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VG München, Urteil v. 04.09.2020 – M 30 K 17.47394
Titel:

Erfolglose Klage auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten (Sierra Leone, Mann)

Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsatz:
Es ist davon auszugehen, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum – wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann; die aktuelle Covid-19-Pandemie ändert daran nichts. (Rn. 13 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Sierra Leone, Existenzminimumsicherung (bejaht), Abschiebungsverbote (verneint), Sierra Leone, Abschiebungsverbot, Existenzsicherung, Corona
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 29.10.2020 – 9 ZB 20.32032
Fundstelle:
BeckRS 2020, 30487

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, nach eigenen Angaben sierra-leonischer Staatsangehöriger vom Volke der Temne, stellte am 27. April 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt).
2
Der Kläger gab bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 17. August 2017 an, dass seine Eltern in den Jahren 1998/1999 verstorben seien. In seiner Heimat habe er niemanden mehr, nur die Mutter eines Freundes. Er betrachte diese als Familie, sei mit dieser aber nicht verwandt. Er sei 7 Jahre lang zur Schule gegangen; habe keinen Beruf erlernt, jedoch im Lebensmittelladen seines Vaters ausgeholfen. Ohne Familie und Verwandte sei die Situation in Sierra Leone sehr schwierig gewesen. Die Frau bei der er gewohnt habe, hätte von ihm verlangt, dass er für diese Dinge erledige. Sie gab ihm Aufgaben, die sie ihrem Sohn nie gegeben hätte. Er habe einmal auf einen hohen Mangobaum klettern müssen und sei immer wieder zum Markt geschickt worden, um Sachen zu verkaufen. Wenn er ohne großen Umsatz zurückgekommen sei, sei er von der Frau unter Druck gesetzt worden. Sie habe gedroht, ihm nichts mehr zum Essen zu geben. Der Bruder der Frau sei Polizist gewesen und habe ihn jedes Mal geschlagen, wenn er etwas Böses getan habe. Auch habe dieser gedroht ihn ins Gefängnis zu stecken. Wegen dieser Probleme habe er das Land verlassen. Er sei Mitglied einer Schubkarren-Union gewesen, welche eines Ladeneinbruchs beschuldigt worden sei. Man habe ihn und seinen Freund abgeholt und für das Desaster verantwortlich gemacht. Die Schubkarren-Union habe sie gegen Kaution aus dieser Situation herausgeholt. Gegen ihn sei dann ein Haftbefehl erlassen worden.
3
Das Bundesamt lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 25. August 2017 Gesch.-Z.: … ab. Eine Flüchtlingseigenschaft wurde nicht zuerkannt (Nr. 1), der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus wurde ebenfalls nicht zuerkannt (Nr. 3). Des Weiteren wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Nr. 4). Im Übrigen wurde die Abschiebung angedroht, (Nr. 5) und das gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führt das Bundesamt aus, dass der Antragsteller kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG sei. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Die Ausführungen des Klägers seien nicht glaubhaft. Im Übrigen stehe dem Kläger eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Bezüglich der Schilderungen des Klägers zu einer möglichen Verfolgung und Inhaftierung durch staatliche Organe, sei festzuhalten, dass diese Schilderungen weder glaubhaft seien, noch den tatsächlichen Verhältnissen im Herkunftsland entsprechen würden. Zunächst habe der Kläger überhaupt keine Angaben zum besagten Vorfall gemacht, sondern habe als Fluchtursache ausschließlich die Probleme innerhalb seiner Pflegefamilie genannt. Erst auf Nachfrage, ob er Probleme mit der Polizei oder staatlichen Institutionen gehabt hätte, habe er den Vorfall der vorübergehenden Festnahme und des Haftbefehls gegen ihn geschildert. Die klägerischen Angaben seien nicht nachvollziehbar und zweifelhaft. Völlig abwegig sei insbesondere, dass der Kläger für einen Diebstahl bzw. Einbruch lebenslänglich ins Gefängnis hätte gehen sollen, weil dies in Afrika so üblich sei. Diese Aussagen würden sich weder mit den tatsächlichen noch mit den rechtlichen Verhältnissen in Sierra Leone decken. Abschiebungsverbote legen ebenfalls nicht vor. Der Kläger sei gesund und im arbeitsfähigen Alter. Er verfüge über eine 7-jährige Schulausbildung und habe Berufserfahrungen im Verkauf gesammelt, weshalb davon auszugehen sei, dass sich dieser eine Existenz im Heimatland aufbauen könne. Auch drohe dem Kläger keine individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
4
Der Kläger ließ durch seine Prozessbevollmächtigte am … August 2017 Klage zum bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und begründete seine Klage damit, dass er bereits als junger Mann seine Eltern verloren habe und bei einer Mutter eines Freundes gewohnt habe, die ihn in jeder Hinsicht ausgenutzt hätte. Er habe für diese Arbeiten müssen und sei misshandelt und bedroht worden, wenn er sich geweigert habe die Tätigkeiten auszuführen. Im Übrigen werde er zu Unrecht beschuldigt, einen Einbruch begangen zu haben, weshalb er bei einer Rückkehr mit einer Gefängnisstrafe rechnen müsse.
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Der Kläger beantragt zuletzt,
1.
Der Bescheid der Beklagten vom 25. August 2017 mit dem Geschäftszeichen … wird aufgehoben.
2.
Die Beklagte wird verpflichtet, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
6
In der mündlichen Verhandlung vom 3. September 2020 erklärte die Klägerbevollmächtigte, dass die Klage im Übrigen zurückgenommen wird.
7
Die Beklagte äußerte sich zum Gerichtsverfahren nicht.
8
In der mündlichen Verhandlung vom 3. September 2020 erklärte der Kläger im Wesentlichen zu seinem bisherigen Vorbringen, dass die Mutter seines Freundes ihn und seinen Bruder gezwungen habe andere Personen auszurauben. Er und sein Bruder seien dabei erwischt worden. Weil Sie aber als Zeugen ausgesagt hätten, dass die Frau sie hierzu gezwungen hätte, habe man sie wieder freigelassen. Er sei dann von ihrem Bruder, einem Polizisten, mit lebenslanger Haft bedroht worden, da dieser Angst um seine Schwester gehabt habe. Die Schubkarrenunion habe ihn auf Kaution aus dem Gefängnis geholt. Sie sei der Meinung gewesen, dass die Frau das Problem gewesen sei. In Sierra Leone habe er sieben Jahre lang die Schule besucht und als Aushilfe im Lebensmittelladen seines Vaters gearbeitet. Er habe auf dem Markt Waren verkauft und mit einer Schubkarre Waren für Personen transportiert. Derzeit sei er gesund. Eine Familie habe er in Sierra Leone nicht mehr.
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Im Übrigen wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 3. September 2020 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
10
Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Anerkennung der Asylberechtigung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
II.
11
Die im Übrigen aufrechterhaltene, zulässige Klage ist unbegründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom 25. August 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da dieser zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Abschiebung nach Sierra Leone hat. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
12
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
13
1.1 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegen nicht vor. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt würde. Es wird dem Kläger trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone möglich sein, sein Existenzminimum zu sichern. Ein außergewöhnlicher Fall, wonach unter dem allgemeinen Gesichtspunkt schwieriger humanitärer Bedingungen im Herkunftsland von einer Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ abzusehen wäre, liegt nicht vor.
14
Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde. Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,1 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,2 US-Dollar (Stand Oktober 2019) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch. Die Jungendarbeitslosigkeit ist ein besonderes Problem (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 - Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 60,3% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 32,4% und der Industriesektor mit 5,2% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 - 11 A 633/05.A - juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Man geht aber davon aus, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum - wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs - erwirtschaften kann. (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 - RN 14 K 17.3514 - juris).
15
Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder - Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
16
Auch angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie liegen keine Erkenntnisse vor, dass sich die Verhältnisse in Sierra Leone derart verschlechtert haben, dass es dem Kläger unzumutbar wäre, sein Existenzminimum zu sichern.
17
Die tatsächlichen individuellen Umstände des Klägers werden es ihm daher ermöglichen, trotz dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt zu sichern. Der Kläger ist jung, gesund und erwerbsfähig. Er hat sieben Jahre lang die Schule besucht und bereits Arbeitserfahrung im Einzelhandel (Aushilfe im Lebensmittelladen und Handel auf dem Markt) sowie als Lieferant - wenngleich nur mit einer Schubkarre - sammeln können. Er spricht die Landessprache und ist mit den Gepflogenheiten des Landes vertraut. Es kann von ihm erwartet werden, sich in Sierra Leone durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit - seien es auch nur Gelegenheitsarbeiten - ein Existenzminimum aufzubauen und zu sichern.
18
Auch der Vortrag des Klägers, er werde von der Polizei gesucht, gefährdet dessen Existenzsicherung nicht.
19
Insoweit ist der klägerische Vortrag schon nicht glaubhaft. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in dem Bescheid vom 25. August 2017 wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen. Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die fehlende Glaubhaftigkeit hinsichtlich der Verfolgung durch die Polizei deutlich unter Beweis gestellt. So behauptet er nunmehr, selbst an einem Raub beteiligt zu sein, statt - wie zuvor beim Bundesamt angegeben - das ihm lediglich ein Ladendiebstahl von der Polizei zugeschrieben werde. Diesen Widerspruch vermochte der Kläger nicht hinreichend zu erklären; er begründete ihn mit der schlechten Übersetzung im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt. Auch widersprach sich der Kläger in der mündlichen Verhandlung. Zunächst erklärte er, dass er aufgrund seiner Zeugenstellung aus der Haft entlassen worden sei, um später - angesprochen auf die „Schubkarren-Union“ - zu erklären, dass ihn diese auf Kaution aus dem Gefängnis herausholen konnte.
20
Selbst wenn man die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags unterstellt, ist es dem Kläger möglich an anderen Orten in Sierra Leone unbehelligt von der Polizei zu leben (vgl. VG Regensburg, U.v. 21.1.2020 - Rn 14 K 18.31831 - juris Rn. 31; VG München, U.v. - M 30 K 17.70530 - n.v.; vgl. ferner BayVGH, B.v. - 9 ZB 20.30521 - juris Rn. 4). In Sierra Leone existiert kein ausreichendes Melderegister (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.10.2017); auch verfügt das Land über kein funktionierendes zentrales Fahndungsbuch, es besitzen lediglich jene Polizeidienststellen Informationen über vermeintliche Straftäter, gegen welche ermittelt wird (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 4.11.2019 als Antwort auf den Beweisbeschluss des VG Regensburg vom 26. April 2019 - RN 14 K 14.33993). Wie der Polizei das Auffinden des Klägers gelingen soll, vermag das Gericht trotz der verhältnismäßig geringen Landesgröße Sierra Leones nicht nachzuvollziehen. Das Gericht ist vielmehr davon überzeugt, dass die örtliche Polizei den Kläger nicht noch einige Jahre später in ganz Sierra Leone und allen größeren Städten suchen wird. Der Aufwand wäre enorm. Die im Raum stehende Straftat - Ladendiebstahl bzw. Raub - hingegen dürfte nicht von übermäßig großem (öffentlichen oder politischen) Interesse sein. Zudem ist der Polizei bereits nicht bekannt, ob sich der Kläger überhaupt in Sierra Leone aufhält.
21
1.2 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.
22
1.2.1 Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden
23
Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wie etwa eine unzureichende Versorgungslage, sind hingegen bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG, U.v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324/328; U.v. 19.11.1996 - 1 C 6/95 - BVerwGE 102, 249/258 f.; U.v. 8.12.1998 - 9 C 4/98 - BVerwGE 108, 77/80 f.; U.v. 12.7.2001 - 1 C 2/01 - BVerwGE 114, 379/382; U.v. 29.6.2010 - 10 C 10/09 - BVerwGE 137, 226/232 f.). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extreme zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2006 - 1 B 60/06 (1 C 21/06) - juris).
24
1.2.2 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger keine erheblich konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.
25
Der Kläger ist gesund. Anhaltspunkte für eine extreme Gefahrenlage für den Kläger sind nach den obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor.
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich ebenfalls nicht aufgrund der Covid-19-Pandemie. Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer - vorliegend nicht bestehenden - Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Kläger nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 - 9 ZB 14.30457 - juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 - 11 A 2468/14.A - juris Rn. 14). Bei dem Großteil der Bevölkerung verläuft eine vom Coronavirus verursachte Erkrankung in der Regel eher mild. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben ältere Personen und Personen mit Vorerkrankungen, auch wenn schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten können und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden (vgl. Steckbrief des RKI, Stand 7.8.2020, https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html). Der Kläger ist gesund und gehört zu keiner Risikogruppe.
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Darüber hinaus wird die Ausländerbehörde etwaige Veränderungen in den humanitären Verhältnissen Sierra Leones vor einer Abschiebung prüfen und ggf. berücksichtigen müssen
28
2. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung nach § 77 Abs. 2 AsylG, insbesondere hinsichtlich der Ausreisefrist von 30 Tagen und der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, Bezug genommen.
III.
29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO bzw. - soweit die Klage zurückgenommen wurde - auf § 155 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
IV.
30
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.