Titel:
Pflichtverteidigerbestellung
Normenketten:
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 5, § 141 Abs. 1 S. 1, § 311 Abs. 2
ERMK Art. 6 Abs. 3 lit. c
Leitsätze:
Die durch die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung des Verteidigers entstandene Beschwer des Ange-klagten entfällt nicht nachträglich dadurch, dass das Verfahren zwischenzeitlich gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingesteIlt wurde. (redaktioneller Leitsatz)
1. Nach Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO ist eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung jedenfalls dann möglich, wenn ein Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Frage der Pflichtverteidigerbestellung steht nicht mehr allein die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung im Vordergrund. Auch die Bedürfnisse mittelloser Beschuldigter sind in den Blick zu nehmen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
sofortige Beschwerde, Wochenfrist, Beiordnung eines Pflichtverteidigers, Rückwirkung
Vorinstanz:
AG Nürnberg, Beschluss vom 26.06.2020 – 433 Ds 835 Js 5430/20
Fundstelle:
BeckRS 2020, 28997
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten … vom 27.08.20 wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 26.06.2020, Az 433 Ds 835 Js 5430/20, in der dortigen Ziffer 1 aufgehoben.
2. Dem Verurteilten wird für das Ermittlungsverfahren unter dem Az. 835 Js 5430/20 der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Rechtsanwalt … als Pflichtverteidiger beigeordnet …
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten diesbezüglich entstandenen notwendigen Auslagen tragt die Staatskasse ….
Gründe
1
Gegen den Beschwerdeführer war unter dem Az. 835 Js 5430/20 bei der Staatsantwaltschaft Nürnberg-Fürth ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung anhängig, in welchem die Staatsanwaltschaft mit Datum vom 24.01.2020 Anklage mit Antragsschrift im beschleunigten Verfahren erhob Für den genauen Tatvorwurf wird auf die Antragsschrift verwiesen (Bl. 17 ff.)
2
Zu dem durch das Amtsgencht Nürnberg für den 02.03.2020 bestimmten Termin zur Hauptverhandlung erschien der Angeklagte - trotz ordnungsgemäßer Ladung - unentschuldigt nicht, woraufhin das Amtsgericht Haftbefehl gegen den Angeklagten gem. § 230 Abs. 2 StPO erließ (Bl 24, 28 ff.).
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Die mit dem Vollzug des Haftbefehls beauftragte Polizeiinspektion Schwandorf teilte mit Schreiben vom 20.03.2020, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft am 25.03.2020 und beim Amtsgericht am 26.03.2020, mit, dass sich der Angeklagte seit 11.03.2020 in anderer Sache in Haft befinde (Bl. 36). Nachdem die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 25.03.2020 zunächst eine Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO beantragt hatte leitete das Amtsgencht ihr die Akten mit Verfügung vom 01.04.2020 mit der Anregung zurück, die Antragsschrift zurückzunehmen und das Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO selbst einzustellen (Bl. 35 RS). Die Staatsanwaltschaft beantragte sodann mit Verfugung vom 06.04.2020 beim Amtsgericht, den Haftbefehl aufzuheben und das Verfahren dort gem. § 154 Abs. 2 StPO einzustellen (Bl. 46).
4
Mit Schreiben vom 07.04.2020, eingegangen beim Amtsgencht am selben Tag, zeigte sich Rechtsanwalt J. als Verteidiger für den Angeklagten. Er versicherte anwaltlich, dass der Angeklagte ihn um die Verteidigung gebeten habe. Weiter beantragte der Verteidiger „für den Angeklagten“ die Bestellung als Pflichtverteidiger gem. § 141 Abs. 1 Nr. 5 StPO (Bl 47).
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Mit Beschluss vom 09.04.2020 hob das Amtsgencht Nurnberg den Haftbefehl gegen den Angeklagten auf und stellte das Verfahren im Hinblick auf die zu erwartende Strafe im Verfahren 107 Js 2658/20 der Staatsanwaltschaft Amberg vorläufig gem. § 154 Abs. 2 StPO ein; über den Pflichtverteidigungsantrag entschied das Amtsgencht zunächst nicht (Bl. 48 f.).
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Mit Schriftsatz vom 17.04.2020 erinnerte der Verteidiger an den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung und bat um Entscheidung (Bl 51 f). Daraufhin lehnte das Amtsgencht Nürnberg mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 26.06.2020 in dessen Ziffer 1 den Antrag des Angeklagten auf Pflichtverteidigerbestellung unter Verweis darauf ab, dass es gem. § 141 Abs. 2 S. 3 StPO keiner (nachtraglichen) Beiordnung eines Pflichtverteidigers bedürfe, da im Zeitpunkt des Antrag bereits die Einstellung des Verfahrens beabsichtigt und durch die Staatsanwaltschaff beantragt gewesen sei (Bl. 57 ff) Ziffer 2 des Beschlusses betraf einen zwischenzeitlich nicht mehr weiter verfolgten Antrag des Angeklagten auf Änderung einer Kostenentscheidung.
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Mit Schreiben vom 27.08.2020 legte der Verteidiger gegen Ziffer 1 des vorgenannten Beschlusses „Beschwerde“ ein Zur Begründung führte er aus, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers seit der Änderung der Gesetzeslage zum 13.12.2019 auch rückwirkend erfolgen könne und ein Fall des § 141 Abs. 2 S. 3 vorliegend nicht in Betracht komme Für die Einzelheiten wird auf die Beschwerdebegründung Bezug genommen (Bl. 71 f.).
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Mit Beschluss vom 09.09.2020 half das Amtsgericht der Beschwerde unter Bezugnahme auf die Grunde des angefochtenen Beschlusses nicht ab (Bl. 73). Die Staatsanwaltschaft legte mit Verfugung vom 17.09.2020 die Akten der Kammer zur Entscheidung vor und beantragte ohne nähere Ausführungen, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
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Mit Schriftsatz vom 12.10.2020 begründete der Verteidiger die Beschwerde ergänzend Insoweit wird inhaltlich auf die dortige Begründung Bezug genommen.
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Die Beschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Dem Angeklagten ist Rechtsanwalt … als Pflichtverteidiger beizuordnen.
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1. Die Beschwerde ist zulässig Gegen gerichtliche Entscheidungen über die Pflichtverteidigerbestellung ist zwar gem. § 142 Abs. 7 StPO die sofortige Beschwerde das statthafte Rechtsmittel. Das schlicht als „Beschwerde“ bezeichnete Rechtsmittel des Verteidigers ist jedoch zwanglos als sofortige Beschwerde auszulegen.
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Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen sind erfüllt. Insbesondere ist die Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO jedenfalls nicht ausschließbar eingehalten. Zwar wurde dem Verteidiger der angefochtene Beschluss bereits am 03.07.2020 zugestellt, wohingegen die sofortige Beschwerde erst am 27.08.2020 einging. Beschwerdeführer ist jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Angeklagte; ohnehin kommt dem Verteidiger kein eigenes Beschwerderecht zu. An den Angeklagten wurde der angefochtene Beschluss lediglich formlos herausgegeben (Bl. 60), eine Zustellung samt konkretem Zustellungsdatum liegt nicht vor. Die Zustellung an den Verteidiger war für die Ingangsetzung der Wochenfrist vorliegend nicht ausreichend, da sich keine Vollmacht bei den Akten befindet § 145 a StPO).
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Ebenso ist die grundsätzlich durch die Ablehnung des Antrags auf Beiordnung des Verteidigers entstandene Beschwer des Angeklagten nicht nachträglich dadurch entfallen, dass das Verfahren zwischenzeitlich gem. § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt wurde. Zwar ist die Frage einer ruckwirkenden Pflichtverteidigerbestellung auch nach der mit Wirkung zum 13.12.2019 erfolgten Gesetzesanderung zur Pflichtverteidigerbestellung durchaus umstritten. Die Kammer versteht die Intention des Gesetzgebers, insbesondere unter Berücksichtigung des Hintergrunds der Umsetzung der sog „PKH-Richtlinie“, dahingehend, dass nunmehr für die Frage der Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr allein die Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung im Vordergrund steht, sondern dass auch die Bedurfnisse mittelloser Beschuldigter in den Blick zu nehmen sind (so auch Meyer-Goßner/Schmitt. StPO, 63. Auflage 2020, § 142 Rz. 19 f.) Zu berücksichtigen ist, dass auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Recht des Beschuldigten genannt ist, bei Mittellosigkeit den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Ebenso ist bezogen auf den konkreten Fall zu beachten, dass es sich bei der erfolgten Verfahrenseinstellung um eine vorläufige handelt und daher eine Wiederaufnahme und ein Fortgang des Verfahrens nicht als völlig unwahrscheinlich erscheinen.
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Aus den vorstehenden Gründen schließt sich die Kammer der Rechtsauffassung an, dass eine nachträgliche Bestellung jedenfalls dann möglich ist, wenn ein Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde. Eine rechtzeitige Anbnngung des Antrags liegt im gegenständlichen Verfahren vor, da die Sache bei Eingang des Antrags aufgrund des überschaubaren Umfangs unmittelbar entscheidungsreif war.
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2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
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a) Gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt.
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Der Angeklagte, dem der Tatvorwurf im Ermittlungsverfahren bereits eröffnet worden war, ist nicht völlig ohne Verteidiger, da sich RA … ursprünglich als Wahlverteidiger angezeigt und sein Mandat anwaltlich versichert hatte. Dem unverteidigten Beschuldigten steht jedoch insoweit der Beschuldigte mit Wahlverteidiger gleich, der für den Fall der Beiordnung die Niederlegung seines Mandats ankündigt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 141 Rz. 4). Eine solche Ankündigung der Niederlegung des Mandats ist zwar in keinem der in der Akte enthaltenen Schriftsätze des Verteidigers erfolgt, die Erklärung ist jedoch konkludent aus dem Begehren der Beiordnung zu entnehmen (vgl. Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Auflage 2019, § 141 Rz 1; Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2014, § 141 Rz. 4 m.w.N.).
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c) Vorliegend war ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gegeben, da der Angeklagte sich in anderer Sache seit 11.03.2020 in Untersuchungshaft befand. Die vormalige zeitliche Beschränkung auf Fälle einer Unterbringungsdauer von mindestens drei Monaten ist mit der bereits angeführten Gesetzesänderung entfallen.
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d) Es lag seit 07.04.2020 ein ausdrücklicher Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger vor. Zwar war in diesem Zeitpunkt bereits ausdrücklich in der Akte dokumentiert, dass sowohl von Seiten des Gerichts (Anregung an die Staatsanwaltschaft am 01.04.2020), als auch von Seiten der Strafverfolgungsbehörden (Antrag der Staatsanwaltschaft vom 06.04.2020) eine umgehende Verfahrenserledigung nach § 154 Abs. 2 StPO beabsichtigt war. Tatsächlich wurde das Verfahren bereits mit Beschluss vom 09.04.2020 und damit gerade einmal 2 Tage nach Eingang des Pflichtverteidigerantrags eingestellt, ohne dass es vorher zu weiteren Maßnahmen gekommen ware.
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Gleichwohl dringt der Verteidiger mit dem Argument, dass die in § 141 Abs. 2 S. 3 StPO enthaltene Möglichkeit, nach der eine Bestellung als Pflichtverteidiger in den Fällen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, vorliegend nicht zur Anwendung kommen könne, durch. Denn aus dem ausdrücklichen Wortlaut, der alleine auf § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und 3 StPO, nicht jedoch auf § 141 Abs. 1 StPO verweist, wie auch aus der systematischen Stellung innerhalb des Absatzes 2 der genannten Vorschrift, ergibt sich, dass das Absehen der Beiordnung nur für die Fälle der von Amts wegen, nicht jedoch auf die auf Antrag des Beschuldigten vorzunehmenden Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommt Eine analoge Anwendung scheidet insofern aus. Die Ablehnung der Beiordnung konnte daher durch das Amtsgericht nicht unter Verweis darauf abgelehnt werden, dass die Einstellung des Verfahrens bereits unmittelbar bevorstand (vgl. auch LG Magdeburg, Beschluss vom 24.07.2020 - 5 Gs 1070/20, LG Frankenthal, Beschluss vom 16.06.2020 - 7 Qs 114/20; LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 27.08.2020 - 3 Qs 121/20).
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e) Die Kammer trifft gem. § 309 Abs. 2 StPO die in der Sache erforderliche Entscheidung und bestellt Rechtsanwalt … als Pflichtverteidiger Hinderungsgründe, etwa aus § 142 Abs. 5 StPO, liegen nicht vor.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 467 Abs. 1 StPO analog.