Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 24.02.2020 – AN 2 E 20.00070
Titel:

Bindung an Bescheinigung der Ausbildungsstätte bei BAföG  

Normenketten:
BAföG § 9, § 15 Abs. 3, § 48 Abs. 2
VwGO § 123 Abs. 1 S. 1
BPOWISO § 7, § 11, § 31
Leitsätze:
1. Der durch § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BAföG zugelassene Eignungsnachweis entfaltet ebenso wie der Ausdruck des individuellen ECTS-Kontostandes als feststellender Verwaltungsakt Bindungswirkung für die Förderungsverwaltung.  (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dies gilt nicht, wenn der Nachweis offenbar unrichtig und deshalb nichtig ist, weil die Ausbildungsstätte zu Unrecht übliche Leistungen bescheinigt, da sie außerhalb ihrer Kompetenz eine Ausbildungsverzögerung für entschuldbar hält.  (Rn. 33 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
BAföG, Weiterförderung über das 4. Fachsemester hinaus, keine Bindung an einen offenkundig unrichtigen positiven Leistungsnachweis der Hochschule, keine alleinige Kausalität i.S.d. § 15 Abs. 3 BAföG bzgl. Erkrankung und Pflege, Ausbildungsförderung, Hochschule, Leistungen, Studiengang, Fachsemester, Bachelor
Fundstelle:
BeckRS 2020, 2780

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem BAföG über das vierte Fachsemester hinaus.
2
Der Antragsteller befindet sich seit dem Wintersemester 2019/2020 im fünften Fachsemester des Studiengangs Sozialökonomik (Bachelor) an der … … Zum Ende des vierten Fachsemesters wurde der Antragsteller aufgefordert, den nach §§ 9, 48 BAföG erforderlichen positiven Leistungsnachweis einzureichen. Er wurde zudem auf die Möglichkeit der Geltendmachung von Gründen im Sinne des § 48 Abs. 2 BAföG hingewiesen.
3
Am 8. August 2019 reichte der Antragsteller hierauf eine Leistungsübersicht vom 7. August 2019 ein, auf der alle bestandenen und nicht bestandenen Prüfungen des Antragstellers vermerkt waren. Die Übersicht wies zu diesem Zeitpunkt 70 ECTS-Punkte aus. Im beiliegenden Schreiben vom 7. August 2019 erklärte der Antragsteller, er werde sein Studium voraussichtlich nach sieben Fachsemestern abschließen.
4
Mit Schreiben vom 8. August 2019 wurden erneut die noch fehlenden Unterlagen (u.a. der positive Leistungsnachweis) angefordert. Daraufhin reichte der Antragsteller am 10. Oktober eine von der Hochschule ausgefüllte Leistungsbescheinigung nach § 48 BAföG (Formblatt 5) ein. Dieser war der Satz zu entnehmen, dass „bis zum 15. August 2019 die üblichen Leistungen erbracht“ worden seien. Der Antragsteller habe 85 ECTS-Punkte erreicht. Darüber hinaus enthält sie den Zusatz, dass der Antragsteller am 17. Juli 2019 bei der Prüfung Empirische Sozialforschung II mit 5 ECTS erkrankt gewesen sei.
5
Mit Bescheid vom 6. Dezember 2019 lehnte der Antragsgegner eine weitere Förderung nach dem BAföG ab Oktober 2019 ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine weitere Förderung einen positiven Leistungsnachweis voraussetze. Im Fall des Antragstellers würden sich die Leistungsnachweise widersprechen. Es sei ersichtlich, dass der Antragsteller die in der Studien- und Prüfungsordnung vorgesehene ECTS-Grenze unterschritten habe. Es sei ihm dennoch der „übliche Leistungsstand“ bestätigt worden. Dies sei widersprüchlich und somit entfalle die Bindungswirkung an den Nachweis. Der Eignungsnachweis gemäß § 48 Abs. 1 BAföG sei deshalb nicht erbracht.
6
Mit Schreiben vom 18. Dezember 2019 legte der Antragsteller hiergegen Widerspruch ein und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass ihm Ausbildungsförderung nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes zustehe. Maßgeblich sei allein die von der Hochschule ausgestellte Leistungsbescheinigung. Diese weise nach, dass er die üblichen Leistungen erbracht habe.
7
Der Antragsteller beantragte mit Schriftsatz vom 13. Januar 2020 sinngemäß, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheids vom 6. Dezember 2019 dazu zu verpflichten, dem Antragsteller Ausbildungsförderung nach dem BAföG in gesetzlicher Höhe für den Bewilligungszeitraum 10/2019 bis 09/2020 zu gewähren.
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Der Antragsteller begründete dies im Wesentlichen damit, dass er seinen BAföG-Antrag bereits im Juli 2019 eingereicht habe. Auch die Bescheinigung der Hochschule über die üblichen Leistungen habe er Anfang Oktober eingereicht. Erst am 6. Dezember 2019 sei daraufhin der (negative) Bescheid ergangen. Es gebe keine Gründe für die Ablehnung. Der Antragsteller habe aufgrund der Einstellung der Förderung auf Kosten seines 79-jährigen Vaters leben müssen, der noch zwei weitere Söhne zu unterstützten habe und deswegen einen Kredit habe aufnehmen müssen. Die Mutter lebe im Pflegeheim. Der Antragsteller habe in dieser Zeit acht Kilogramm abgenommen, da er sich nicht ausreichend Essen habe leisten können. Dies sei für ihn als Diabetiker eine bedrohliche Lage. Förderung stehe im nach dem Gesetzestext zu, denn die Leistungsbescheinigung der Hochschule bestätige ihm die üblichen Leistungen. Im Gegensatz zum Studentenwerk habe die Hochschule die von ihm mehrfach mündlich geschilderten Gründe bei der Entscheidung berücksichtigt.
9
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
10
Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass eine Widersprüchlichkeit des Nachweises gegeben sei. Tatsächlich habe der Antragsteller die üblichen Leistungen nicht erbracht, dennoch sei ihm von der Hochschule eine positive Bestätigung hierüber ausgestellt worden, da er eine Klausur krankheitsbedingt versäumt habe. Eine Bindungswirkung an den Nachweis bestehe deshalb nicht. Die Hochschule habe ihre Kompetenz überschritten, indem sie das krankheitsbedingte Fehlen des Antragstellers miteinbezogen habe. Einen Nachweis im Sinne des § 48 Abs. 1 BAföG habe der Antragsteller also nicht erbracht. Die Leistungen seien zu versagen gewesen.
11
Das Gericht bat die … … um Auskunft, welche Leistungen die Hochschule im Studiengang Sozialökonomie als „übliche Leistungen“ nach dem vierten Fachsemester ansehe. Mit Schreiben vom 23. Januar 2020 erfolgte folgende Auskunft:
„…teilen wir mit, dass nach Auskunft des BAföG-Beauftragten des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der …, Herrn (…), ein 75-Prozent-Kriterium angewandt wird.
Danach gelten 90 ECTS-Punkte als „übliche Leistungen“ nach vier Fachsemestern. In begründeten Ausnahmefällen (insbesondere längere Krankheiten) kann auf Antrag davon abgewichen werden.“
12
Auf nochmalige Anfrage des Gerichts, ob es eine Rechtsgrundlage für die Anwendung des 75-Prozent-Kriteriums gebe, teilte die Hochschule mit Schreiben vom 31. Januar 2020 mit:
„…,teilen wir mit, dass dem 75-Prozent-Kriterium keine ausdrückliche Rechtsgrundlage zugrunde liegt.
Die Anwendung der75-Prozent-Hürde ergibt sich dadurch, dass entsprechend dem Studienverlauf nach vier Semestern 120 ECTS-Punkte zu erbringen sind. 75% entsprechen sodann 90 ECTS-Punkten nach drei Semestern. Ein geordneter Studienverlauf einer Studierenden bzw. eines Studierenden kann dadurch belegt werden, dass bereits 75% der zu erbringenden Leistungen nachgewiesen werden können.
Diese Annahme resultiert zunächst aus dem Erfahrungswissen, dass es auch bei durchschnittlich leistungsstarken Studierenden immer wieder verschiedene Ursachen dafür geben kann, dass das Soll von 30 ECTS-Punkten pro Semester nicht in jedem Semester erreicht wird (z.B. Prüfungsunfähigkeit, ungünstige Semesterlage der Lehrveranstaltungen), dieses Defizit dann aber im Laufe des weiteren Studiums wieder ausgeglichen wird. Zum anderen wird dadurch berücksichtigt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Studierenden mehr als sechs Fachsemester bis zum Studienabschluss benötigt. Beide Aspekte stehen einem ordnungsgemäßen Studium jedoch nicht entgegen, denn die Prüfungsordnung gesteht den Studierenden von Vornherein bereits eine Überschreitungsfrist von zwei Semestern zu (vgl. §§ 7, 11 und 31 BPOWISO), um genau solche Unabwägbarkeiten abzudecken. Ein endgültiges Nichtbestehen des Studiengangs ist grundsätzlich erst nach einem Studium von mehr als acht Semestern die Folge.“
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Der Antragsteller reichte mit Schreiben vom 5. Februar 2020 dem Gericht eine aktuelle Leistungsübersicht über seine bestandenen Leistungen bis zum 5. Februar 2020 nach. Die Übersicht weist 85 ECTS-Punkte aus. Zudem wurde eine Bestätigung des Klinikums … vorgelegt, aus der sich ergibt, dass der Antragsteller vom 10. bis 15. Oktober 2018 stationär aufgrund einer Peri-Myokarditis (Entzündung des Herzmuskels und Entzündung des Perikards) behandelt wurde. Des Weiteren liege beim Antragsteller Diabetes mellitus Typ I seit dem elften Lebensjahr vor.
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Zudem reichte der Antragsteller Unterlagen bezüglich der Erkrankungen seiner Mutter ein. Diese befinde sich seit Juli 2018 in einem Pflegeheim, nachdem sie vom 15. bis 26. Juli 2018 stationär behandelt wurde, unter anderem wegen einer Leberzirrhose. Der Antragsteller und sein Vater erklärten hierzu, dass der Antragsteller die Mutter ab Mai 2018 bis zu ihrer Einlieferung ins Krankenhaus im Juli 2018 regelmäßig bei seinem Vater zuhause in … gepflegt habe.
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Auf die dem Antragsgegner erstmals offengelegte Krankheitsgeschichte und dem Umstand der Pflege der Mutter erwiderte der Antragsgegner im Wesentlichen, dass aufgrund der bereits im ersten Semester entstandenen Rückstände keine alleinige Ursächlichkeit der Erkrankung des Antragstellers und der Pflege der Mutter vorliege. Deshalb könne auch keine verspätete Vorlage des Nachweises nach § 48 Abs. 2 BAföG i.V.m. § 15 Abs. 3 BAföG gewährt werden.
16
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
II.
17
Der zulässige Antrag ist unbegründet, weil der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nach § 123 VwGO nicht glaubhaft gemacht hat.
18
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
19
Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, einen Anspruch auf Ausbildungsförderung nach dem BAföG für den Bewilligungszeitraum 10/2019 bis 09/2020 zu besitzen. Der Anspruch über das vierte Fachsemester hinaus scheitert daran, dass kein positiver Leistungsnachweis nach § 48 Abs. 1 BAföG erbracht wurde (1.) und keine Gründe vorliegen, die eine verspätete Vorlage des Nachweises nach § 48 Abs. 2 i.V.m. § 15 Abs. 3 BAföG rechtfertigen könnten (2.).
20
1. Gemäß § 9 Abs. 1 BAföG wird eine Ausbildung nur bei gegebener Eignung gefördert. Der Nachweis der Eignung wird gemäß § 9 Abs. 2 BAföG mit der Vorlage der nach § 48 BAföG erforderlichen Leistungsnachweise erbracht. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BAföG wird vom fünften Fachsemester an Ausbildungsförderung für den Besuch einer Hochschule nur von dem Zeitpunkt an geleistet, ab dem der Auszubildende eine nach Beginn des vierten Fachsemesters ausgestellte Bescheinigung der Ausbildungsstätte darüber, dass er die bei geordnetem Verlauf seiner Ausbildung bis zum Ende des jeweils erreichten Fachsemesters üblichen Leistungen erbracht hat, vorlegt. Der Leistungsnachweis kann gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BAföG auch durch einen nach Beginn des vierten Fachsemesters ausgestellten Nachweis über die bis dahin erworbene Anzahl von Leistungspunkten nach dem Europäischen System zur Anrechnung von Studienleistungen (ECTS) erfolgen, wenn die bei geordnetem Verlauf der Ausbildung bis zum Ende des jeweils erreichten Fachsemesters übliche Zahl an ECTS-Leistungspunkten nicht unterschritten wird.
21
Üblich im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 BAföG sind diejenigen Leistungen, die nach der Ordnung der Hochschule bis zum Ende des jeweils erreichten Fachsemesters zu erwarten sind. Das beurteilt sich in erster Linie nach den für den gewählten Studiengang geltenden normativen Vorgaben, insbesondere nach den einschlägigen Ausbildungs- und Prüfungsordnungen der Hochschule. In Ermangelung entsprechender Bestimmungen ist nicht auf das (tatsächliche) Studierverhalten der überwiegenden Mehrheit der Studierenden abzustellen. Vielmehr bestimmt sich die Üblichkeit der Leistungen in diesem Fall nach den sonstigen nicht förmlichen Vorgaben der Hochschule, die von den Auszubildenden als Verhaltensmaßregeln oder Richtlinien erkannt werden können und deren Einhaltung von der Hochschule als erforderlich angesehen und empfohlen wird, um die Ausbildung erfolgreich durchführen und abschließen zu können. Die Vorgaben der Hochschule sind für die Feststellung maßgebend, wann bzw. bis zu welchem Semester welche Leistungsnachweise zu erbringen sind. Dies entspricht auch der Zielsetzung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Danach soll ein Anspruch auf Ausbildungsförderung für den Besuch einer Hochschule grundsätzlich nur dann bestehen, wenn die jeweilige Ausbildung im Hinblick auf das angestrebte Ausbildungsziel in der Weise planmäßig angelegt und durchgeführt wird, dass dieses Ziel in der dafür normalerweise zu veranschlagenden Zeit, d.h. der Förderungshöchstdauer, erreichbar ist. Die Leistungsbescheinigung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 BAföG dient dazu, die in § 9 Abs. 1 BAföG umschriebene Förderungsvoraussetzung der Eignung, also die erkennbaren Studienfortschritte des Auszubildenden, nachzuweisen. Legt der Auszubildende eine entsprechende Bescheinigung vor, dann ist die Erwartung gerechtfertigt, er werde sein Studium - wie grundsätzlich vorausgesetzt - innerhalb der Förderungshöchstdauer abschließen. Liegen die Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigung nicht vor, steht umgekehrt fest, dass die bisherigen Leistungen des Auszubildenden nicht mehr erwarten lassen, er werde das angestrebte Ausbildungsziel innerhalb der Regelstudienzeit erreichen. Die Forderung nach Vorlage einer Bescheinigung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 BAföG trägt auf diese Weise zugleich dem Interesse an einer sparsamen und sinnvollen Verwendung der von der Allgemeinheit für die Ausbildungsförderung aufzubringenden Mittel Rechnung. Dieser Zielsetzung widerspräche es, wenn das tatsächliche Verhalten der Studierenden den Maßstab der üblichen Leistungen bilden würde (BVerwG, U.v. 25.8.2016 - 5 C 54.15 - juris).
22
Der Antragsteller befand sich zum Vorlagezeitpunkt der positiven Leistungsbescheinigung (10. Oktober 2019) zu Beginn des fünften Semesters des Studiengangs Sozialökonomik (Bachelor) an der … … Alle Prüfungsergebnisse der vergangenen vier Semester waren bereits bekannt. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 der Rahmenprüfungsordnung für die Bachelorstudiengänge des Fachbereichs Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der … vom 1. August 2006, geändert durch Satzung vom 10. August 2017 (BPOWISO), ist das Studiensemester mit 30 ECTS-Punkten veranschlagt. Es existiert also eine normative Vorgabe, die sich aus der Rahmenprüfungsordnung ergibt und in der festgelegt wurde, dass Leistungen in einem Umfang von 30 ECTS pro Semester von den Studierenden erwartet werden. Diese sind als die „üblichen Leistungen“ im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 BAföG anzusehen. Im Falle des Antragstellers, wären am Ende des vierten Semesters bzw. Beginn des fünften Semesters insgesamt 120 ECTS zu erreichen gewesen.
23
Da normative Vorgaben existieren, darf nicht auf anderweitige Vorgaben der Hochschule zurückgegriffen werden (BVerwG, U.v. 25.8.2016 - 5 C 54.15 - juris Rn. 26).
24
In Abweichung dieser normativen Vorgaben wendet die … … - wie im Schreiben vom 31. Januar 2020 mitgeteilt - ein 75-Prozent-Kriterium an, dass sich am tatsächlichen Verhalten der Studierenden orientiere. Somit sieht die Hochschule 90 ECTS-Punkte als die „üblichen Leistungen“ nach dem vierten Semester an. Der Anwendung dieses 75-Prozent-Kriteriums liegt keine Rechtsgrundlage zugrunde. Vielmehr ergebe sich die Anwendung zunächst aus Erfahrungswissen, dass es auch bei durchschnittlich leistungsstarken Studierenden immer wieder verschiedene Ursachen geben könne, dass das Soll von 30 ECTS-Punkten pro Semester nicht in jedem Semester erreicht werde (z.B. Prüfungsunfähigkeit, ungünstige Semesterlage der Lehrveranstaltungen), dieses Defizit dann aber im Laufe des weiteren Studiums wieder ausgeglichen werde. Zum anderen sei dadurch berücksichtigt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Studierenden mehr als sechs Fachsemester bis zum Studienabschluss benötige. Beide Aspekte stünden jedoch einem ordnungsgemäßen Studium nicht entgegen, denn die Prüfungsordnung gestehe jedem Studierenden von Vornherein bereits eine Überschreitungsfrist von zwei Semestern zu, um genau solche Unabwägbarkeiten abzudecken.
25
Aus den oben genannten Gründen bestätigt die Hochschule deshalb schon bei Vorliegen von 90 ECTS-Punkten die „üblichen Leistungen“ nach § 48 Abs. 1 Satz 1 BAföG.
26
Mit diesem Verhalten orientiert sich die Hochschule entgegen der oben dargelegten Rechtsprechung am tatsächlichen Studierverhalten der überwiegenden Mehrheit der Studierenden, indem sie berücksichtigt, dass nach Angaben der Hochschule ein Teil der Studenten nicht in jedem Semester 30 ECTS-Punkte erreiche und mehr als sechs Fachsemester bis zum Studienabschluss benötige. Zudem macht die Hochschule die Ausnahme zur Regel, indem sie die in den Prüfungsordnungen vorgesehene Überschreitungsfrist von zwei Semestern als Regelfall miteinbezieht.
27
Vorliegend hat der Antragsteller dem Antragsgegner zwei Leistungsnachweise vorgelegt und einen weiteren zur Gerichtsakte gegeben.
28
Die Bescheinigung vom 7. August 2019 ist eine „Übersicht über alle Leistungen“ im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BAföG, die bis zum 7. August 2019 eine Punktzahl von 70,0 ECTS bestätigt.
29
Die Bescheinigung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BAföG vom 26. September 2019 (Formblatt 5) enthält die Erklärung der Hochschule, dass die üblichen Leistungen (insgesamt 85 ECTS) erbracht worden seien und dass der Antragsteller am 17. Juli 2019 bei der Prüfung Empirische Sozialforschung II mit 5 ECTS erkrankt gewesen sei.
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Im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens legte der Antragsteller auf Nachfrage am 5. Februar 2020 eine „Übersicht über bestandene Leistungen“ im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BAföG vom selben Tag vor. Darin wurden dem Antragsteller 85-ECTS Punkte bestätigt.
31
Die Notenübersicht vom 7. August 2019 stellt aufgrund der ausgewiesenen Punktzahl von lediglich 70 ECTS keine positive Bescheinigung dar und das weder nach den Maßstäben des § 5 Abs. 1 Satz 1 BPOWISO (120 ECTS) noch nach den in der Praxis angewandten Maßstäben der Hochschule (90 ECTS). Gleiches gilt für die im gerichtlichen Verfahren nachgereichte aktuelle Übersicht vom 5. Februar 2020, die lediglich 85 ECTS-Punkte bescheinigt.
32
An die am 26. September 2019 erstellte positive Bescheinigung der Hochschule war der Antragsgegner nicht gebunden, da sich die Bescheinigung als offenkundig unrichtig darstellt.
33
Der durch § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BAföG zugelassene Eignungsnachweis entfaltet, ebenso wie die Möglichkeit des Ausdrucks des individuellen ECTS-Kontostandes nach Nr. 3, als feststellender Verwaltungsakt auch für die Förderungsverwaltung Bindungswirkung (Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Auflage 2020, § 48 Rn. 4). Von dem Zeitpunkt an, zu dem der Auszubildende einen den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden positiven Eignungsnachweis vorgelegt hat, besteht für das Amt für Ausbildungsförderung die Vermutung der Eignung. Aus der gesetzlichen Regelung folgt unmittelbar, dass der von der Ausbildungsstätte ausgestellte, einen Verwaltungsakt darstellende Eignungsnachweis Bindungswirkung für das Amt für Ausbildungsförderung hat, sodass diesem insoweit eine eigene Prüfungskompetenz nicht eingeräumt ist (Rothe/Blanke, BAföG, 5. Auflage, 39. Lfg., Mai 2015, § 48 Rn. 10; so auch: OVG Bautzen, B.v. 10.1.2006 - 5 BS 143/05 - juris; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 23.10.2017 - 6 S 35.17 - juris; Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 7. Auflage 2020, § 48 Rn. 4). Eine Bindung besteht für das Amt für Ausbildungsförderung aber nicht, wenn sich die Bescheinigung als offenkundig unrichtig darstellt. Denn eine Bindung besteht nur an rechtswidrige, nicht an nichtige Verwaltungsakte, etwa wenn bescheinigt wird, dass der Auszubildende die bei geordnetem Verlauf der Ausbildung zu erbringenden Leistungen bis zum Ende des vierten Semesters erbracht hat, sich jedoch aus der Bescheinigung zugleich ergibt, dass eine erforderliche Prüfung hierfür erst noch abzulegen ist (vgl. Rothe/Blanke, BAföG, 5. Auflage, 39. Lfg., Mai 2015, § 48 Rn. 10). Ein Verwaltungsakt ist nach Art. 40 SGB X nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist.
34
Hier ergibt sich die Nichtigkeit daraus, dass dem Antragsteller bescheinigt wurde, er habe die üblichen Leistungen erreicht, obwohl er zum damaligen Zeitpunkt lediglich 85 ECTS-Punkte erbracht hatte. Die Hochschule durfte die versäumte Prüfung am 17. Juli 2019 nicht als entschuldbaren Grund mit in ihre Bestätigung der üblichen Leistungen einbeziehen.
35
Zu den Aufgaben der Ausbildungsstätte gehört nicht, die Gründe zu erforschen und zu berücksichtigen, auf denen ein Zurückbleiben hinter den üblichen Leistungen beruht. Die von der Ausbildungsstätte zu erteilende Bescheinigung nach § 48 BAföG hat sich auf die Angabe zu beschränken, ob der Auszubildende die üblichen Leistungen erbracht hat oder nicht. Wohl aber hat das Amt für Ausbildungsförderung, wenn der Leistungsrückstand die Erteilung der Eignungsbescheinigung durch die Ausbildungsstätte nicht zugelassen hat, im Bescheid über den Antrag auf Förderung der Ausbildung für das 5. Fachsemester zu entscheiden, ob wegen der vom Auszubildenden vorgebrachten Gründe von der Vorlage der Eignungsbescheinigung zu diesem Zeitpunkt abgesehen und Ausbildungsförderung weiterbewilligt werden kann (BVerwG, U.v. 16.11.1978 - 5 C 38.77 - juris Rn. 22). Die Anerkennung von Gründen, die eine verspätete Vorlage der Eignungsbescheinigung rechtfertigen, obliegt gemäß § 48 Abs. 2 BAföG ausschließlich dem Amt für Ausbildungsförderung und nicht der Ausbildungsstätte (Rothe/Blanke, BAföG, 5. Auflage, 39. Lfg., Mai 2015, § 48 Rn. 10).
36
Dem Antragsteller wurde, obwohl er nicht die üblichen Leistungen (weder die 120 ECTS des § 5 Abs. 1 Satz 1 BPOWISO noch die 90 ECTS der Hochschulpraxis) erbracht hatte, die Eignung bescheinigt. Das Vorgehen der Hochschule - hier neben der Feststellung der erreichten ECTS-Punkte auch eine eigene Wertung über die Gründe, die eine Verzögerung rechtfertigen könnten, zu treffen - widerspricht jedoch gänzlich dem in § 48 Abs. 1 und 2 BAföG angelegten System. Wie oben dargelegt hat die Hochschule die Bescheinigung nach § 48 Abs. 1 BAföG zu erteilen und darin lediglich mitzuteilen, ob die objektiv zu bestimmenden „üblichen Leistungen“ vorliegen. In einem zweiten Schritt besteht dann durch das Amt für Ausbildungsförderung die Möglichkeit nach § 48 Abs. 2 BAföG entschuldbare Gründe (wie Erkrankungen usw.) zu berücksichtigen. Die Hochschule hat hier die dem Amt für Ausbildungsförderung zustehende Prüfung vorgenommen, obwohl sie hierzu nach dem BAföG keinerlei Befugnis hat.
37
Die am 26. September 2019 erstellte positive Bescheinigung der Hochschule stellte sich deshalb als offenkundig unrichtig dar. Die Bescheinigung war in sich widersprüchlich und litt deshalb an einem schwerwiegenden offensichtlichen Fehler. Dies führte hier zur Nichtigkeit im Sinne des § 40 SGB X. Der Antragsgegner war somit nicht an den Nachweis gebunden und hat demnach zu Recht die Förderung über das vierte Semester hinaus verweigert, da kein positiver Leistungsnachweis beigebracht wurde.
38
2. Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf Zulassung einer späteren Vorlage des Leistungsnachweises nach § 48 Abs. 2 BAföG. Nach § 48 Abs. 2 BAföG kann das Amt für Ausbildungsförderung die Vorlage der Bescheinigung zu einem entsprechend späteren Zeitpunkt zulassen, wenn Tatsachen vorliegen, die voraussichtlich eine spätere Überschreitung der Förderungshöchstdauer nach § 15 Abs. 3 BAföG rechtfertigen. Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG wird über die Förderungshöchstdauer hinaus für eine angemessene Zeit Ausbildungsförderung geleistet, wenn die Höchstdauer infolge schwerwiegender Gründen überschritten worden ist.
39
Die mit ärztlicher Bescheinigung vom 15. Oktober 2018 geltend gemachte im Oktober 2018 erlittene Peri-Myokarditis sowie die Diabetes-Erkrankung seit dem elften Lebensjahr können einen Anspruch nach § 48 Abs. 2 BAföG ebenso wenig begründen, wie die Pflege der Mutter während des Sommersemesters 2018.
40
Eine Erkrankung ist zwar grundsätzlich ein außergewöhnlicher, den ordnungsgemäßen Ausbildungsablauf beeinträchtigender Umstand und damit ein schwerwiegender Grund im Sinne von § 48 Abs. 2 BAföG i.V.m. § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG. Der Antragsteller hat eine Peri-Myokarditis vom 10. bis 15. Oktober 2018 nachgewiesen. Zudem geht aus dem Arztbrief hervor, dass der Antragsteller seit seinem elften Lebensjahr an Diabetes leidet. Allerdings waren die Erkrankungen jedenfalls nicht alleine ursächlich dafür, dass der Antragsteller den Leistungsnachweis nach § 48 Abs. 1 BAföG nicht vorlegen konnte. So hatte der Antragsteller bereits in seinem ersten Semester (Wintersemester 2017/2018) einen Rückstand von 15 ECTS aufgebaut. Bezüglich des ersten Semesters gab der Antragsteller auch nicht an, dass es aus krankheitsbedingten Gründen zu einer Verzögerung gekommen sei, sondern dass er die Klausur Soziologie unterschätzt habe. Auch im Sommersemester 2019 kam es zu einem Rückstand von 7,5 ECTS, zu dem keine Erklärung zu den Gründen erfolgte. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die aufgebauten Rückstände nicht allein krankheitsbedingt entstanden sind. Die Beweislast im Hinblick auf die Ursächlichkeit der vorgetragenen Gründe für den Ausbildungsrückstand trifft den Antragsteller. Kann die Ursächlichkeit der geltend gemachten Umstände nicht mit Gewissheit aufgeklärt werden, geht dies zu seinen Lasten (vgl. Rothe/Blanke, BAföG, 5. Auflage, 41. Lfg., September 2016, § 15 Rn. 13).
41
Die Pflege der Mutter in den Monaten Mai bis Juli 2018 scheidet als Grund im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 2 BAföG schon deshalb aus, weil auch hier aufgrund des Wortlauts „infolge“ die Ursächlichkeit der Pflege für die Verzögerung dargelegt werden muss. Da es im Sommersemester 2018 zu keinerlei Studienverzögerung kam - denn der Antragsteller erreichte in diesem Semester die in § 5 Abs. 1 Satz 2 BPOWISO vorgesehenen 30 ECTS-Punkte - konnte hier das Vorliegen der restlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Nr. 2 BAföG, wie beispielsweise die Einordnung in (mindestens) Pflegegrad 3, offengelassen werden.
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Nach alledem war der Antrag abzulehnen.
43
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 188 S. 2 VwGO.