Titel:
Rechtswidrige Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt
Normenketten:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2
BayVwVfG Art. 38 Abs. 1 S. 1, Abs. 3
Leitsätze:
1. Die Behörde hat iSv § 38 Abs. 1 S. 1 BayVwVfG wirksam zugesichert, von einer Verlustfeststellung abzusehen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine gem. Art. 38 Abs. 3 BayVwVfG beachtliche Änderung der Sachlage in dem Sinne, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse unter Zugrundelegung eines objektiven Maßstabs nachträglich anders darstellen als zum Zeitpunkt der Erteilung der Zusicherung, ist nicht feststellbar. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, Zusage der Behörde, eine Verlustfeststellung zu unterlassen (Zusicherung), verbindliche Selbstverpflichtung der Behörde, Ermittlung des Inhalts der behördlichen Erklärung, objektive Würdigung aller Umstände, (keine) Rücknahme der Zusicherung, beachtliche Änderung der Sachlage (hier: verneint), Verlustfeststellung, Zusicherung, Rücknahme, Widerruf, keine beachtliche Änderung der Sachlage, Recht auf Einreise und Aufenthalt
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 10.12.2019 – M 4 K 18.5978
Fundstelle:
BeckRS 2020, 30355
Tenor
I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. Dezember 2019 und der Bescheid des Beklagten vom 6. November 2018 (in der Fassung der Ergänzung vom 12. Oktober 2020) werden aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Beklagten, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU verloren habe, die Untersagung der Wiedereinreise und des Aufenthalts im Bundesgebiet für die Dauer von drei Jahren (ab Ausreise) sowie die damit verbundene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.
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Der am 16. Juli 1961 geborene Kläger ist griechischer Staatsangehöriger. Nach jeweils kurzen Besuchsaufenthalten bei seinen bereits in Deutschland lebenden Eltern in den Jahren 1986 und 1988 reiste er im Oktober 1989 erneut ins Bundesgebiet ein und erhielt am 13. Januar 1990 eine auf fünf Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis, die am 12. Januar 1995 bis 11. Januar 2000 verlängert wurde. Am 11. Januar 2000 erteilte ihm die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt M. eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
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Der Kläger war in erster Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet (Eheschließung: 21.1.1997, Trennung: 21.11.1998, Ehescheidung: 4.7.2002). Am 23. Januar 1997 wurde die gemeinsame Tochter S. geboren, die die deutsche und griechische Staatsangehörigkeit besitzt. Am 17. April 2004 heiratete er die in Deutschland lebende rumänische Staatsangehörige G.-E. Aus dieser Ehe gingen der am 16. Mai 2005 geborene Sohn A. und die am 1. April 2007 geborene Tochter A. hervor, die beide die deutsche, griechische und rumänische Staatsangehörigkeit besitzen. Am 25. August 2009 trennte sich die zweite Ehefrau vom Kläger, am 24. November 2010 wurde die Ehe vor dem Amtsgericht F. geschieden.
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Mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München II vom 30. April 2012 wurde der Kläger wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und der vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger am 8. Oktober 2008 und am Abend eines nicht mehr näher feststellbaren Tages im August 2009 seine zweite Ehefrau jeweils im Beisein der schlafenden Kinder im Schlafzimmer der gemeinsamen Wohnung gewaltsam zum vaginalen Geschlechtsverkehr gezwungen und am 25. August 2009 mit der Faust auf den rechten Unterarm geschlagen hatte. Vom Vorwurf der Vergewaltigung zum Nachteil seiner ersten Ehefrau am Abend des 9. Mai 1996 wurde der Kläger freigesprochen, da die (festgestellte) Erzwingung des ehelichen Beischlafs zur Tatzeit den Tatbestand der Nötigung (§ 240 Abs. 1 StGB), aber nicht den Tatbestand des § 177 StGB erfüllte und daher diesbezüglich wegen Verfolgungsverjährung eine Strafe nicht mehr verhängt werden konnte.
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Während der Vollstreckung der Freiheitsstrafe teilte die nunmehr zuständige Ausländerbehörde des Beklagten mit Schreiben vom 2. September 2013 und 3. September 2013 jeweils auf Anfrage der Justizvollzugsanstalt bzw. der Staatsanwaltschaft München II mit, dass gegen den Kläger aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht beabsichtigt seien. Auf eine entsprechende schriftliche Anfrage des Klägers teilte die Ausländerbehörde diesem mit Schreiben vom 10. März 2015 Folgendes mit: „Beiliegend erhalten Sie, wie in Ihrem Schreiben vom 24. März 2015 gewünscht, einen Abdruck unseres Schreibens an die Staatsanwaltschaft München II vom 3. September 2013, in welchem wir dieser mitgeteilt haben, dass wir von einer Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Ausweisung bzw. Verlust des EU-Freizügigkeitsrechts) absehen werden.“
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Nach vorheriger Anhörung des Klägers stellte der Beklagte mit Bescheid vom 6. November 2018 fest, dass dieser sein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verloren habe, untersagte ihm die Wiedereinreise und den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland für drei Jahre (ab Ausreise), forderte ihn zur Ausreise innerhalb eines Monats ab Haftentlassung auf und drohte ihm die Abschiebung nach Griechenland an. Die Verlustfeststellung werde auf § 6 Abs. 1, 2 und 5 i.V.m. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gestützt. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit lägen vor, da der Kläger wegen Vergewaltigung in zwei Fällen und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, diese Straftaten ein hochrangiges Rechtsgut beträfen und dem Bereich der Schwerstkriminalität zuzuordnen seien.
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Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage des Klägers hat das Verwaltungsgericht abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1, 2 und 5 FreizügG/EU sei rechtmäßig. Bei den Schreiben des Beklagten an die Justizvollzugsanstalt und die Staatsanwaltschaft vom 2. bzw. 3. September 2013 sowie an den Kläger vom 10. März 2015 handle es sich nicht um eine dieser Verfügung entgegenstehende Zusicherung im Sinne des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG. Erstere beiden Schreiben enthielten schon keine rechtsverbindliche Erklärung gegenüber dem Kläger, sondern stellten nur die Beantwortung entsprechender Anfragen dar. Auch in dem an den Kläger gerichteten Schreiben vom 10. März 2015 sei keine Selbstverpflichtung des Beklagten zu sehen, auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu verzichten. Die der Verurteilung vom 30. April 2012 zugrundeliegenden Umstände ließen ein persönliches Verhalten des Klägers erkennen, das sowohl eine schwerwiegende gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinne von § 6 Abs. 4 FreizügG/EU als auch eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Die Gefahr, dass der Kläger entsprechende Taten in einer neuen Beziehung wieder begehe, bestehe unvermindert fort. Der Kläger habe sich bisher geweigert, sich mit seinen Straftaten und den Folgen für die Opfer auseinanderzusetzen und an seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur therapeutisch zu arbeiten. Selbst wenn man zu seinen Gunsten davon ausgehe, dass er den besonderen Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU in Anspruch nehmen könne, weil die Freiheitsstrafe die Kontinuität seines Aufenthalts nicht unterbrochen habe, lägen mit Blick auf das Strafmaß sowie die Art und Schwere der begangenen Straftaten und die von ihm ausgehende gegenwärtige Gefahr zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit vor. Die nach § 6 Abs. 1 und 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung der Beklagten sei ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden.
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Mit seiner vom Senat mit Beschluss vom 30. Juli 2020 (10 ZB 20.1281) zugelassenen Berufung macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die angefochtene Verlustfeststellung sei rechtswidrig, da ihm durch die zuständige Ausländerbehörde mit Schreiben vom 10. März 2015 unter Beifügung des Schreibens an die Staatsanwaltschaft München II vom 3. September 2013 zugesichert worden sei, dass von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abgesehen werde. Aus den Behördenakten gehe klar hervor, dass die Ausländerbehörde nach der Anfrage der Staatsanwaltschaft München II die Voraussetzungen einer Verlustfeststellung ausführlich geprüft und verneint habe. Zum Zeitpunkt der behördlichen Mitteilung an die Staatsanwaltschaft München II am 3. September 2013 habe sich die Behörde bereits festgelegt, keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu ergreifen. Die Verbindlichkeit dieser Festlegung ergebe sich auch daraus, dass die Behörde eineinhalb Jahre später dem Kläger gegenüber auf seinen ausdrücklichen Wunsch mit Schreiben vom 10. März 2015 bestätigt habe, dass keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen geplant seien. Dem Verfasser dieses Schreibens habe die Verbindlichkeit dieser Mitteilung bewusst sein müssen. Die Ausländerbehörde habe sich an die Zusicherung offensichtlich auch gebunden gefühlt. Dies ergebe sich nicht zuletzt daraus, dass in der Folge nichts Anderweitiges veranlasst worden sei und sich vielmehr erst unter dem 18. April 2018 wieder ein Vermerk über eine telefonische Anfrage des Polizeipräsidiums in der Behördenakte befinde, ob man an der bisherigen Entscheidung des Verzichts auf eine Verlustfeststellung festhalte.
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das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. Dezember 2019 und den Bescheid des Beklagten vom 6. November 2018 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht habe mit überzeugenden Gründen dargelegt, warum im vorliegenden Fall keine entsprechende Zusicherung des Beklagten vorliege. Die im Schreiben an den Kläger vom 10. März 2015 gebrauchte Formulierung „wie gewünscht“ beziehe sich nach Wortlaut, Satzbau und Sachzusammenhang eindeutig auf die bloße Übersendung eines Abdrucks des Schreibens an die Staatsanwaltschaft München II vom 3. September 2013, ohne ein unter Umständen weitergehendes Anliegen des Klägers aufzunehmen. Auch habe weder ein Grund noch eine Veranlassung für eine derartige behördliche Zusicherung bestanden; angesichts der Unsicherheiten der tatsächlichen Entwicklung wäre dies auch unüblich. Selbst wenn man jedoch von einer Zusicherung ausgehen wollte, würde dies der Klage nicht zum Erfolg verhelfen, da sich aufgrund der ausführlich und überzeugend begründeten strafvollstreckungsrechtlichen Beschlüsse des Landgerichts A. vom 23. Juni 2017 (Ablehnung der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung) und vom 17. August 2018 (bzgl. einer Abkürzung der Höchstdauer der Führungsaufsicht) die Sachlage nachträglich derart geändert hätte, dass die Ausländerbehörde bei Kenntnis dieser Änderung die Zusicherung nicht gegeben hätte oder aus rechtlichen Gründen nicht hätte geben dürfen; demgemäß wäre die Behörde nach Art. 38 Abs. 3 BayVwVfG bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheids nicht mehr an die Zusicherung gebunden gewesen.
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In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof wurde die Sach- und Rechtslage mit den Parteien eingehend erörtert; auf das Sitzungsprotokoll wird Bezug genommen. Der Beklagte hat in der Sitzung die Ermessenserwägungen des streitgegenständlichen Bescheids gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Der Verlustfeststellung des Beklagten vom 6. November 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Demgemäß sind das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. Dezember 2019 und der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 6. November 2018 (in der Fassung der Ergänzung vom 12. Oktober 2020) aufzuheben.
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1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts; insoweit gilt das Gleiche wie für andere aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, die Grundlage einer Aufenthaltsbeendigung sein können (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 23.7.2020 - 10 ZB 20.1171 - juris Rn. 11).
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2. Die vom Kläger angefochtene Verlustfeststellung ist rechtswidrig, weil ihr die wirksame (2.1.) und den Beklagten im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt noch bindende (2.2.) Zusage, eine Verlustfeststellung als aufenthaltsbeendende Maßnahme zu unterlassen (Zusicherung im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG), entgegensteht. Aufgrund dieser Zusicherung, die einen entsprechenden Rechtsanspruch des Adressaten begründet (Tiedemann in BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, Stand 1.7.2020, § 38 Rn. 2) durfte der Beklagte die streitbefangene Verfügung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht (mehr) erlassen.
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2.1. Dem Verwaltungsgericht ist zwar insoweit zuzustimmen, als weder in dem vom Landratsamt F. - Ausländerbehörde - an die Justizvollzugsanstalt Landsberg gerichteten (Form-)Schreiben vom 2. September 2013, dass „aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht beabsichtigt sind“, noch dem Schreiben der Ausländerbehörde an die Staatsanwaltschaft München II vom 3. September 2013, dass gegen den Kläger „keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen beabsichtigt sind“, eine solche verbindliche Selbstverpflichtung der Behörde (Tiedemann in BeckOK VwVfG, a.a.O., § 38 Rn. 1) gegenüber dem Kläger gesehen werden kann.
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Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts stellt jedoch das an den Kläger gerichtete Schreiben des Landratsamts vom 10. März 2015 mit dem in der Anlage (in Abdruck) beigefügten Schreiben dieser Behörde an die Staatsanwaltschaft München II vom 3. September 2013 zur Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs eine wirksame Zusicherung im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG dar. Denn diese behördliche Erklärung erfüllt die Kriterien einer Zusicherung im Sinne des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG, weil darin aus der Empfängersicht (des Klägers) unter Berücksichtigung aller erkennbaren (Begleit-)Umstände bei objektiver Würdigung entsprechend den zu §§ 133,157 BGB entwickelten Maßstäben die Verbindlichkeit der Festlegung - Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen - und damit der behördliche Wille zur materiell-rechtlichen Bindung gegenüber dem Adressaten unzweifelhaft zum Ausdruck kommt (BVerwG, B.v. 14.6.2017 - 4 B 22.16 - juris Rn. 10; Müller in Huck/Müller, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl. 2020, § 38 Rn. 4). Der dafür erforderliche Selbstbindungswille der Behörde ergibt sich zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) aus nachfolgenden Gründen:
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Im Zeitpunkt des Schreibens des Landratsamts vom 10. März 2015 an den Kläger war die abschließende interne Entscheidung, beim Kläger trotz der Verurteilung mit Strafurteil des Landgerichts München II vom 30. April 2012 wegen Vergewaltigung in zwei Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen, bereits seit längerer Zeit getroffen. Während die Behörde auf die Anfrage der Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech (vom 5. März 2013) mit Formschreiben vom 2. September 2013 noch ohne nähere Prüfung mitgeteilt hat, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht beabsichtigt seien, wird die Sach- und Rechtslage vom zuständigen Sachbearbeiter (M.) der Ausländerbehörde aus Anlass schriftlicher Sachstandsanfragen der Staatsanwaltschaft München II - Strafvollstreckung - vom 11. April 2013 und 11. Juni 2013 wiederholt in ausführlichen schriftlichen Aktenvermerken umfassend erörtert und geprüft (Bl. 147 ff. der Behördenakte): In einem handschriftlichen Vermerk des Sachbearbeiters M. vom 28. August 2013 werden auf der Rückseite der Sachstandsanfrage der Staatsanwaltschaft vom 11. Juni 2013 (Bl. 147 der Behördenakte) die „Voraussetzungen einer Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts“ beim Kläger gemäß § 6 FreizügG/EU erörtert; als Ergebnis dieser Prüfung wird festgehalten: „Abschließende Beurteilung nach Anforderung BZR-Auszug!“. Auf den Folgeseiten (Bl. 148, 149, jeweils Vor- und Rückseite) werden in einem Vermerk die Voraussetzungen einer Verlustfeststellung unter Berücksichtigung des verstärkten Schutzes gemäß § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU sowohl in formeller wie materieller Hinsicht - einschließlich aller gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu berücksichtigenden Interessen - ausführlich dargelegt und mit (noch) offenem Ergebnis erörtert. Nach erfolgter Übersendung der über den Kläger angeforderten Auskunft des Bundesamts für Justiz aus dem Zentralregister vom 27. August 2013 (Bl. 151 der Behördenakte) wird vom zuständigen Sachbearbeiter M. in Ergänzung der „Aktennotiz vom 28.8.2013“ eine erneute und nunmehr abschließende Prüfung durchgeführt. In dem handschriftlichen Vermerk vom 2. September 2013 auf der Rückseite des Zentralregister-Auszugs wird ausgeführt, dass mit Blick auf den nur eine Eintragung umfassenden BZR-Auszug „keine Wiederholungsgefahr seitens des S. (Klägers)“ bestehe, eine strafrechtliche Verurteilung alleine „für die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen kaum ausreichend sein“ dürfte und „ein gesellschaftliches Grundinteresse … nicht beeinträchtigt“ sei. Abschließend wird festgestellt: „Von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen wird somit abgesehen.“ Vor diesem Hintergrund teilt das Landratsamt - Ausländerbehörde (Sachbearbeiter M.) - der Staatsanwaltschaft München II, Strafvollstreckung, in Beantwortung der Anfragen vom 11. April 2013 und 11. Juni 2013 mit, „dass gegen Herrn S. keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen beabsichtigt sind“.
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Anhaltspunkte dafür, dass dieser (interne) Entschluss, im Fall des Klägers wegen dessen strafrechtlicher Verurteilung keine Verlustfeststellung zu verfügen, nur vorläufig oder vorbehaltlich weiterer Prüfungen erfolgen sollte, sind weder aus der Behördenakte noch sonst ersichtlich.
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Die Ausländerbehörde des Beklagten hat dem Kläger bei objektiver Würdigung aller Umstände (entsprechend §§ 133, 157 BGB) mit dem Schreiben vom 10. März 2015 verbindlich, also mit dem Willen, sich für die Zukunft zu binden und einen entsprechenden Anspruch des Begünstigten (Kläger) zu begründen, zugesagt, in seinem Fall - wie intern zuvor bereits entschieden - von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen (konkret: einer Verlustfeststellung) abzusehen. Für eine verbindliche Selbstverpflichtung der Behörde spricht zur Überzeugung des Senats entscheidend, wie es zu diesem Schreiben gekommen ist. Denn mit Schreiben vom 24. Februar 2015 (Bl. 153 der Behördenakte) hat der Kläger unter Bezugnahme auf die Mitteilung der Behörde vom 2. September 2013 an die Justizvollzugsanstalt, dass in seinem Fall keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen beabsichtigt sind, „zur Vervollständigung meiner Unterlagen“ um die „Zusendung dieses Bescheides“ gebeten, da „eine Aushändigung dieses Bescheides“, der ihm über den Sozialdienst der Justizvollzugsanstalt bekannt geworden sei, durch die Justizvollzugsanstalt nicht erlaubt sei. Für die Ausländerbehörde des Beklagten war daraus eindeutig erkennbar, dass der Kläger von ihr die schriftliche (Sach-)Entscheidung („Bescheid“) erhalten will, dass in seinem Fall von der Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen abgesehen wird. Unabhängig davon musste der Behörde auch mit Blick auf mögliche strafvollstreckungsrechtliche Folgen einer solchen Entscheidung für den Kläger (vgl. z.B. § 456a StPO) klar sein, dass es dem Kläger bei seiner Anfrage darauf ankam, die zuvor der Justizvollzugsanstalt intern mitgeteilte Entscheidung ausdrücklich verbindlich bestätigt und damit gleichzeitig auch zugesagt zu bekommen. Die Übersendung eines Abdrucks des behördlichen Schreibens vom 3. September 2013 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das klägerische Begehren in seinem Schreiben vom 24. Februar 2015 und die Wiederholung des Inhalts dieser behördeninternen Mitteilung, „dass wir von einer Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Ausweisung bzw. Verlust des EU-Freizügigkeitsrechtes) absehen werden“ konnte der Kläger vor dem geschilderten Hintergrund sowohl nach dem objektiven Erklärungswert als auch dem durch seine Anfrage initiierten Zweck letztlich nur so verstehen, dass die Ausländerbehörde damit nicht nur eine schlichte Auskunft über eine auf einen bestimmten (vergangenen) Zeitpunkt bezogene behördeninterne Absichtserklärung erteilt, sondern vielmehr eine ihm gegenüber verbindliche Bestätigung ihrer bereits zuvor (intern) abschließend getroffenen Entscheidung, eine Verlustfeststellung aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung vom 30. April 2012 zu unterlassen, vorgenommen hat.
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Angesichts dieses objektiv unzweifelhaft bekundeten Willens der Behörde ist es unerheblich, dass - wie der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat - hier kein zwingender Grund bzw. keine Veranlassung für eine solche Zusicherung bestanden hat. Nicht entscheidend sind auch die subjektive Vorstellung oder der innere Wille des erklärenden Behördenvertreters (Sachbearbeiter M.) sowie der reine Wortlaut dieser Erklärung. Der Erklärung vom 10. März 2015 ist auch keinerlei gegen ihre Verbindlichkeit sprechende Einschränkung oder Relativierung der (Absehens-)Entscheidung wie zum Beispiel „nach derzeitigem (Kenntnis-)Stand“ oder „nach vorläufiger Rechtsauffassung“ etc. zu entnehmen.
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Für die Bewertung der Erklärung als den Beklagten bindende Zusage spricht nicht zuletzt die weitere Behandlung des Falles durch die Ausländerbehörde. Diese hat sich erst aufgrund einer Anfrage des Polizeipräsidiums Oberbayern am 18. April 2018 (Bl. 155 der Behördenakte) wieder mit dem Fall des Klägers beschäftigt und in einem Aktenvermerk festgehalten: „Herr P. … wollte sich erkundigen, ob wir an unserer bisherigen Entscheidung des Verzichts der Verlustfeststellung festhalten. Ich sicherte ihm eine erneute Prüfung … zu.“ Im Anhörungsschreiben der Ausländerbehörde an den Kläger vom 20. April 2018 wird dann unter anderem ausgeführt: „Entgegen unserer ursprünglichen Absicht, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen, liegen unserer Auffassung nach …“. Schließlich wird in einem weiteren Aktenvermerk vom 2. August 2018 zur beabsichtigten Verlustfeststellung beim Kläger bemerkt, die Erklärung zum Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen könne man durchaus als „Zusicherung nach § 38 VwVfG“ werten, die Verwaltungsbehörde sollte sich jedoch nicht scheuen, „eine Neubewertung der Sach- und Rechtslage zu treffen.“ Daraus ergibt sich zur Überzeugung des Senats eindeutig, dass auch die Behörde das Schreiben an den Kläger vom 10. März 2015 nicht nur als eine unverbindliche vorläufige Auskunft, sondern als verbindliche Zusage und eindeutige Willensbekundung verstanden hat. Dementsprechend werden mit handschriftlichem Zusatz auf dem Aktenvermerk vom 2. August 2018 (Bl. 201 der Behördenakte) die Fortführung des Verfahrens zur Verlustfeststellung und gleichzeitig die Prüfung der „Rücknahme/Widerruf Zusicherung“ verfügt.
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Die Zusage des Beklagten gegenüber dem Kläger im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG, in seinem Fall von einer Verlustfeststellung (Verwaltungsakt im Sinne von Art. 35 Satz 1 BayVwVfG) abzusehen, ist durch die zuständige Ausländerbehörde (Landratsamt F.) und in der vorgeschriebenen Schriftform formell wirksam erfolgt. Die materielle Befugnis der Ausländerbehörde, eine solche Zusage zu erteilen, ergibt sich (als Annexkompetenz, vgl. dazu M. Uechtritz in Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 38 Rn. 53 m.w.N.) aus ihrer Befugnis zum Erlass einer Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU.
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2.2. Die wirksame Zusage, eine Verlustfeststellung zu unterlassen, bindet den Beklagten auch noch im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Weder ist eine (konkludente) Rücknahme oder ein Widerruf dieser Zusicherung (Art. 38 Abs. 2 i.V.m. Art. 48, 49 BayVwVfG; 2.2.1.) erfolgt, noch liegt ein Wegfall der Bindungswirkung wegen einer nachträglich eingetretenen Änderung der Sach- oder Rechtslage im Sinne von Art. 38 Abs. 3 BayVwVfG vor (2.2.2.).
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2.2.1. Der Beklagte hat die gegenüber dem Kläger erfolgte Zusage, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen (Verlustfeststellung) abzusehen, nicht wirksam zurückgenommen oder widerrufen. Zwar ist im angefochtenen Bescheid vom 6. November 2018 im Rahmen der Wiedergabe des Sachverhalts ausgeführt, nach einer neuerlichen Bewertung des Falls sei entschieden worden, dass eine Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt - entgegen der bisherigen Entscheidung - nun doch vorgenommen werden soll (S. 5/6 des Bescheids, Bl. 211 f. der Behördenakte). Erwägungen insbesondere zur Rechtsgrundlage einer Rücknahme bzw. eines Widerrufs, zu deren Voraussetzungen, dem diesbezüglichen Ermessen der Behörde und zur erforderlichen Interessenabwägung fehlen jedoch.
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2.2.2. Eine gemäß Art. 38 Abs. 3 BayVwVfG beachtliche Änderung der Sachlage in dem Sinne, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse unter Zugrundelegung eines objektiven Maßstabs nachträglich anders darstellen als zum Zeitpunkt der Erteilung der Zusicherung (M. Uechtritz in Mann/Sennekamp/Uechtritz, a.a.O., § 38 Rn. 154 m.w.N.), ist ebenfalls nicht feststellbar. Soweit der Beklagte geltend macht, eine solche Änderung der Sachlage liege im Fall des Klägers aufgrund der Entscheidungen des Landgerichts Augsburg - Strafvollstreckungskammer - vom 23. Juni 2017 (Ablehnung der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung) sowie vom 17. August 2018 (kein Entfall und keine Abkürzung der Höchstdauer der Führungsaufsicht) mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Indizwirkung solcher Beschlüsse (B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21) vor, greift dieser Einwand nicht durch. Denn dabei wird vom Beklagten verkannt, dass sich infolge dieser Entscheidungen und der darin getroffenen Feststellungen die für die Beurteilung der erforderlichen Wiederholungsgefahr (s. § 6 Abs. 2 FreizügG/EU) maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse letztlich nicht anders darstellen als zum Zeitpunkt der Erteilung der Zusicherung; denn auch damals konnte beim Kläger aufgrund der Gesamtumstände nur eine negative Sozialprognose angestellt werden. Die nachträgliche Erkenntnis der Behörde, dass sie die Zusicherung aufgrund falscher Annahmen über das Vorliegen bestimmter Tatsachen (hier: bezüglich der Gefahrenprognose) erteilt hat, steht der nachträglichen Änderung der Sachlage gerade nicht gleich (vgl. Tiedemann in BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, Stand 1.7.2020, § 38 Rn. 44 m.w.N.). Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof vom Beklagtenvertreter zu Protokoll des Gerichts übergebenen ergänzenden Ermessenserwägungen (§ 114 Satz 2 VwGO) sind daher unbehelflich.
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Nach alledem steht der angefochtenen Verlustfeststellungsverfügung die (noch) wirksame Zusage des Beklagten entgegen, sodass der Klage des Klägers unabhängig von einer weiteren rechtlichen Prüfung dieser Anordnung schon deshalb stattzugeben ist.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.