Titel:
Asylrelevanter Schutz wird nicht zuerkannt - Sierra Leone
Normenketten:
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 77 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
In einem Land mit einer Bevölkerung von ca. 7,5 Millionen Einwohnern bzw. einer Millionenstadt wie Freetown besteht die Möglichkeit, sich in anderen Landesteilen anzusiedeln. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylanerkennung, Abschiebung, Sierra Leone, Geheimbund, Zuerkennung, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutzstatus
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.10.2020 – 9 ZB 20.32008
Fundstelle:
BeckRS 2020, 30483
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die positive Verbescheidung seiner Asylanträge.
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Der Kläger ist nach eigenen Angaben Staatsangehöriger von Sierra Leone, vom Volk der Temne und christlichen Glaubens. Er reiste am 15. Juni 2017 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 22. Juni 2017 einen Asylantrag.
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Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für ... (Bundesamt) gab der Kläger zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen Folgendes an:
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Sein Vater sei Mitglied der Poro Society gewesen. Nachdem sein Vater gestorben sei, hätte er an dessen Stelle Mitglied des Geheimbundes werden müssen. Man habe ihm gesagt, dass er umgebracht werde, wenn er ablehne. Daraufhin sei er zurück nach Freetown geflohen und habe seinem Freund ... erzählt, dass sein Leben in Gefahr sei. Sein Freund ... habe ihn bei sich wohnen lassen und habe ihn in die Elfenbeinküste gebracht, um ein Visum für Italien zu beantragen. Ein weiterer Freund habe ihn darüber informiert, dass die Mitglieder der Geheimgesellschaft überall in der Stadt nach ihm suchen würden. Der Chef der Geheimgesellschaft sei sehr mächtig und er würde bei einer Rückkehr nach Sierra Leone sofort sterben, da er nicht Mitglied der Poro Society geworden sei.
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Mit am 13. Juni 2019 zur Post aufgegebenen Bescheid vom 12. Juni 2019 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Abschiebung nach Sierra Leone wurde angedroht (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Hiergegen hat der Kläger am 13. Juni 2019 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt zuletzt,
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1. Der Bescheid der Beklagten vom 12. Juni 2019 wird aufgehoben.
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2. Unter Aufhebung des Bescheides wird die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass bei dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft vorliegt, hilfsweise der subsidiäre Schutzstatus bei ihm vorliegt bzw. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bei ihm vorliegen.
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Zur Begründung beziehe er sich auf sein bisheriges Vorbringen.
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Die Beklagte hat die Behördenakte vorgelegt, sich jedoch in der Sache nicht geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Verwaltungsakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 2. September 2020 verwiesen. Weiter wird Bezug genommen auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisgrundlagen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes oder auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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Das Gericht ist nach dem Gesamteindruck des Verfahrens der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass das Vorbringen des Klägers vor dem Bundesamt sowie die Situation in Sierra Leone, insbesondere im Hinblick auf politische, wirtschaftliche und humanitäre Aspekte und auch die Folgen für den Kläger bei einer Rückkehr in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend dargestellt, gewürdigt und beurteilt wurden. Das Gericht nimmt daher Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids, folgt ihr und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Ergänzend wird ausgeführt:
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Abgesehen von den geschilderten Vorfällen im Rahmen der Beisetzung seines Vaters in Port Loko hat der Kläger keine weiteren asylrechtlich relevanten und konkreten Bedrohungen durch die Mitglieder des Geheimbundes vorgetragen. Dass Leute nach Freetown gekommen seien und nach ihm gefragt hätten, stellt - den Vortrag des Klägers als wahr unterstellt - jedenfalls keine hinreichende Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar. Dass die Mitglieder des Geheimbundes nach Freetown gekommen seien, um ihn zu töten, stellt sich als reine Mutmaßung des Klägers dar.
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Zudem ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger jedenfalls eine den Anforderungen des § 3e AsylG genügende Ausweichmöglichkeit innerhalb der Republik Sierra Leone, deren Staatsangehörigkeit er nach eigenem Bekunden besitzt, zur Verfügung. Der Kläger kann sich mit seiner Frau und seiner Tochter in anderen Landesteilen ansiedeln, beispielsweise in einem anderen Viertel von Freetown, in Kenema oder in Bo, wo er aufgrund der hohen Bevölkerungszahl von den Mitgliedern des Geheimbundes unentdeckt leben könnte. Der Kläger bestätigte selbst, dass ihn die Mitglieder des Geheimbundes nicht finden konnten, als er sich bei seinem Freund ... versteckt hat. Als gesundem und arbeitsfähigem Mann ist es ihm auch zuzumuten und wird es ihm möglich sein, in anderen Landesteilen die Existenz seiner dreiköpfigen Familie zu sichern. Der Kläger verfügt über eine 5-jährige Schulbildung und konnte bereits über viele Jahre hinweg in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt sichern. Es ist nicht glaubhaft, dass der Kläger im Rahmen der unterstellten Verfolgung durch Mitglieder des Geheimbundes aufgefunden werden könnte. In einem Land mit einer Bevölkerung von ca. 7,5 Millionen Einwohnern bzw. einer Millionenstadt wie Freetown (Bevölkerung ca. 1,4 Mio. Einwohner; zu beiden Zahlen vgl. https://www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/sierraleonenode/sierraleone/203484, zuletzt aufgerufen am 20. August 2020) lässt sich dies in keiner Weise nachvollziehen.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
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Aus den Angaben des Klägers lässt sich nicht erkennen, weshalb ihm ein asylrechtlich relevanter ernsthafter Schaden drohen sollte.
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Jedenfalls gilt die inländische Fluchtalternative auch hinsichtlich des subsidiären Schutzes, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG.
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3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Sierra Leone und die damit zusammenhängenden Gefahren grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Kläger drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG gegebenenfalls durch Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
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Dem Kläger ist die Rückkehr als gesundem und arbeitsfähigem Mann und einer immerhin 5 Jahre dauernden Schulbildung zumutbar. Er konnte bereits über viele Jahre hinweg in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt sichern, nach eigenen Angaben als Fußballspieler. Es war ihm auch möglich, die Kosten für seine Ausreise per Flugzeug zu finanzieren. Er kann sich ein Existenzminimum in Sierra Leone erwirtschaften - wenn auch unter Mühen und ggf. unter Rückgriff auf Subsistenzwirtschaft. Daher ist es dem Kläger zuzumuten, in seine Heimat zurückzukehren, auch wenn dies mit Schwierigkeiten verbunden sein wird.
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Dies gilt auch unter Berücksichtigung dessen, dass der Kläger auch für seine Tochter den Lebensunterhalt aufbringen müsste. Da eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 16 m.w.N.), ist davon auszugehen, dass der Kläger zusammen mit seiner Frau, die ebenfalls aus Sierra Leone stammt und mit der er auch in Deutschland zusammen lebt, und der gemeinsamen Tochter zurückkehren würde. Die Eltern üben ausweislich der dem Gericht vorgelegten Sorgerechtserklärung und der Angaben im gerichtlichen Verfahren der Tochter gemeinsam die Sorge für ihre Tochter aus. Dass der Kläger nicht jedenfalls gemeinsam mit seiner Frau den Unterhalt für die dreiköpfige Familie aufbringen könnte, ist nicht erkennbar. Nach ihren Angaben vor dem Bundesamt hat seine Frau in Sierra Leone auch bereits einfache Verkaufstätigkeiten durchgeführt.
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4. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtmäßig, da die Voraussetzungen dieser Bestimmungen vorliegen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
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5. Die Entscheidung des Bundesamts, das gesetzliche Einreise- und Aufenthalts verbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen, weist keine Rechtsfehler auf. Die Länge der Frist liegt im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Dass insoweit besondere Umstände vorlägen, die eine Verkürzung der Frist als zwingend erscheinen ließen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.