Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 09.10.2020 – 206 St RR 268/20
Titel:

Verhältnis von Berufung und Wiedereinsetzungsantrag

Normenkette:
StPO § 315 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Wird gegen ein Urteil des Amtsgerichts, das den Einspruch des Angeklagten gegen einen Strafbefehl wegen Ausbleibens in der Hauptverhandlung verwirft, sowohl Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt als auch gemäß § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO Berufung eingelegt, hängt die Wirksamkeit der Berufung davon ab, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung rechtskräftig abgelehnt wird. Daran fehlt es, solange über die gegen einen Ablehnungsbeschluss des Amtsgerichts eingelegte sofortige Beschwerde durch das zuständige Beschwerdegericht nicht entschieden ist. (Rn. 9 – 14)
2. Die rechtskräftige Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellt eine Verfahrensvoraussetzung für die Durchführung des Berufungsverfahrens dar. Ihr Vorliegen ist daher auf die gegen das Berufungsurteil zulässig eingelegte Revision vom Revisionsgericht von Amts wegen auch ohne entsprechende Verfahrensrüge zu prüfen. (Rn. 15 – 31)
3. Ein Berufungsurteil, das vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den Antrag auf Wiedereinsetzung ergeht, unterliegt der Aufhebung. Es ist nicht möglich, die Entscheidung über die Revision zurückzustellen und zunächst eine Entscheidung des Beschwerdegerichts über die eingelegte sofortige Beschwerde herbeizuführen. (Rn. 33 – 35)
Schlagworte:
Strafbefehl, Einspruch, Ausbleiben, Wiedereinsetzung, sofortige Beschwerde, rechtskräftige Ablehnung, Berufung, Verfahrensvoraussetzung, Zurückstellen der Entscheidung
Vorinstanz:
LG Deggendorf, Urteil vom 17.04.2019 – 2 Ns 3 Js 3701/18
Fundstellen:
StV 2021, 814
BeckRS 2020, 29792
LSK 2020, 29792

Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 17. April 2019 mit den tatsächlichen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Deggendorf zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Viechtach vom 19. September 2018 wurde gegen den Angeklagten wegen versuchter Erpressung eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 40,00 Euro festgesetzt. Dem auf Einspruch des Angeklagten festgesetzten Termin zur Hauptverhandlung vom 7. November 2018 blieb der Angeklagte fern. Mit Urteil des Amtsgerichts Viechtach vom selben Tag wurde sein Einspruch verworfen. Sein hiergegen gerichteter Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der mit der Berufung gegen das Urteil verbunden war, wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Viechtach vom 11. März 2019 als unzulässig verworfen. Über die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde, eingegangen am 14. März 2019, wurde nicht entschieden.
2
Die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts wurde mit Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 17. April 2019 in Anwesenheit des Angeklagten als unbegründet verworfen. Mit Schriftsatz vom 02.05.2019, eingegangen am selben Tag, legte der Verteidiger des Angeklagten für diesen Revision ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision. Das Berufungsurteil wurde dem Angeklagten am 3. Juli 2019 zugestellt. Die Begründung der Revision ging am 5. August 2019 ein. Mit Senatsbeschluss vom 11. Februar 2020, dem Verteidiger zugestellt am 31. März 2020, wurde dem Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gewährt. Am 1. April 2020 ging die Revisionsbegründung des Verteidigers erneut ein.
3
Mit der Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. §§ 412, 329 Abs. 1 StPO seien falsch angewandt worden. Der Angeklagte sei in der Einspruchsverhandlung ausreichend entschuldigt gewesen; der Einspruch hätte nicht verworfen werden dürfen. Deswegen sei auch das Berufungsurteil unrichtig. Es wird beantragt, das Urteil des Landgerichts Deggendorf aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung durch eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen.
4
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision als unbegründet zu verwerfen.
II.
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Das Urteil des Landgerichts Deggendorf vom 17. April 2019 war auf die zulässige Revision aufzuheben, weil die Sachurteilsvoraussetzungen für den Erlass eines Berufungsurteils nicht vorlagen. Die Berufung war gemäß § 315 Abs. 2 Satz 1 StPO nur für den Fall der Verwerfung des gleichzeitig gestellten Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Viechtach vom 7. November 2018 gestellt worden. Diese Bedingung war noch nicht eingetreten, weil über die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Verwerfung seines Wiedereinsetzungsantrags nicht entschieden wurde, das Verfahren mithin noch in der Schwebe ist.
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1. Die Revision des Angeklagten ist zulässig. Hinsichtlich der Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision, die erst am 2. Mai 2019 eingegangen war, ist dem Angeklagten durch Senatsbeschluss vom 11. Februar 2019, Az. 206 StRR 2513/19, auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden. Die Revisionsbegründung ist fristgerecht eingegangen und auch sonst zulässig.
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2. Das angegriffene Berufungsurteil ist ohne Prüfung zur Sache aufzuheben, denn es fehlte zum Zeitpunkt seines Erlasses an einer von Amts wegen zu prüfenden Verfahrensvoraussetzung. Da diese im weiteren Verfahrensgang noch eintreten kann, ist das Verfahren nicht nach § 354 Abs. 1 StPO einzustellen; die Sache wird vielmehr zurückverwiesen, § 354 Abs. 2 StPO.
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a) Mit Schreiben vom 20. November 2018, eingegangen beim Amtsgericht am 21. November 2018, wendete sich der Angeklagte mit den Formulierungen „Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ und „Gleichzeitig wird dem Urteil vom 14.11.2018 widersprochen“ gegen das seinen Einspruch verwerfende Urteil des Amtsgerichts Viechtach vom 14. November 2018. Zutreffend hat das Berufungsgericht das Schreiben dahin ausgelegt, dass damit sowohl gem. §§ 412 Satz 1, 329 Abs. 7 StPO ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Verwerfung wegen seines Nichterscheinens im Hauptverhandlungstermin vom 14.11.2018 gestellt als auch Berufung gegen das Verwerfungsurteil gem. § 312 StPO eingelegt werden sollte.
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b) Die Berufung des Angeklagten war gem. § 315 Abs. 2 Satz StPO nur für den Fall der Verwerfung des Wiedereinsetzungsantrags gestellt. Diese Bedingung ist (noch) nicht eingetreten.
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(aa) Grundsätzlich darf die Erklärung über ein Rechtsmittel zwar nicht an eine Bedingung geknüpft werden (BGH, Urteil v. 12. November 1953, 3 StR 453/53, NJW 1954, 243). Anders verhält es sich in dem in § 315 Abs. 2 StPO gesetzlich ausdrücklich geregelten Fall, dass gemäß § 315 Abs. 1 StPO gegen ein auf Ausbleiben des Angeklagten ergangenes Urteil um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nachgesucht wird. In diesem Fall kann der Angeklagte gegen das ergangene Urteil nämlich auch Berufung einlegen, jedoch gem. § 314 Abs. 2 StPO nur binnen einer Woche, wobei diese Frist durch den Antrag auf Wiedereinsetzung nicht aufgeschoben wird, wie § 315 Abs. 1 StPO ausdrücklich klarstellt. Will der Angeklagte von beiden Möglichkeiten, gegen das Verwerfungsurteil vorzugehen, Gebrauch machen, muss er nach § 315 Abs. 2 StPO vorgehen. In diesem Fall muss zunächst über den Wiedereinsetzungsantrag vom hierfür zuständigen Gericht entschieden werden. Die Berufung ist gem. § 315 Abs. 2 Satz 1 StPO lediglich für den Fall der Verwerfung des Wiedereinsetzungsgesuchs eingelegt (vgl. BayObLG, Beschluss vom 24. Februar 1972, 6 St 507/72 OWi, NJW 1972, 1724, 1725); hinsichtlich der Berufung bleibt die Sache daher zunächst zwingend ausgesetzt, § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO. Hat der Antrag auf Wiedereinsetzung Erfolg, ist die eingelegte Berufung gegenstandslos (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 315 Rn. 2; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 315 Rn. 2).
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(bb) Die Berufung lebt erst und nur dann auf, wenn die Prozessbedingung, unter der sie eingelegt wurde, eingetreten ist, wenn also der Antrag auf Wiedereinsetzung verworfen wurde und hinsichtlich dieser Entscheidung Rechtskraft eingetreten ist (OLG Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2014, 1 Ws 70/14, BeckRS 2014, 17225, Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.; Paul a.a.O.; Eschelbach in BeckOK StPO, 37. Ed. Stand 01.07.2020, § 315 Rn. 3).
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(cc) An dieser Voraussetzung fehlt es hier. Über das Gesuch des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat zwar das Amtsgericht Viechtach als gemäß § 46 Abs. 1 StPO zuständiges iudex a quo mit Beschluss vom 11. März 2019, den Antrag verwerfend, entschieden, dem Angeklagten zugestellt am 13. März 2019, entschieden. Hiergegen hatte der Angeklagte indessen mit Schreiben vom 13. März 2019, eingegangen am 14. März 2019, sofortige Beschwerde eingelegt. Über diesen gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthaften und ersichtlich auch sonst zulässigen, insbesondere gem. § 311 Abs. 2 StPO rechtzeitig eingelegten Rechtsbehelf wurde (noch) nicht entschieden. Die Akten hätten dem zuständigen Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt werden müssen. Dies ist unterblieben; nach einem Vermerk in den Akten war das Schriftstück versehentlich in die ausgehobenen Aktenstücke gelegt und dem Landgericht erst am 17. Juni 2019, nach Erlass des gegenständlich angegriffenen Berufungsurteils, vorgelegt worden.
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(dd) Das Berufungsurteil beinhaltet nicht gleichzeitig die verfahrensfehlerhaft unterbliebene Beschwerdeentscheidung und vermag auch nicht inzident an deren Stelle zu treten. Ungeachtet des Umstandes, dass das Gericht mangels Kenntnis von der sofortigen Beschwerde nicht den Willen hatte, insoweit eine Entscheidung zu treffen (vgl. für den Fall der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung BayObLG, Urteil v. 2. Oktober 1987, 1 St 94/97, BayObLGSt 1987, 102, 104), wäre es hierfür bereits funktionell nicht zuständig gewesen (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2014, 1 Ws 70/14, BeckRS 2014, 17225, Rn. 6, 8). Zudem unterscheiden sich die für das Ersuchen um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einerseits und für die Berufung andererseits anzuwendenden Prüfungsmaßstäbe so grundlegend voneinander, dass aus den Gründen des vorliegenden Berufungsurteils keine Schlüsse für Zulässigkeit und/oder Begründetheit der sofortigen Beschwerde gezogen werden können.
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(ee) Folge der unterbliebenen Entscheidung über die sofortige Beschwerde ist es, dass die Prozessbedingung, von der die Einlegung des Rechtsmittels der Berufung abhängig gemacht war, noch nicht eingetreten war. Das Berufungsverfahren hatte zwingend ausgesetzt zu bleiben, § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO. Bereits die Berufungshauptverhandlung durfte nicht durchgeführt werden; das Berufungsgericht war auch (noch) nicht zur Entscheidung in der Sache berechtigt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. August 2016, III-2 RVs 67/16, BeckRS 2016, 120321 Rn. 39; KG, Beschluss vom 28. Februar 2000, 1 AR 1573/99 - 4 Ws 5/00, BeckRS 2014, 9635; OLG Brandenburg, Beschluss vom 2. Juni 2014, 1 Ws 70/14, BeckRS 2014, 17225, Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 315 Rn. 2.; Paul in KK-StPO § 315 Rn. 2; Eschelbach in BeckOK StPO, 37. Ed. Stand 01.07.2020, § 315 Rn. 3; ebenso zur Zulässigkeit einer Revisionsentscheidung im Fall des § 342 Abs. 2 Satz 2 StPO: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 342 Rn. 2; Gericke in KKStPO § 342 Rn. 6; Franke in LR stopp, 26. Aufl. 2012 § 342 Rn. 3; zu §§ 74 Abs. 2 und 4, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 342 Abs. 2 Satz 2 StPO: OLG Bamberg, Beschluss vom 28. Dezember 2015, 3 Ss OWi 1476/15, BeckRS 2016, 2728).
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c) Den vorliegenden Verfahrensverstoß hatte das Revisionsgericht von Amts wegen zu beachten. Der Erhebung einer nach § 344 Abs. 2 StPO formgerechten Verfahrensrüge - an der es fehlt - bedurfte es insoweit nicht.
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(aa) Das Vorliegen von Prozessvoraussetzungen und das Fehlen von Verfahrenshindernissen hat das Revisionsgericht stets, ohne dass es hierfür eines Antrags oder Tatsachenvortrags des Revidenten bedarf, von Amts wegen zu prüfen (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, § 352 Rn. 2; Knauer/Kudlich in MünchKomm StPO, 1. Aufl. 2019, § 352 Rn. 10). Die entsprechenden Tatsachen sind im Freibeweis zu ermitteln (Knauer/Kudlich a.a.O.). Der Senat hat die maßgeblichen Verfahrensvorgänge den Strafakten entnommen.
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(bb) Ob es sich bei dem Eintritt der Rechtskraft hinsichtlich der nach § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO zu treffenden Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand um eine von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung für das Berufungsurteil handelt, ist, soweit ersichtlich, bislang weder höchstrichterlich noch obergerichtlich entschieden. Der Senat bejaht die Frage aus nachfolgenden Gründen.
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(1) Eine Sachentscheidung darf durch das Berufungsgericht nur getroffen werden, wenn der Angeklagte oder ein anderer gem. §§ 296, 390, 401 StPO rechtsmittelberechtigter Beteiligter am Strafverfahren das Rechtsmittel der Berufung wirksam eingelegt hat und wenn die Berufung zulässig ist. Es handelt sich mithin bei beiden Voraussetzungen um (Sach-) Urteilsvoraussetzungen (vgl. RG, Urteil vom 31. März 1931, RGSt 65, 250, 254 f. für die Verfahrensvorschriften über die Einlegung der Berufung).
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Ist keine Berufung eingelegt, was beispielsweise auch dann der Fall sein kann, wenn die am Maßstab des § 300 StPO vorgenommene Auslegung einer mit Bezug auf das Ersturteil abgegebenen Erklärung ergibt, dass entweder gar kein Rechtsmittel gewollt ist oder das Rechtsmittel der Sprungrevision gem. § 335 StPO eingelegt werden soll, fehlt dem Berufungsgericht jede Entscheidungsbefugnis. § 318 Satz 1 StPO stellt darüber hinaus klar, dass eine Sachentscheidung des Rechtsmittelgerichts nur insoweit ergehen darf, wie das Urteil des Erstgerichts angefochten wurde. In dem Umfang, wie eine (wirksame) Beschränkung der Berufung vorliegt, ist die Sache ebenfalls der Prüfungs- und Entscheidungskompetenz des Berufungsgerichts entzogen.
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Einer Sachentscheidung steht es auch entgegen, wenn die Berufung unzulässig ist. Eine entgegen § 314 StPO verspätet eingelegte oder sonst unzulässige Berufung ist in den Fällen des § 319 Abs. 1 StPO bereits durch das Gericht des ersten Rechtszuges, anderenfalls durch das Berufungsgericht gem. § 322 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen.
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Der gegenständliche Fall steht der ersten Konstellation gleich, in der es an einer Berufung ganz fehlt. Wurde diese, wie vorliegend, erst und lediglich für den Fall der rechtskräftigen Verwerfung des Antrags auf Wiedereinsetzung erklärt, dann liegt, solange die genannte Rechtsbedingung noch nicht eingetreten ist, nicht eine lediglich (noch) unzulässige Berufung vor, sondern es fehlt ihr bereits an einer Wirksamkeitsvoraussetzung.
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(2) Nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum ist dann, wenn ein Berufungsurteil mit der Revision (zulässig) angefochten wird, vom Revisionsgericht die Zulässigkeit der Berufung auch ohne entsprechende Verfahrensrüge von Amts wegen zu prüfen (RGSt 65, 250, 253; BayObLG, Urteil v. 2. Oktober 1987, 1 St 94/87, BayObLGSt 1987, 102, 103 und st. Rspr.; MeyerGoßner/Schmitt, § 352 Rn. 3; Knauer/Kudlich in MüKo StPO § 352 Rn. 11, § 337 Rn. 57; Franke in LR StPO § 352 Rn. 3; Gericke in KK StPO § 352 Rn. 22). Gleiches gilt für die Frage, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen einer wirksamen Berufungsbeschränkung nach § 318 StPO zutreffend beurteilt hat, sei es, ob es eine Beschränkung fehlerhaft für unwirksam gehalten und deswegen über einen tatsächlich nicht angefochtenen Teil des Ersturteils neu entschieden hat, oder sei es umgekehrt, ob es eine Beschränkung zu Unrecht als wirksam angesehen und deswegen über einen tatsächlich angefochtenen Teil nicht neu geurteilt hat (BGH, Beschluss vom 30. November 1976, 1 StR 319/76, NJW 1977, 442; BayObLG, Beschluss vom 16. Juni 1998, 4 StRR 68/98, NStZ 1998, 532 und und st. Rspr.; MeyerGoßner/Schmitt, § 352 Rn. 4, § 318 Rn. 33; Knauer/Kudlich in MüKo StPO § 352 Rn. 11; Gericke in KK StPO § 352 Rn. 23; Franke in LR StPO § 352 Rn. 3).
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(3) Für die vorliegende Fallkonstellation einer lediglich bedingten Rechtsmitteleinlegung besteht hinsichtlich der Frage, ob die Bedingung eingetreten ist, ebenfalls eine Prüfungspflicht des Revisionsgerichts von Amts wegen, denn es handelt sich um eine für die die für Durchführung des Berufungsgerichts und den Erlass eines Berufungsurteils unabdingbare Verfahrensvoraussetzung.
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(i) Zur Begründung der vorbezeichneten amtswegigen Prüfungspflichten findet sich das Argument, dass dann, wenn die betreffenden Voraussetzungen nicht vorliegen, das angefochtene Urteil bereits in (Teil-) Rechtskraft erwachsen ist (für die Zulässigkeit der Berufung: BayObLGSt 1987, 102, 103; für die zutreffende Beurteilung von Berufungsbeschränkungen gem. § 318 StPO: Knauer/Kudlich in MüKo StPO § 337 Rn. 59; BayObLG NStZ 1998, 532; BayObLG Beschluss vom 3. August 1993, 5 StRR 63/93, NStZ 1994, 48). Entgegenstehende Rechtskraft ist wiederum nach einhelliger Meinung als Prozesshindernis stets von Amts wegen zu beachten (s. nur Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 143). Für die gegenständliche Verfahrenskonstellation kann dieser Gedanke indessen nicht zur Begründung einer amtswegigen Prüfung herangezogen werden, denn aufgrund der in § 315 Abs. Satz 2 StPO normierten Besonderheiten wird durch die, wenn auch nur bedingt, eingelegte Berufung der Eintritt der Rechtskraft des angefochtenen Urteils gerade gehindert. Ein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem durch das angegriffene Berufungsurteil steht nicht im Raum.
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(ii) Das Argument entgegenstehender Rechtskraft wird jedoch nicht ausnahmslos zur Begründung der amtswegigen Prüfung der Zulässigkeit der Berufung und der Einhaltung der Voraussetzungen des § 318 StPO durch das Revisionsgericht bemüht, und sie ist ein zwar überzeugender, aber nicht der einzige tragende Grund, der für eine Berücksichtigung der genannten Voraussetzungen von Amts wegen streitet. Nach ganz überwiegender Auffassung ist die Zulässigkeit der Berufung eines Verfahrensbeteiligten nämlich selbst dann von Amts wegen zu überprüfen, wenn das erstinstanzliche Urteil aufgrund des Rechtsmittels eines anderen Anfechtungsberechtigten noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist (RGSt 65, 250, 255; Knauer/Kudlich in MüKo StPO § 352 Rn. 11; Franke in LR StPO § 352 Rn. 3; Gericke in KK StPO § 352 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt § 352 Rn. 3; a.A. BayObLG NStZ 1994, 48).
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Auch bei näherer Betrachtung der für Verstöße gegen § 318 StPO allgemein bejahten Amtsprüfung zeigt sich, dass das Argument, bei falscher Beurteilung einer Berufungsbeschränkung durch das Berufungsgericht liege gleichzeitig ein Verstoß gegen eine bereits eingetretene (Teil-) Rechtskraft des Ersturteils vor, nur für eine der von der Prüfung erfassten Fallvarianten zutrifft, nämlich für diejenige, in der die Berufung wirksam beschränkt wurde, beispielsweise auf den Rechtsfolgenausspruch, mit der Folge, dass hinsichtlich des nicht angefochtenen Schuldspruchs horizontale Teilrechtskraft eintritt, das Berufungsgericht aber in der Annahme, die Beschränkung sei nicht wirksam, über die Schuld erneut entscheidet. In der umgekehrten Fallvariante, dass die erklärte Beschränkung, beispielsweise wegen lückenhafter Feststellungen des Ersturteils (vgl. dazu nur Meyer-Goßner/Schmitt, § 318 StPO Rn. 16 f. mwN) nicht wirksam ist, tritt gerade keine Teilrechtskraft hinsichtlich des Schuldspruchs ein. Entscheidet das Berufungsgericht unter Verkennung der Unwirksamkeit der Beschränkung nicht über die Schuld, kann von einem Verstoß gegen die Sperrwirkung entgegenstehender Rechtskraft nicht die Rede sein. Das Berufungsgericht mag zwar den Umfang der hinsichtlich des Ersturteils eingetretenen Rechtskraftwirkung verkannt haben. Der Verfahrensverstoß liegt aber darin, dass es nicht über alle von dem (vermeintlich) beschränkten Rechtsmittel erfassten Bestandteile des erstinstanzlichen Urteils entschieden (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 20. November 2014, 1 Ss 278/14, NStZ-RR 2015, 150; OLG Hamm Beschluss vom 7. Mai 2001, 2 Ss 134/01, NStZ-RR 2001,300; Meyer-Goßner/Schmitt, § 352 Rn. 3 f.), mit anderen Worten: seine Kognitionspflicht verletzt hat.
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(iii) Der Senat stützt seine Entscheidung, dass vom Amts wegen zu klären ist, ob bereits eine rechtskräftige Entscheidung über das Wiedereinsetzungsersuchen des Angeklagten getroffen wurde, darauf, dass das Vorliegen einer - wirksamen - Berufung eine Verfahrensvoraussetzung für das Berufungsverfahren darstellt, ohne dass es dabei auf den Aspekt bereits eingetretener oder nicht eingetretener Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils ankommt.
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Prozess- bzw. Verfahrensvoraussetzungen sind Bedingungen für die Zulässigkeit, in einem bestimmten Verfahren - vor diesem Gericht und unter Mitwirkung dieser Prozessbeteiligten - zu einem Sachurteil in einer bestimmten Sache zu gelangen (BGH, Urteil v. 10. Januar 1957, 2 StR 575/56, NJW 1957, 511). Aus diesem Wesen folgt, dass ihr Mangel auch vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen ist, sofern das Gesetz keine gegenteilige Regelung trifft (BGH a.a.O.)
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Nach diesen Maßstäben handelt es sich bei der Berufung um eine Verfahrensvoraussetzung für die Durchführung des Berufungsverfahrens und den Erlass des Berufungsurteils als Sachurteil, bzw., wie bereits das Reichsgericht formuliert hat, um eine Urteilsvoraussetzung für das Berufungsurteil (RGSt 65, 350, 254 f.). Die Frage, ob und in welchem Umfang dem Berufungsgericht sachliche Entscheidungskompetenz zukommt, hängt vom Willen und den Erklärungen des jeweiligen Berufungsführers ab. Dieser bestimmt, ob das Verfahren in die Rechtsmittelinstanz gelangt und damit das Berufungsverfahren von diesem Gericht überhaupt durchgeführt werden darf; vom Umfang seiner Anfechtung gemäß § 318 StPO hängt der Umfang der Bindung des Berufungsgerichts an das Ersturteil und umgekehrt die Reichweite seiner Kognitionspflicht ab, die darin besteht, über alle nicht (wirksam) angefochtenen Bestandteile des Ersturteils eine Entscheidung zu treffen. Der Berufungsführer bestimmt mithin den Umfang des Prüfungsrechts und der Prüfungspflicht des Berufungsgerichts. Diese Funktionen der Berufung für die Rechtsmittelinstanz ähneln denjenigen, die der Anklageschrift für das gesamte gerichtliche Verfahren zukommen. Gemäß § 155 StPO bestimmt diese den Umfang der gerichtlichen Untersuchungs- und Entscheidungspflicht, welche einerseits die Pflicht umfasst, die Anklage erschöpfend zu behandeln, andererseits aber auch, nicht über sie hinauszugehen (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, § 155 Rn. 1 f.). So wie eine wirksame Anklageschrift gem. § 151 StPO eine Verfahrensvoraussetzung für die gerichtliche Untersuchung darstellt, (zur Einordnung als Verfahrensvoraussetzung vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 200 Rn. 26), handelt es sich bei einer wirksamen Berufung wegen der dargestellten Wirkungen um eine Verfahrensvoraussetzung für das Berufungsverfahren. Ob überhaupt Berufung eingelegt wurde und ob ihre Wirksamkeits- und Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben sind, prüft das Revisionsgericht daher bereits aus diesem Grund von Amts wegen.
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(iv) Die Prüfung hat, wie bereits dargelegt, ergeben, dass es für den Erlass des Berufungsurteils an einer Prozessvoraussetzung fehlte. Die Berufung, welche der Angeklagte zwar zunächst eingelegt hat, hatte mangels rechtskräftiger Entscheidung über sein Wiedereinsetzungsersuchen gem. § 315 Abs. 2 Satz 1 StPO weder zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung Wirksamkeit erlangt, noch liegt diese zum gegenwärtigen Verfahrensstand vor.
31
d) Der Senat setzt sich mit seiner Rechtsauffassung nicht in Widerspruch zu einer Rechtsauffassung des OLG Düsseldorf, die im Beschluss vom 25. August 2016 (Az. III-2 RVs 67/16, BeckRS 2016, 120321) zum Ausdruck gekommen ist. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wurde ein Berufungsverfahren durchgeführt und ein Berufungsurteil erlassen, obgleich entgegen § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO über einen ebenfalls gestellten Antrag auf Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht entschieden worden war. Das OLG hat das dort angegriffene Berufungsurteil auf eine formgerecht und auch sonst zulässig erhobene Verfahrensrüge aufgehoben. Infolge der zulässigen Rüge hatte das OLG Düsseldorf keinen Anlass, sich mit der Frage einer Prüfung des Mangels bereits von Amts wegen zu befassen und hat ein solches Prüfungsrecht auch nicht in Abrede gestellt.
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e) Das angegriffene Urteil des Landgerichts Deggendorf kann infolge des festgestellten Verfahrensfehlers keinen Bestand haben.
33
Der Senat erachtet es nicht für zulässig, vor der Entscheidung über die Revision zunächst die Akten an das Landgericht Deggendorf zurückzuleiten, um dort die Nachholung einer Entscheidung über die vom Angeklagten eingelegte sofortige Beschwerde durch die zuständige Beschwerdekammer zu ermöglichen (im Anschluss an BayObLG, Urteil v. 2. Oktober 1987, 1 St 94/87, BayObLGSt 1987, 102, 105, für den Fall, dass die Berufung verspätet eingelegt und über einen Wiedereinsetzungsantrag nicht entschieden worden, aber ein Berufungsurteil erlassen worden war). Das angefochtene Berufungsurteil ist ohne Vorliegen der entsprechenden Prozessvoraussetzung erlassen worden. Es ist nicht auszuschließen, dass die sofortige Beschwerde des Angeklagten Erfolg haben wird; das Revisionsgericht ist insoweit zu einer Prüfung der Erfolgsaussicht nicht befugt. In diesem Fall könnte die für das Urteil erforderliche Verfahrensvoraussetzung auch endgültig nicht mehr geschaffen werden, denn die eingelegte Berufung würde hinfällig. Es wäre dann zunächst durch das Amtsgericht ein neuer Hauptverhandlungstermin zu bestimmen und neu über den Einspruch des Angeklagten zu entscheiden.
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Wird die sofortige Beschwerde des Angeklagten hingegen verworfen, tritt, jedoch erst zu diesem Zeitpunkt, zwar die Rechtsbedingung ein, an die seine Berufung geknüpft ist. Eine rückwirkende Heilung der fehlenden Prozessvoraussetzung für das angegriffene Urteil kommt allerdings nicht in Betracht.
35
Der Senat verkennt nicht, dass die dargelegte Rechtslage den rechtskräftigen Verfahrensabschluss erheblich verzögert. Gründe der Prozesswirtschaftlichkeit allein gestatten es indessen nicht, sich über zwingende Verfahrensnormen hinwegzusetzen.
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f) Eine Einstellung des Verfahrens, wie sie beim Fehlen von Prozessvoraussetzungen, die in der Revisionsinstanz aufgedeckt werden, in Betracht kommt, scheidet vorliegend aus. Es ist nicht auszuschließen, dass die erforderliche Voraussetzung durch eine rechtskräftige Verwerfung des Antrags des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch geschaffen werden kann.
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Über die dann Wirksamkeit erlangende Berufung des Angeklagten wird in diesem Fall neu zu verhandeln sein. Bis zu diesem Zeitpunkt wird das Berufungsverfahren - zwingend und ohne dass es hierfür eines Antrags bedarf - nach § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO ausgesetzt bleiben müssen.
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Die Sache ist deswegen nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere Kammer des Landgerichts Deggendorf zurück zu verweisen.