auch hier zugrunde gelegten - Datenmaterials der UNAMA teilt das Gericht nicht. Zwar trifft es im Ausganspunkt zu, dass sich aufgrund der methodischen Vorgehensweise der UNAMA, die für die Aufnahme von Toten und Verletzten in die Statistik drei unabhängige und überprüfbare Quellen verlangt, zwangsläufig eine gewisse Dunkelziffer ergibt (vgl. dazu Stahlmann, ZAR 2017, 189/192 sowie Gutachten an das VG Wiesbaden v. 28.3.2018, S. 177). Für sich genommen führt diese Unschärfe aber weder zur Unbrauchbarkeit des von UNAMA ermittelten Zahlenmaterials, noch kann daraus auf ein signifikant erhöhtes Gewaltniveau in den betreffenden Provinzen geschlossen werden. Das anhand dieser Zahlen für die Provinzen Kabul, Herat bzw. Balkh ermittelte Tötungs- und Verletzungsrisiko ist mit 0,039%, 0,041% bzw. 0,019% derart niedrig, dass der durch die Rechtsprechung aufgestellte Grenzwert von 1:800 (0,125%) bzw. 1:1.000 (0,1%) auch unter Berücksichtigung eines angemessenen Sicherheitszuschlags noch nicht erreicht würde. Im Übrigen liegen wohl die tatsächlichen Einwohnerzahlen der betreffenden Provinzen ebenfalls höher, als sie in den Erkenntnismitteln angegeben sind, was im Rahmen der Vergleichsberechnung wiederum zu einer Relativierung der hinsichtlich der Opferzahlen bestehenden Dunkelziffer führt.
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(2) Eine Niederlassung in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh kann von dem Kläger ferner unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Existenzsicherung erwartet werden.
51
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 29.5.2008 - 10 C 11.07 - BVerwGE 131, 186 Rn. 32) ist dazu insbesondere erforderlich, dass der betreffende Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, dort also das Existenzminimum gewährleistet ist; fehlt es hingegen an einer solchen Existenzgrundlage, ist eine interne Schutzmöglichkeit auch dann nicht gegeben, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Ein verfolgungssicherer Ort bietet dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum in der Regel dann, wenn er dort durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann; zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können (BVerwG, U.v. 1.2.2007 - 1 C 24.06 - juris Rn. 11; B.v. 17.5.2006 - 1 B 100.05 - juris Rn. 11). Nicht mehr gesichert ist das wirtschaftliche Existenzminimum demgegenüber dann, wenn der Ausländer am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen, grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein „Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums“ (BVerwG, B.v. 21.5.2003 - 1 B 298.02 - juris Rn. 3).
52
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist das Gericht bei einer Gesamtschau aller maßgebenden tatsächlichen Umstände zu der Überzeugung gelangt, dass es dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan trotz bestehender Schwierigkeiten gelingen wird, sein Existenzminimum - erforderlichenfalls durch die Übernahme wechselnder Hilfstätigkeiten im Baugewerbe oder in der Landwirtschaft - langfristig sicherzustellen. Eine beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers durch Hunger und Verelendung bzw. ein bloßes „Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums“ ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar.
53
Das Gericht verkennt nicht, dass sich die humanitäre Lage in Afghanistan als durchaus besorgniserregend darstellt. So zählt Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Welt und belegte im Jahr 2018 Platz 168 von 189 beim Index der menschlichen Entwicklung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 6). Der Bevölkerungsanteil derjenigen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, stieg im Vergleich zu den Jahren 2011/2012 von 38,3% auf etwa 55% in den Jahren 2016/2017 (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 20). Die Arbeitslosenquote wird in den Quellen unterschiedlich eingestuft (Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 22: 11,2% im Jahr 2017; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 20: 24% im Jahr 2016/2017; Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 318: 1,9 Mio. Afghanen arbeitslos). Besonders die Städte Herat, Mezar-e-Sharif und Kabul sind außerdem durch eine große Anzahl von Binnenvertriebenen und Rückkehrern stark überlaufen (s. dazu ACCORD, Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mezar-e-Sharif und Kabul, 7.12.2018, S. 7 ff. und 16 ff.). Jahrzehntelange Konflikte machen das Land zudem anfällig für den Ausbruch von Krankheiten; das Gesundheitssystem ist fragil. Speziell im Hinblick auf die derzeit weltweit um sich greifende Corona-Pandemie mangelt es an - in Afghanistan grundsätzlich kostenfrei zur Verfügung gestellten - adäquaten Medikamenten für die Behandlung der Patienten ebenso wie an COVID-19-Testkits und an Isolations- und Behandlungseinrichtungen (vgl. dazu Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 7). Die Regierung versucht indessen, dieser Entwicklung durch Einschränkungen des öffentlichen Lebens und die Einführung verbindlicher gesundheitlicher und sozialer Distanzierungsmaßnahmen, wie etwa das obligatorische Tragen von Gesichtsmasken an öffentlichen Orten, das Einhalten eines Sicherheitsabstands von zwei Metern in der Öffentlichkeit und ein Verbot von Versammlungen mit mehr als zehn Personen, entgegenzutreten. Am 18. Juli 2020 kündigte die Regierung außerdem den Start des sog. „Dastarkhan-e-Milli-Programms“ an, auf dessen Grundlage in einer ersten Phase 86 Mio. USD und in einer zweiten Phase 158 Mio. USD zur landesweiten Versorgung von Menschen mit Nahrungsmitteln bereitgestellt werden sollen. Von Seiten der Weltbank wurde außerdem ein Zuschuss über 200 Mio. USD bewilligt, der das Land dabei unterstützen soll, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und gefährdeten Menschen und Unternehmen Hilfe zu leisten (vgl. zum Ganzen: Republik Österreich - BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation - COVID-19 Afghanistan, 21.7.2020, S. 3).
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Trotz dieser Widrigkeiten geht das Gericht weiterhin davon aus, dass für alleinstehende, erwerbsfähige und gesunde junge Männer im Fall der Rückkehr nach Afghanistan im Regelfall selbst dann keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung besteht, wenn diese weder über ein soziales Netzwerk in Afghanistan noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen verfügen. Der Einzelrichter schließt sich insoweit der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung an (aus neuerer Zeit etwa: BayVGH, U.v. 6.7.2020 - 13a B 18.32817 - juris Rn. 47; U.v. 28.11.2019 - 13a B 19.33361 - juris Rn. 18; U.v. 14.11.2019 - 13a B 19.31153 - juris Rn. 32; B.v. 3.9.2019 - 13a ZB 19.33043 - juris Rn. 6; U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 34; VGH BW, U.v. 26.6.2019 - A 11 S 2108/18 - juris Rn. 105 ff.; U.v. 11.4.2018 - A 11 S 924/17 - juris Rn. 336 ff.; OVG NRW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18.A - juris Rn. 198; B.v. 17.9.2018 - 13 A 2914/18.A - juris Rn. 23; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 55). Auch nach Einschätzung des UNHCR können alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter, die keine besonderen Gefährdungsfaktoren aufweisen, grundsätzlich ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 25).
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Gerade auch unter Einbeziehung der in der Person des Klägers begründeten Einzelfallumstände ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass es diesem bei einer Niederlassung in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh gelingen wird, sein Existenzminimum zumindest durch die Übernahme einfacher Hilfstätigkeiten - etwa auf dem Bau oder in der Landwirtschaft - sicherzustellen. In seinem Heimatland Afghanistan habe der Kläger die Schule bis zur sechsten Klasse besucht und noch während der Schulzeit zusammen mit seinem Bruder in der Landwirtschaft gearbeitet. Nach der Flucht der Familie in den Iran habe der Kläger nach eigenen Angaben über zwei Jahre lang etwa zwölf bis 13 Stunden täglich als Gehilfe auf Baustellen gearbeitet, um auf diese Weise den Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen. Er habe dadurch außerdem - mit Unterstützung seines Bruders - das Geld für seine Ausreise nach Deutschland in Höhe von 200 Mio. Toman erwirtschaften können. Es ist dem Kläger ungeachtet dieses etwa zweijährigen Iranaufenthalts noch immer möglich, sich in einer der beiden Landessprachen - nämlich in der Sprache „Dari“ - hinreichend zu verständigen (darauf ebenfalls abstellend: BayVGH, U.v. 6.7.2020 - 13a B 18.32817 - juris Rn. 47; U.v. 28.11.2019 - 13a B 19.33361 - juris Rn. 18; U.v. 14.11.2019 - 13a B 19.31153 - juris Rn. 32). Dabei ist es unerheblich, dass es der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgezogen hat, sich mit dem Dolmetscher in der iranischen Landessprache „Farsi“ zu verständigen. Von einigen wenigen Unterschieden in Vokabular und Aussprache abgesehen, sind die Sprachen „Dari“ und „Farsi“ nämlich weitgehend identisch (vgl. DER STANDARD, Keine Unterschiede zwischen „Farsi“ und „Dari“, 8.7.2011). Im Übrigen war es dem Kläger bei der Anhörung durch das Bundesamt am 23. November 2016 möglich, sich ohne Schwierigkeiten in der Sprache „Dari“ zu verständigen (s. Blatt 35 und 41 der Behördenakte). Nach der Ankunft in Deutschland habe der Kläger zunächst einen zweijährigen Deutschkurs absolviert und inzwischen nach eigenen Angaben das Sprachniveau B1 erreichen können. Außerdem habe er für ein Jahr die Berufsintegrationsklasse besucht und dabei den Mittelschulabschluss erzielen können. Anschließend sei für etwa acht Monate als Lagerarbeiter tätig gewesen. Für September 2020 plane er die Aufnahme einer Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechatroniker. Nach alledem hat der Kläger nicht nur seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, sich selbst unter prekären humanitären Bedingungen - wie diese für afghanische Flüchtlinge im Iran herrschen - ein hinreichendes Existenzminimum zu erwirtschaften. Er verfügt darüber hinaus unter Berücksichtigung seiner verschiedenen berufspraktischen Erfahrungen und seiner schulischen Ausbildung auf dem afghanischen Arbeitsmarkt zudem über eine vergleichsweise privilegierte Stellung, aus der heraus es ihm zur Überzeugung des Gerichts - insbesondere auf dem für Gelegenheitsarbeiten besonders bedeutsamen Bausektor - gelingen wird, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen und zumindest vorübergehende Anstellungen zu finden.
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Die somit für den Kläger bestehende Existenzsicherungsmöglichkeit wird auch vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Corona-Virus in Afghanistan, der damit einhergehenden staatlichen Beschränkungen des öffentlichen Lebens sowie der weiteren Anspannung der humanitären Lage keine erhebliche und dauerhafte Beeinträchtigung erfahren. Der durch die Regierung zur Eindämmung der Pandemie verfügte landesweite „Lockdown“, durch welchen unter anderem tägliche Aktivitäten, das Geschäftsleben und das gesellschaftliche Leben eingeschränkt und begrenzt werden (vgl. Republik Österreich - BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation - COVID-19 Afghanistan, 21.7.2020, S. 3), bleibt zwar offiziell weiterhin in Kraft. Jedoch werden Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona-Virus nicht länger durchgesetzt. So haben etwa staatliche Einrichtungen ihre Dienststellen wiedereröffnet und die Wiedereröffnung von privaten Geschäften und Universitäten erlaubt, sofern dort die sozialen Distanzierungsmaßnahmen eingehalten werden. Ferner wurde für den 21. August 2020 die Wiederaufnahme des Schulbetriebs - wenngleich vorerst beschränkt auf die elften und zwölften Klassen - angekündigt (vgl. zum Ganzen: OCHA, Afghanistan: C-19 Access Impediment Report, 1.7.-24.8.2020, S. 1). Als Folge der Pandemie war weiterhin ein mitunter deutlicher Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel zu verzeichnen. So stiegen zwischen dem 14. März 2020 und dem 19. August 2020 die Durchschnittspreise für Weizenmehl um 10%, für Hülsenfrüchte um 27%, für Zucker um 21%, für Speiseöl um 30% und für Reis um 17%. Besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen wie behinderte Menschen und Familien, die zur Erzielung ihres Einkommens auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen sind, wurden hierdurch hart getroffen. Geschätzte 12,4 Mio. Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Mittlerweile haben sich die Kosten für Grundnahrungsmittel wieder stabilisiert, obgleich sie noch immer über Vorkrisenniveau liegen (vgl. zum Ganzen: OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, 20.8.2020, S. 1 und 7). Verschärft wird die Situation zusätzlich durch zahlreiche Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan, deren Gesamtzahl sich zwischen Januar 2020 und Juni 2020 auf 339.742 Menschen belief (vgl. Republik Österreich - BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation - COVID-19 Afghanistan, 29.6.2020, S. 3). Zwar gehen mit alledem neue Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche sowie der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts einher. Gleichwohl wird die Unterhaltssicherung des Klägers dadurch keine nachhaltige und dauerhafte Beeinträchtigung erfahren. So können den einschlägigen Erkenntnismitteln - namentlich mit Blick auf die Verrichtung privatwirtschaftlicher Tätigkeiten und die Entwicklung der Lebensmittelpreise - bereits erste Anhaltspunkte für eine Entspannung bzw. eine Rückkehr zur Normalität entnommen werden. Soweit einzelne Beschränkungen dennoch fortbestehen sollten, bestehen schon angesichts der wirtschaftlichen Zwänge in Afghanistan keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Maßnahmen auch nach einer Rückkehr des Klägers, die unter Umständen erst in mehreren Monaten zu erwarten steht, noch immer für unbestimmte Zeit fortgelten werden.
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Zur Überbrückung einer finanziell schwierigen Anfangsphase kann der Kläger auf die Inanspruchnahme von Start- und Reintegrationshilfen, so etwa nach dem „REAG/GARP“-Programm, verwiesen werden. Dieses bietet erwachsenen Personen - im Fall der freiwilligen Rückkehr - die Organisation der Ausreise, die Übernahme der Reisekosten sowie eine einmalige Reisebeihilfe in Höhe von 200 EUR; zusätzlich stünde dem Kläger nach diesem Programm eine Starthilfe in Höhe von 1.000 EUR zur Verfügung (s. dazu die Informationsbroschüre „Freiwillige Rückkehr mit REAG/GARP“, Stand Januar 2020, abrufbar unter: https://files.returningfromgermany.de/files/200213_REAG_GARP_deutsch.pdf). Hinzu kommen ggf. weitere Leistungen nach dem Europäischen Reintegrationsprogramm („ERRIN“). Danach stehen bei einer Ankunft in Afghanistan eine Reihe von Sachleistungen zur Verfügung, wie etwa eine Abholung am Flughafen, eine Unterstützung bei der Weiterreise innerhalb des Herkunftslandes, eine vorübergehende Unterbringung und eine unter Umständen erforderliche Vermittlung zu dringender medizinischer Versorgung. Als weitere Reintegrationsmaßnahmen kommen unter anderem sozialer, juristischer und medizinischer Beistand, längerfristige Unterstützungsleistungen bei der Unterbringung, Hilfe bei der Arbeitsvermittlung sowie Existenzgründungshilfen in Betracht (s. dazu hinsichtlich Afghanistans die Informationsbroschüre „ERRIN-Reintegrationsprogramm für zurückkehrende Migranten“, abrufbar unter https://files.returningfromgermany.de/files/Country%20Leaflet_Afghanistan_DE.pdf).
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Ohne Erfolg beruft sich der Kläger in diesem Zusammenhang auf die Urteile des Verwaltungsgerichts Hannover vom 9. Juli 2020 (19 A 11909/17 - juris) und des Verwaltungsgerichts Kassel vom 24. Juni 2020 (7 K 3425/17.KS.A - n.V.). Der dort vertretene Ansatz, wonach vor dem Hintergrund der oben dargestellten zusätzlichen Anspannung der humanitären Lage im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Corana-Virus derzeit in Afghanistan so außergewöhnlich schlechte humanitäre Bedingungen vorlägen, dass ausnahmsweise auch für einen alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen jungen Mann eine reale Gefahr bestehe, dass er nicht in der Lage sein werde, sich in Afghanistan eine ausreichende Lebensgrundlage zu erwirtschaften, wenn er weder über ein leistungsfähiges und leistungsbereites familiäres Netzwerk noch über nennenswertes Vermögen verfüge (VG Hannover, U.v. 9.7.2020 - 19 A 11909/17 - juris Rn. 21; VG Kassel, U.v. 24.6.2020 - 7 K 3425/17.KS.A - UA S. 8), erscheint aus Sicht des erkennenden Gerichts in dieser Allgemeinheit nicht tragfähig. Zwar ist das Vorhandensein eines sozialen Netzwerks bzw. persönlicher Kontakte für die Arbeitssuche von erheblicher Bedeutung. Daneben können jedoch insbesondere die Fähigkeiten eines Rückkehrers, die sich dieser im Ausland angeeignet hat, eine wichtige Rolle spielen (Republik Österreich - BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Gesamtaktualisierung 13.11.2019, letzte Kurzinformation v. 18.5.2020, S. 318). Entscheidend wirkt sich weiterhin aus, inwieweit der Rückkehrer in dem heimischen Kulturkreis - der mindestens Afghanistan und den sprachlich sowie religiös-politisch verwandten Iran umfasst - sozialisiert ist und dort wirtschaftlich bzw. sozial bereits auf eigenen Beinen gestanden hat. In einem solchen Fall ist eine Durchsetzungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt bei gebotener Berücksichtigung der Folgen der COVID-19-Pandemie auch ohne das Vorhandensein eines sozialen Netzwerks zumindest dann anzunehmen, wenn der Rückkehrer bereits in der Vergangenheit unternehmerische Aktivität entfaltet hat, vielfältige erfolgreiche Erwerbstätigkeiten ausgeübt hat oder bereits erhebliche finanzielle Mittel erwirtschaften konnte (VG Hamburg, U.v. 7.8.2020 - 1 A 3562/17 - juris Rn. 60). Dies trifft auch auf den hiesigen Kläger zu. Wie bereits dargelegt, hat dieser nach dem Tod des Vaters noch während seiner Schulzeit gemeinsam mit dem Bruder in der Landwirtschaft gearbeitet und so zum Familienunterhalt beigetragen. Nachdem die Familie in den Iran umgesiedelt war, ist es dem Kläger auch dort gelungen, Anstellungen auf dem Bau zu finden und auf diese Weise nicht nur den Unterhalt seiner Familie sicherzustellen, sondern noch dazu - wenn auch mit der Unterstützung des Bruders - die notwendigen finanziellen Mittel für eine Flucht nach Europa über 200 Mio. Toman zu erwirtschaften und anzusparen.
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Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine unmenschliche Behandlung wird entgegen der Annahme der Klagebegründung schließlich nicht deshalb anzunehmen sein, weil der Kläger im Hinblick auf seinen langjährigen Aufenthalt in Deutschland bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort als „verwestlicht“ wahrgenommen würde und deshalb in besonderem Maße gefährdet sei. Zwar berichten verschiedene Quellen von einer ablehnenden Haltung gegen über Rückkehrern aus Europa, etwa in Form von Misstrauen seitens der örtlichen Gemeinschaft oder durch Behörden sowie von Übergriffen durch regierungsfeindliche Gruppierungen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 51 f.). Dem Auswärtigen Amt sind indessen keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (Lagebericht des Auswärtigen Amts, 16.7.2020, S. 25). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland erkannt und ihm deshalb zwangsläufige Nachteile - etwa bei der Suche nach einer Wohnung oder einer Arbeitsstätte - entstehen würden oder diese in der Konsequenz gar das zur Feststellung einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung notwendige Maß erreichen könnten, sind nach der gerichtlichen Überzeugungsbildung somit nicht feststellbar. Gegenteiliges ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts auch nicht aus der jüngst von Stahlmann durchgeführten Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen (Asylmagazin 2019, 276 ff.). Zum einen begegnet diese Studie durchgreifenden Bedenken hinsichtlich der Repräsentativität, des methodischen Vorgehens sowie der Validität, Belastbarkeit und Objektivität der erhobenen Daten. Zum anderen lassen die beschriebenen Fallbeispiele schon aufgrund ihrer geringen Zahl nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit den Schluss zu, dass jeder Rückkehrer oder auch nur eine weit überwiegende Zahl der vielen Rückkehrer von schwerwiegenden Folgen betroffen wäre. Erst recht nicht kann daraus geschlossen werden, dass den Betreffenden damit stets auch der Zugang zu sozialen Netzwerken, zu Wohnung und Arbeit sowie jede Art von Existenzsicherung verwehrt wäre (BayVGH, U.v. 6.7.2020 - 13a B 18.32817 - juris Rn. 66; B.v. 6.12.2019 - 13a ZB 19.34056 - juris Rn. 15; im Ergebnis ebenso zu entsprechenden Angaben Stahlmanns über konkrete Fälle abgeschobener Afghanen als gerichtliche Sachverständige: VGH BW, U.v. 26.6.2019 - A 11 S 2018/18 - juris Rn. 124 ff.; U.v. 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 - juris Rn. 207 ff.).
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3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG; es ist ihm nicht gelungen, stichhaltige Gründe für die Annahme vorzubringen, dass ihm in Afghanistan ein ernsthafter Schaden droht.
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a) Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dem Kläger ein ernsthafter Schaden durch die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe drohen würde, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG.
62
b) Auch droht dem Kläger - jedenfalls bei Inanspruchnahme einer internen Schutzmöglichkeit in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh - kein ernsthafter Schaden durch Folter bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.
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Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat; sie ist erniedrigend, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt, sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, ihren moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413 Rn. 220). Aufgrund des in § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG enthaltenen Verweises auf § 3c AsylG muss die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung außerdem von einem der dort genannten Akteure ausgehen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 6).
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Die ethnische Zugehörigkeit zum Volk der Hazara stellt keinen besonderen individuellen Umstand dar, der für den Kläger bei einer Rückkehr einen beachtlich wahrscheinlichen ernsthaften Schaden in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung mit sich brächte. Einer unter Zugrundelegung der übrigen Fluchtgeschichte ggf. zu besorgenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Mitglieder der Taliban-Gruppierung in der Ortschaft … … kann der Kläger - wie dargelegt - in wirksamer Weise durch die ihm zumutbare Inanspruchnahme internen Schutzes in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh entgehen, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG.
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Darüber hinaus vermögen ferner die in Afghanistan herrschenden schlechten humanitären Bedingungen als solche keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Klägers im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG zu begründen, weil es insoweit jedenfalls an einem nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG erforderlichen Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt. Die schlechte Versorgungslage wird vielmehr durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans, die dort herrschenden Umweltbedingungen sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der Akteure des § 3c AsylG ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Situation führen könnte; insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten, noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt (ebenso VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 73; U.v. 24.1.2018 - A 11 S 1265/17 - juris Rn. 103).
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c) Zuletzt bestehen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass dem Kläger bei einer Rückkehr ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts drohen würde, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
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Es liegen im konkreten Fall des Klägers keine besonderen persönlichen Umstände vor, die ihn in gesteigerter Weise gefährdet erscheinen ließen, s.o. Ebenso wenig genügt das Gewaltniveau in den Provinzen Kabul, Herat oder Balkh, die als interne Fluchtalternativen im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG, Art. 8 RL 2011/95/EU für die nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzustellende Gefahrenprognose zumindest dann maßgeblich wären, wenn eine Rückkehr des Klägers in die Herkunftsprovinz aufgrund der geltend gemachten Bedrohungslage durch die Taliban-Gruppierung in der Ortschaft Bande Ali nicht mehr in Betracht kommen sollte (vgl. dazu BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 14).
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Nichts anderes würde gelten, wenn man eine solche Gefährdung des Klägers durch die Taliban-Gruppierung in … … ablehnen wollte und damit der Frage nach dem Bestehen einer internen Schutzalternative auch für die nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzustellende Gefahrenprognose keine Bedeutung zukäme. Bezugspunkt für diese Gefahrenprognose wäre dann der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr, für dessen Bestimmung in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird, maßgeblich ist (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 13). Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt (VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 100; U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 202). Als Herkunftsregion des Klägers käme danach in erster Linie die Provinz Ghazni in Betracht, wo seine Familie bis zur Ausreise in den Iran in dem Ort … … ansässig war, wenngleich aufgrund der Tatsache, dass der Kläger dort inzwischen über keinerlei familiäre oder sonstige persönliche Bindungen mehr verfügt, vieles für eine - von den geltend gemachten Fluchtgründen losgelöste - nachlassende Bindung an diese Provinz sprechen mag. Letztlich bedarf die Frage nach der Bedeutung der Provinz Ghazni als Herkunftsregion des Klägers keiner weiteren Erörterung, denn auch das dort vorherrschende Gewaltniveau ist für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson nicht ausreichend. In der Provinz Ghazni leben derzeit etwa 1.315.041 Menschen (vgl. EASO, Afghanistan Security Situation, Juni 2019, S. 128). Im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2019 registrierte UNAMA dort 673 zivile Opfer, darunter 213 Getötete und 460 Verletzte (UNAMA, Afghanistan - Protection of Civilians in an Armed Conflict, Februar 2020, S. 94). Das Gesamtrisiko, in der Provinz Ghazni verletzt oder getötet zu werden, lag demnach im Jahr 2019 bei etwa 0,051% und damit deutlich unterhalb des Risikobereichs von 1:800 (0,125%) bzw. 1:1:000 (0,1%), der nach der Rechtsprechung derart weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt liegt, dass selbst bei einer im Übrigen unterbliebenen wertungsmäßigen Gesamtbetrachtung nicht mehr von einer individuellen Gefährdungslage im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgegangen werden kann.
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4. Der Kläger hat schließlich keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots. Ein solches ergibt sich in der hier zu entscheidenden Fallkonstellation weder aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK noch aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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a) Es fehlt an den Voraussetzungen für die Zuerkennung eines nationalen Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan stehen weder besondere, in seiner Person liegende Umstände noch die im Abschiebungszielstaat vorherrschende Sicherheitslage entgegen. Ein Abschiebungsverbot ergibt sich überdies nicht aufgrund der dort vorzufindenden schlechten humanitären Bedingungen, zumal der Kläger als alleinstehender, erwerbsfähiger und gesunder junger Mann mit einer schulischen Ausbildung und verschiedenen berufspraktischen Erfahrungen trotz bestehender Schwierigkeiten dazu in der Lage sein wird, bei einer Rückkehr das erforderliche Existenzminimum sicherzustellen, s.o.
71
b) Zuletzt muss im konkreten Fall des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausscheiden. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei vor allem existenzielle Gefahren durch Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie insbesondere Krankheit erfasst werden, die dem Ausländer aufgrund seiner persönlichen Situation drohen.
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Eine in diesem Sinne erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr und in der Folge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergeben sich für den Kläger insbesondere nicht mit Blick auf die gegenwärtig global und mithin auch in Afghanistan um sich greifende COVID-19-Pandemie. Es handelt sich hierbei um eine allgemeine Gefahr, die im Ausgangspunkt allen Menschen in bzw. allen Rückkehrern nach Afghanistan droht und die damit grundsätzlich nur bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen ist (ebenso VG Gelsenkirchen, U.v. 11.5.2020 - 5a K 12498/17.A - juris Rn. 88; VG Bayreuth, U.v. 26.6.2020 - B 8 K 17.32211 - juris Rn. 94).
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Nach der Rechtsprechung kann in diesen Fällen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise dann in Anspruch genommen werden, wenn der Ausländer aufgrund der im Abschiebungszielstaat herrschenden Lebensbedingungen - namentlich der dortigen wirtschaftlichen Existenzbedingungen und der damit zusammenhängenden Versorgungslage - mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Diese Gefahren müssen im konkreten Einzelfall nach Art, Ausmaß und Intensität von solchem Gewicht sein, dass sich daraus für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, wobei ein im Vergleich zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhter Maßstab anzulegen ist und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren müssen (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 38; U.v. 8.9.2011 - 10 C 10.14 - BVerwGE 140, 319 Rn. 22 f.).
74
Dass der Kläger bei einer Rückkehr durch das Corona-Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein wird, vermag das Gericht indessen nicht zu erkennen. Mit Stand vom 23. August 2020 meldete Afghanistan 37.999 bestätigte Infektionen mit dem Corona-Virus; davon waren 1.387 Personen an der Infektion verstorben, 28.180 Menschen konnten sich von dem Virus erholen. Fast 10% der bestätigten COVID-19-Fälle entfielen auf Angehörige des Gesundheitspersonals. Die meisten Todesfälle waren in der Altersgruppe der 40- bis 79-jährigen Männer zu verzeichnen, die etwa 50% der durch das Corona-Virus bedingten Todesfälle ausmachen. Neben Kabul sind vor allem die Provinzen Herat, Balkh, Kandahar und Nagarhar besonders stark durch das Virus betroffen (vgl. zum Ganzen: OCHA, Afghanistan - Stratetic Situation Report: COVID-19 Nr. 70, 23.8.2020, S. 1). Trotz alldem erscheint der Kläger selbst bei einer Rückkehr in die Provinzen Kabul, Herat oder Balkh nicht in besonderem Maße durch eine Infektion mit dem Corona-Virus, geschweige denn durch einen besonders widrigen, lebensbedrohlichen Krankheitsverlauf, gefährdet. Insbesondere leidet er weder an Vorerkrankungen, noch gehört er dem von Infektionen besonders häufig betroffenen Gesundheitspersonal an oder zählt zu der für einen tödlichen Krankheitsverlauf besonders prädestinierten Altersgruppe der 40- bis 79-jährigen Männer. Eine besondere Vulnerabilität des Klägers in Bezug auf eine Erkrankung an COVID-19 kann schließlich nicht deshalb angenommen werden, weil dieser zur Gruppe der Rückkehrer aus Europa zählt; die gegenteilige Stellungnahme Stahlmanns (Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27.3.2020) entbehrt einer hinreichenden fachlichen Unterlegung und ist darüber hinaus in der Sache nicht nachzuvollziehen. Im Gegenteil erscheinen gerade solche Personen, die in Afghanistan seit Jahren ein Dasein unterhalb des Existenzminimums fristen müssen und durch Krankheit sowie Mangelernährung gezeichnet sind, besonders anfällig für eine Corona-Infektion (vgl. Republik Österreich - BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation - COVID-19 Afghanistan, 9.4.2020, S. 1). Rückkehrer aus Europa, die sich im Allgemeinen eines guten Gesundheits- und Ernährungszustands erfreuen, erscheinen demgegenüber nicht in besonderem Maße gefährdet.
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In diesem Zusammenhang kann dem Kläger schließlich die Bezugnahme auf die aktuell bestehende Reisewarnung für Afghanistan nicht weiterhelfen. Insbesondere kommt einer solchen vom Auswärtigen Amt ausgesprochenen Reisewarnung keine Indizwirkung für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu, bei der in verfassungskonformer Auslegung dieser Regelung ein Abschiebungsverbot nach nationalem Recht anzunehmen ist (BVerwG, B.v. 27.6.2013 - 10 B 11.13 - juris Rn. 6). Die beim Erlass einer derartigen Reisewarnung zugrunde gelegten Maßstäbe zur Bewertung der Sicherheitslage sind nicht identisch mit denjenigen, anhand derer sich das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bemisst. So richtet sich die Reisewarnung - wie bereits ihrem Wortlaut („Deutsche Staatsangehörige werden aufgefordert, Afghanistan zu verlassen.“) zu entnehmen ist in erster Linie an deutsche Staatsangehörige, die nach Afghanistan reisen wollen oder sich dort aufhalten, und stellt dabei auf deren spezifische Gefährdungslage ab.
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5. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auch die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung einschließlich der damit verbundenen Zielstaatsbestimmung zu Recht ergangen. Die Abschiebungsandrohung hat ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Nach § 38 Abs. 1 AsylG hatte die Beklagte dem Kläger eine Ausreisefrist von 30 Tagen zu setzen.
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6. In rechtlicher Hinsicht ebenfalls nicht zu beanstanden ist das in Ziffer 6 des Bescheids auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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Zwar geht die Rechtsprechung davon aus, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach den Vorschriften der RL 2008/115/EG jedenfalls, soweit es an eine Abschiebung anknüpft, nicht aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung - wie sie in der zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses gültigen Regelung des § 11 Abs. 1 AufenthG a.F. enthalten war - eintreten kann, sondern es hierfür vielmehr einer behördlichen Entscheidung bedarf (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 71). Auf diese unionsrechtlichen Vorgaben hat inzwischen auch der Gesetzgeber mit einer Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG durch Gesetz vom 15. August 2019 (BGBl. I, 1294) reagiert und darin festgelegt, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot einer gesonderten Anordnung bedarf, zu der nach § 75 Nr. 12 AufenthG im Zusammenhang mit einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG das Bundesamt für ... berufen ist.
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Die damit geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer wird in unionsrechtskonformer Auslegung aber regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG gesehen werden können (BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 72). Eine solche hat die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid wirksam getroffen und in Ausübung des ihr nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eingeräumten Ermessens eine Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung vorgesehen. Spezifische Ermessensfehler, auf deren Überprüfung das Gericht an dieser Stelle gemäß § 114 Satz 1 VwGO beschränkt ist, sind insoweit nicht zu ersehen.
II.
80
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.