Inhalt

VG München, Urteil v. 21.09.2020 – M 8 K 18.4715
Titel:

Nachbarklage gegen Baugenehmigung für die Aufstockung eines Bestandsgebäudes im Innenstadtbereich

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1, Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1
BayBO Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 1, Art. 59 S. 1, S. 2, Art. 62 Abs. 3, Art. 63 Abs. 1 S. 1
BGB § 242
Leitsätze:
1. Grundsätzlich kann der einzelne Wohnungseigentümer baurechtliche Nachbarrechte aus eigenem Recht geltend machen, wenn eine konkrete Beeinträchtigung seines Sondereigentums im Raum steht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Wohnfrieden, insbesondere bei Einblickmöglichkeiten in Nachbargrundstücke, ist planungsrechtlich grundsätzlich nicht geschützt. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Zulassung einer Abstandsflächen-Abweichung setzt Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Lüftung (sowie eine Verringerung der freien Flächen des Baugrundstücks) im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage gegen Baugenehmigung, Aufstockung eines viergeschossigen Rückgebäudes, Errichtung von sechs Wohneinheiten auf dem Dach, Gebot der Rücksichtnahme, Abweichung von den Abstandsflächen, Nachbarklage, Wohnungseigentum, Sondereigentum, Klagebefugnis, Rücksichtnahmegebot, erdrückende Wirkung, Belichtungsverschlechterung, Einblickmöglichkeit, Abstandsfläche, Abweichung, Atypik
Fundstelle:
BeckRS 2020, 27801

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist für die Beigeladene gegen, für die Beklagte ohne Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Aufstockung des Gebäudes …str. ... um ein Terrassengeschoss auf dem Dach des dritten Obergeschosses zur Errichtung von sechs Wohneinheiten auf dem Grundstück …str. ..., Fl.Nr. … Gem. … … … (im Folgenden: Baugrundstück). Das Baugrundstück ist gegenwärtig mit mehreren, zum Teil grenzständig errichteten ein- bis fünfgeschossigen (Rück-)Gebäuden bebaut.
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Die Klägerin ist WEG-Miteigentümerin des Rückgebäudes …str. ... (Wohnung Nr. 9), Fl.Nr. …, Gem. … … … Das Anwesen …str. ... ist gegenwärtig mit einem viergeschossigen Vordergebäude, einem zweigeschossigen Rückgebäude sowie einem Verbindungsbau bebaut (im Folgenden: Nachbargrundstück).
3
Das Nachbargrundstück schließt sich im Nordosten an das Baugrundstück an. Das Rückgebäude, welches aufgestockt werden soll, ist an die nordöstliche, rückwärtige Grundstücksgrenze angebaut, das zweite und dritte Obergeschoss rücken dort Richtung Südwesten um ca. 4,0 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze ab, wodurch ein Lichthof entsteht. Die Klägerin ist Sondereigentümerin der an der gemeinsamen Grenze errichteten Eigentumswohnung im zweiten Obergeschoss des Rückgebäudes auf dem Nachbargrundstück. Die nach Südwesten hin ausgerichtete Terrasse der Klägerin schließt an den Lichthof an, die Außenwand der Wohnung ist ca. 3,0 m von der gemeinsamen Grenze Richtung Nordosten zurückversetzt. Sowohl die Nordostwand des aufzustockenden Gebäudes als auch die gegenüberliegende Südwestwand des Rückgebäudes auf dem Nachbargrundstück sind mit Fenstern versehen.
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Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines einfachen, übergeleiteten Baulinienplanes, welcher eine vordere Baulinie festsetzt.
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Vgl. zur Lage der Grundstücke und ihrer Bebauung anliegenden Lageplan im Maßstab 1 : 1000, welcher eine Darstellung des Vorhabens enthält (nach dem Einscannen möglicherweise nicht mehr maßstabsgerecht):
 
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Mit Bauantrag vom 28. September 2017 (mit Handeinträgen vom 15. März 2018 und 2. Mai 2018) beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung nach PlanNr. … zur Errichtung von sechs Wohneinheiten in Holzbauweise und Abbruch einer bestehenden Wohnung auf dem Dach des Rückgebäudes …str. ..., Errichtung einer Fluchtleiteranlage, Teilnutzungsänderung im 2. Obergeschoss sowie die Herstellung eines Dacheinschnitts mit Freisitz. Mit dem Bauantrag wurde u.a. ein Antrag auf Abweichung von den erforderlichen Abstandsflächen zum Nachbargrundstück gestellt. Vorgesehen ist nach den eingereichten Plänen die Aufstockung des streitgegenständlichen Gebäudes um ein weitestgehend um ca. 3 m von der Gebäudeaußenkante zurückspringendes Terrassengeschoss mit einer Wandhöhe von 15,39 m (Bestand 12,39 m). An der Südostseite soll das Terrassengeschoss auf einer Breite von ca. 4,6 m an die Giebelwand des Gebäudes …straße ... Fl.Nr. … anschließen, seine nordöstliche Wand soll zunächst parallel zur nordöstlichen Gebäudekante verlaufen und im Bereich des Lichthofes auf einer Breite von ca. 5,7 m um ca. 3 m zurückspringen. Die nordwestliche Außenwand ist um ca. 3 m nach innen von der nordwestlichen Gebäudeaußenkante versetzt vorgesehen.
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Mit Schreiben vom 11. Januar 2018 erhob die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Einwendungen gegen die beantragte Aufstockung.
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Am 23. August 2018 erteilte die Beklagte der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung nach PlanNr. … Neben mehreren Auflagen wurden diverse Abweichungen erteilt, u.a. von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Bayerische Bauordnung wegen Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen zum Nachbargrundstück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass durch die Errichtung des neuen Terrassengeschosses Abstandsflächen ausgelöst würden, die nicht auf eigenem Grund eingehalten werden könnten. Das Bestandsgebäude sei in den oberen Geschossen von der Grenze zum Nachbargrundstück abgerückt, sodass bereits im Bestand die Abstandsfläche bis auf das Nachbargrundstück reiche. Durch den Rücksprung des Terrassengeschosses um mehr als 45° erhöhe sich diese Fläche nicht und es entstehe keine zusätzliche Verschattung. Ferner seien Dachterrassen per Handeintrag aus der Planung gestrichen worden. Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahre und städtebaulich vorgegeben sei, sei regelmäßig als zumutbar hinzunehmen. Die erforderliche Atypik liege vor. Im dicht bebauten innerstädtischen Bereich wahre kaum ein Anwesen die Abstandsflächen. Die Nachbarn hielten ihrerseits ebenfalls nicht die volle Abstandsfläche ein. Die Schutzziele des Abstandsflächenrechts würden keinesfalls in einer solchen Art und Weise verfehlt, dass eine Abweichung mit nachbarlichen Belangen unvereinbar wäre. Weiterhin wurden die von der Klägerin erhobenen Einwände gewürdigt. Das Vorhaben füge sich in die Eigenart der näheren Umgebung ein, auch hinsichtlich der Höhe von 15,39 m. Die relativen Wandhöhen in der Umgebung variierten aufgrund der stark unterschiedlichen Höhenlagen der Höfe. Ferner verstoße das Vorhaben nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Die Minderung der Aussicht bedeute keinen Eingriff in geschützte Nachbarpositionen. Das neue Terrassengeschoss schränke die Privatsphäre nicht in unzulässiger Weise ein. Einblickmöglichkeiten seien bereits durch das Bestandsgebäude vorhanden.
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Gegen die Baugenehmigung ließ die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 20. September 2018, bei Gericht per Telefax eingegangen am 24. September 2018, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben. Sie beantragt,
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die der Beizuladenden erteilte Baugenehmigung der Beklagten vom 23.8.2018, Az. …, aufzuheben.
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Zur Begründung der Klage wird, auch mit weiteren Schriftsätzen vom 28. Januar 2019, 3. März 2020 (Eingangsdatum bei Gericht) und 12. September 2020 im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bauvorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoße. Es könne sich hinsichtlich der genehmigten Wandhöhe nicht in die nähere Umgebung nach § 34 Baugesetzbuch einfügen. Das geplante Gebäude überrage die umgebende Bebauung wesentlich und halte die Abstandsfläche zum Anwesen der Klägerin nicht ein. Im Bescheid sei kein gegenteiliges Beispiel aus der Umgebung genannt. Die Belichtung und Belüftung würden stark beeinträchtigt. Der Lichteinfallswinkel von 45° werde bei den vorhandenen Fenstern der Wohnküche nicht mehr eingehalten. Die Fassade springe nicht so weit zurück, dass der Lichteinfall unbeeinträchtigt bliebe. Derzeit sei aus den zum Anwesen der Beigeladenen gerichteten Fenstern der Himmel sichtbar, nach der Realisierung des Baus werde das nicht mehr der Fall sein. Erstmalig würden Einblicke in Wohn- und Schlafräume möglich, der soziale Friede, welcher zum Rücksichtnahmegebot gehöre, würde erheblich gestört. Bisher habe im Bestand Büronutzung stattgefunden. Die Schaffung von Wohnraum, der das klägerische Gebäude überrage, führe zu einer deutlich intensiveren Beeinträchtigung. Ferner verstoße das Vorhaben gegen die Abstandsflächenvorschriften. Im Bestandsbau befinde sich ein Büro, welches nur tagsüber genutzt werde. Dies wäre bei der Erteilung der Abweichung zu berücksichtigen gewesen, habe aber keine Berücksichtigung bei der Abwägung der nachbarlichen Interessen gefunden. Die Voraussetzungen für die Zulassung einer Abweichung lägen nicht vor, ein atypischer Fall sei nicht gegeben. Die Beklagte vertrete die Ansicht, dass in dicht bebauten Bereichen eine atypische Situation immer dann vorliege, wenn jede bauliche Veränderung der Bausubstanz geeignet sei, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen. Nachdem es sich dabei aber um einen in den innerstädtischen Lagen regelmäßig zu findenden Zustand handele, sei eben keine atypische Situation anzunehmen. Es handele sich vielmehr um eine typische, regelmäßig vorzufindende Situation. In einer Situation, in der erstmals dauerhaft Einblickmöglichkeiten in Wohn- und Schlafräume geschaffen würden, käme den Interessen des Nachbarn überdies von vornherein eine Priorität gegenüber den Interessen des Bauherrn zu, mit der Folge, dass im Regelfall eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nicht erteilt werden könne. Auch ohne die Schaffung eines zusätzlichen Stockwerks könne das ohnehin die Abstandsflächen nicht einhaltende Gebäude sinnvoll genutzt werden. Im vorliegenden Fall hätten zudem brandschutzrechtliche Vorschriften geprüft werden müssen, denn der Nachbar werde auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund mit den öffentlichen Belangen nicht vereinbar und damit objektiv rechtswidrig sei. Die Pläne enthielten überdies zahlreiche Handeintragungen, die der Bestimmtheit des Bescheids entgegenstünden.
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Die Beklagte trat dem mit Schriftsatz vom 17. April 2019 entgegen. Sie beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die erteilte Baugenehmigung rechtmäßig sei. Das Vorhaben sei nicht rücksichtslos. Das streitgegenständliche Vorhaben bewege sich innerhalb der maßgeblichen vorhandenen Höhenkoten. Einsichtsmöglichkeiten seien als sozialadäquat hinzunehmen. Die erteilte Abweichung sei ebenfalls rechtmäßig. In der gegebenen städtebaulichen Situation seien mögliche Verringerungen des Lichteinfalls und eine weiter zunehmende Verschattung grundsätzlich hinzunehmen.
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Die Beigeladene beantragte mit Schriftsatz vom 5. November 2018 ebenfalls,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird, auch mit weiteren Schriftsätzen vom 21. Februar 2020, 5. März 2020, 12. März 2020 und 31. August 2020 im Wesentlichen darauf abgestellt, dass sich Nachverdichtung nicht vermeiden lasse. Das Vorhaben füge sich in die maßgebliche Umgebung ein. Die Aufbauten seien weit von der Gebäudekante entfernt, die zunächst vorgesehenen Terrassen seien im Genehmigungsverfahren noch eingeschränkt worden. Von den neuen Gebäudeteilen könne die Klägerin kaum mehr gestört werden als bisher schon. Die Mitarbeiter im dritten Obergeschoss könnten ohne weiteres durchs Fenster auf die Terrasse der Klägerin schauen. Die Beigeladenen hätten zugunsten der Klägerin einen Lichthof belassen, in dem sie über das Erdgeschoss hinaus nicht höher gebaut hätten. Ferner ergebe sich aus der Historie, dass die Klägerin ihre Wohnung selbst aufgestockt habe. Laut den genehmigten Plänen der Terrasse hätte die Klägerin einen Teil als Rasenfläche anlegen müssen, es werde jedoch die gesamte Fläche als Terrasse genutzt. Daher könne sich das nicht genehmigte Gebäude nicht auf nachbarrechtlichen Schutz berufen.
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Das Gericht hat am 21. September 2020 Beweis durch Augenscheinseinnahme erhoben. Auf das Protokoll dieses Augenscheins wird ebenso Bezug genommen wie auf die Niederschrift der am selben Tag durchgeführten mündlichen Verhandlung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die vorgelegten und beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin wird durch die streitgegenständliche Baugenehmigung nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris Rn. 20, 22). Für den Erfolg eines Nachbarrechtsbehelfs genügt es daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht - auch nicht teilweise - dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden.
22
Grundsätzlich kann der einzelne Wohnungseigentümer baurechtliche Nachbarrechte aus eigenem Recht geltend machen, wenn - wie hier - eine konkrete Beeinträchtigung seines Sondereigentums im Raum steht. Das Bundesverwaltungsgericht bejaht eine Klagebefugnis des Sondereigentümers, sofern der Behörde bei ihrer Entscheidung über die Baugenehmigung auch der Schutz der nachbarlichen Interessen des Sondereigentums aufgetragen ist. Dies ist möglicherweise dann der Fall, wenn das Sondereigentum beispielsweise im Bereich der Abstandsflächen liegt oder aber das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot unmittelbar das Sondereigentum betrifft (BayVGH, B.v. 8.7.2013 - 2 CS 13.807 - juris Rn. 5, m.w.N.).
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Vorausschickend ist zu erwähnen, dass die Klägerin ihrer Nachbarrechte nicht - wie die Beigeladene meint - schon deshalb verlustig geht, weil ein Teil der grenzständigen Terrasse gegenwärtig nicht, wie in der Baugenehmigung vorgesehen, als Rasenfläche, sondern befestigt ausgeführt wurde. Diese geringfügige Änderung ist insoweit unbeachtlich.
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2. Das Vorhaben verstößt nicht gegen (auch) dem Nachbarschutz dienende Vorschriften des Bauplanungsrechts, insbesondere nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
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2.1. Bauplanungsrechtlicher Nachbarschutz ist vorliegend aus § 30 Abs. 3 BauGB iVm § 34 BauGB herzuleiten. Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn eine angefochtene Baugenehmigung oder ein planungsrechtlicher Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 5.12. 2013 - 4 C 5.12, ZfBR 2014, 257, m.w.N.). Drittschutz wird im unbeplanten Innenbereich zudem nach § 34 Abs. 2 BauGB iVm § 15 Abs. 1 BauNVO gewährt. Darauf, ob sich das Bauvorhaben objektiv in die maßgebliche Umgebung einfügt, kommt es darüber hinaus nicht an.
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2.2 Es kann dahinstehen, ob sich das Gebot der Rücksichtnahme im vorliegenden Fall aus dem Begriff des „Einfügens“ des § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO ableitet, da im Ergebnis dieselbe Prüfung stattzufinden hat (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 4). Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 - 4 C 8.11 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (BVerwG, B.v. 6.12.1996 - 4 B 215.96 - juris Rn. 9).
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2.2. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - juris Rn. 15: Drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen; BayVGH, B.v. 10.12.2008 - 1 CS 08.2770 - juris Rn. 23; B.v. 5.7.2011 - 14 CS 11.814 - juris Rn. 21).
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Eine solche unzumutbare Beeinträchtigung ist nicht ersichtlich. Insbesondere wirkt das Vorhaben gegenüber der Bebauung auf dem Nachbargrundstück nicht einmauernd oder erdrückend. Der im Rahmen des Rücksichtnahmegebots notwendige Interessenausgleich zwischen hinzutretender und vorhandener Bebauung wird durch das Vorhaben gewahrt.
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Zwar soll das Vorhaben auf dem dritten Obergeschoss des Bestandsgebäudes errichtet werden, während das Sondereigentum der Klägerin sich im zweiten Obergeschoss des Rückgebäudes auf dem Nachbargrundstück befindet. Allerdings sind, wovon sich die Kammer bei der Einnahme des Augenscheins überzeugen konnte und was sich auch aus den von der Beigeladenen vorgelegten Lichtbildern ergibt, die Höhenentwicklung des aufzustockenden Gebäudes und des Rückgebäudes auf dem Nachbargrundstück aufgrund der unterschiedlichen Geländehöhen vergleichbar, der tatsächliche Höhenunterschied beträgt nur etwa einen Meter. Das Vorhaben überragt das Rückgebäude auf dem Nachbargrundstück dementsprechend lediglich um ein Geschoss, welches noch dazu - gegenüber dem ohnehin schon von der Grundstücksgrenze abgerückten zweiten und dritten Obergeschoss - noch weiter von der gemeinsamen Grenze zurückversetzt errichtet wird. Anhand der sich in den Behördenakten befindlichen Plandarstellung, welche den Gebäudeanschluss zum Nachbargrundstück zum Gegenstand hat („Schnitt E-E, Gebäudeanschluss …str. 26“) ist erkennbar, dass der vorgesehene Höhenunterschied lediglich ca. 4,0 m beträgt (abgegriffen). Überdies hält das Vorhaben aufgrund des Rücksprunges und des Lichthofs einen Abstand von ca. 7,00 m zum Sondereigentum der Klägerin (Außenkante Terrasse) ein. Angesichts der Höhenentwicklung, der Ausbildung als Terrassengeschoss sowie des Abstands des Vorhabens zum Nachbargrundstück ist die Annahme einer erdrückenden Wirkung fernliegend. Denn hierfür ist kein Raum, wenn der geplante Baukörper - wie hier - nicht erheblich höher ist als das betroffene Gebäude (BayVGH, B.v. 11.5.2010 - 2 CS 10.454 - juris Rn. 5; B.v. 28.4.2020 - 9 ZB 18.1493 - juris Rn. 21).
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2.3. Soweit sich die Klägerin auf eine Verschlechterung der Belichtung ihrer Wohnküche und Terrasse beruft, ist ebenfalls keine unzumutbare Beeinträchtigung ersichtlich. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt den Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung wäre erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (BayVGH, B.v. 22.6.2011 - 15 CS 11.1101 - juris Rn. 17; U.v. 22.7.2020 - 9 CS 20.1083 - juris Rn. 15).
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Mögliche Verringerungen des Lichteinfalls sind aber in aller Regel im Rahmen der Veränderung der baulichen Situation hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 15.12.2016 - 9 ZB 15.376 - juris Rn. 15). Dies ist hier der Fall, zumal keine Sondersituation auszumachen ist, die ein Abweichen vom Regelfall erfordern würde. Im Gegenteil ist das nachbarliche Austauschverhältnis vorliegend durch wechselseitiges Abrücken der oberen Geschosse von der Grenze geprägt, wobei die Klägerin den entstehenden Freiraum zur Verwirklichung einer grenzständigen Terrasse nutzt, deren Belichtung maßgeblich von dem auf dem Baugrundstück vorhandenen Lichthof profitiert. Dasselbe gilt hinsichtlich der Belichtung für die Wohnung der Klägerin. Eine unzumutbare Beeinträchtigung bzw. Verschlechterung gegenüber dem Bestand ist bereits deswegen nicht auszumachen, da das Terrassengeschoss entsprechend seiner Höhenentwicklung (ca. 3,0 m) um ca. 3,0 m von der Gebäudekante zurückversetzt errichtet wird. Aufgrund der Gebäudeabstände zueinander bleibt der Lichteinfallswinkel von 45° bei den Fenstern der Wohnküche der Klägerin ohne Weiteres - wie bisher - gewahrt (vgl. „Schnitt E-E, Gebäudeanschluss …str. 26“). Insoweit erschließt sich nicht, warum durch den Neubau das „Tageslicht verdeckt werden“, bzw. „der Himmel nicht mehr sichtbar“ sein soll.
32
2.4. Im Übrigen gibt das Rücksichtnahmegebot dem Nachbarn insbesondere nicht das Recht, vor jeglicher Beeinträchtigung, speziell vor jeglichen Einblicken verschont zu bleiben (vgl. Sächs. OVG, B.v. 23.2.2010 - 1 B 581/09 - juris Rn. 5). Gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten sind im dicht bebauten innerstädtischen Bereich unvermeidlich (vgl. BayVGH, B.v. 7.10.2010 - 2 B 09.328 - juris Rn. 30). Die Klägerin hat die Einsichtnahmemöglichkeiten durch die hinzutretende Nutzung daher hinzunehmen, zumal die Nutzer des Bestandsgebäudes bereits ohne Weiteres Einsicht in die Wohnung der Klägerin nehmen können.
33
Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass der sogenannte Wohnfrieden (Sozialabstand) zum Rücksichtnahmegebot gehöre, ist dem entgegenzuhalten, dass der Wohnfrieden insbesondere bei Einblickmöglichkeiten in Nachbargrundstücke planungsrechtlich grundsätzlich nicht geschützt ist. Das bauplanungsrechtliche Gebot des Einfügens bezieht sich nur auf die in § 34 Abs. 1 BauGB genannten städtebaulichen Merkmale. Die Möglichkeit der Einsichtnahme ist - als nicht städtebaulich relevant - davon nicht angesprochen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 - 4 B 72.89, NVwZ 1989, 1060; BayVGH, B.v. 25.1.2013 - 15 ZB 13.68 - juris Rn. 6). Der vom Bevollmächtigten der Klägerin in Bezug genommenen Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Dezember 2014 (1 B 14.819) ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen.
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2.5. Ob sich das Vorhaben überdies hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung objektiv in die nach § 34 Abs. 1 BauGB maßgebliche Umgebung einzufügen vermag, ist nicht von Belang, da sich die Klägerin hierauf nicht berufen kann (s.o.).
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3. Das Vorhaben verstößt nicht gegen (zumindest auch) dem Nachbarschutz dienende Vorschriften des Bauordnungsrechts, welche im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren, Art. 59 BayBO, insbesondere nicht gegen die Vorschriften des Abstandsflächenrechts. Eine Rechtsverletzung durch die erteilte Abweichung ist nicht erkennbar, Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO iVm Art. 6 BayBO.
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3.1. Insoweit kann offenbleiben, ob sich die Klägerin nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) aufgrund (rechnerisch) bestehender Abstandsflächenverstöße des Rückgebäudes, in welchem sich ihr Sondereigentum befindet (dessen Wirkung sich die Klägerin zurechnen lassen muss, vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2018 - 9 CS 18.543 - juris Rn. 23) - das Rückgebäude vermag bei einer Höhe von 11,80 m und einem Abstand von ca. 3,0 m zur gemeinsamen Grenze die Abstandsflächen auf eigenem Grund ersichtlich nicht einzuhalten - gegenüber der Bebauung auf dem Baugrundstück überhaupt auf einen Abstandsflächenverstoß berufen kann.
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3.2. Wie sich aus der genehmigten Bauzeichnung ergibt, hält auch das Vorhaben mit einer Höhe von 15,39 m und einem Abstand zur gemeinsamen Grenze von ca. 7,0 m die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen entgegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO nicht auf dem eigenen Grundstück ein; vielmehr kommen die Abstandsflächen unter anderem auf dem Sondereigentum der Klägerin zu liegen (vgl. den genehmigten Abstandsflächenplan).
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3.3. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde jedoch Abweichungen von Anforderungen der Bayerischen Bauordnung zulassen, wenn sie - wie vorliegend - unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind. Eine Abweichung kann insbesondere auch von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts erteilt werden.
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3.4. Der Zweck des Abstandsflächenrechts, der vor allem darin besteht, eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude zu gewährleisten und die für Nebenanlagen erforderlichen Freiflächen zu sichern, kann allerdings regelmäßig nur dann erreicht werden, wenn die Abstandsflächen in dem gesetzlich festgelegten Umfang eingehalten werden. Da somit jede Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO zur Folge hat, dass die Ziele des Abstandsflächenrechts nur unvollkommen verwirklicht werden, setzt die Zulassung einer Abweichung nach bisheriger Rechtsprechung Gründe von ausreichendem Gewicht voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung und Lüftung (sowie eine Verringerung der freien Flächen des Baugrundstücks) im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (BayVGH, B.v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 16; B.v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 23; B.v. 5.12.2011 - 2 CS 11.1902 - juris Rn. 3; U.v. 22.12.2011 - 2 B 11.2231 - juris Rn. 16). Diese kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben. In solchen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung rechtfertigen. Hingegen begründen allein Wünsche eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen als dies ohnehin schon zulässig wäre, noch keine Atypik, da Modernisierungsmaßnahmen, die nur der Gewinnmaximierung dienen sollen, auch in Ballungsräumen nicht besonders schützenswert sind (vgl. BayVGH, B.v. 20.11.2014 - 2 CS 14.2199 - juris Rn. 4; B.v. 2.12.2014 - 2 ZB 14.2077 - juris Rn. 3).
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Eine derartige Sondersituation (Atypik) ist im vorliegenden Fall gegeben, so dass offenbleiben kann, ob die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung nach Einfügung des neuen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt (Bayer. Landtag Drucksache 17/21474, zu Nr. 5 (Art.6)).
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Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vermittelt die Lage von Grundstücken in einem seit langer Zeit dicht bebauten großstädtischen Innenstadtquartier, in dem allenfalls wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstückgrenzen einhalten - wie hier - eine besondere Atypik, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber Nachbarn rechtfertigt (BayVGH, B.v. 22.1.2020 - 15 ZB 18.2547 - BeckRS 2020, 1170, Rn. 36). In dicht bebauten innerstädtischen Bereichen ist eine atypische Situation überdies dann anzunehmen, wenn jede bauliche Veränderung entsprechend der vorgegebenen baulichen Situation geeignet ist, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen (vgl. BayVGH, B. v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 23; VG München, B.v. 12.9.2017 - M 8 SN 17.3732, bestätigt durch BayVGH, B.v. 4.12.2017 - 2 CS 17.1969 - juris).
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Soweit die Klägerin dem mit der Argumentation entgegentritt, dass es sich um einen bei innerstädtischen Lagen regelmäßig zu findenden Zustand handele, der keine atypische Fallgestaltung darstelle, sondern umgekehrt um eine typische, regelmäßig vorzufindende Situation, die auch dem Gesetzgeber bekannt sei, kann dem nicht gefolgt werden.
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Städtebaulich ist vorliegend in dem auch im Innern dichtest bebauten Quartier die (weitere) Verdichtung auch im rückwärtigen Bereich vorgegeben. Die Einnahme des Augenscheins hat insbesondere gezeigt, dass im Innern des Gevierts (also nicht nur in der Blockrandbebauung) Gebäude vorhanden sind, deren Traufhöhe bereits jetzt höher liegen als die Traufe des aufzustockenden Gebäudes (Rückgebäude Fl.Nrn. … und …*).
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Hinzu kommt, dass vorliegend grundsätzlich auch eine rückwärtige Bebauung an der Grenze ohne Einhaltung von Abstandsflächen möglich wäre, Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO, da im maßgeblichen Geviert nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden dürfte. Nach der gesetzgeberischen Wertung würde in diesem Fall das Bauordnungsrecht hinter dem Bauplanungsrecht zurückgetreten und es würden keine Abstandsflächen anfallen. Zwar kann die atypische Grundstückssituation allein darin nicht begründet liegen (BayVGH, B.v. 11.11.2015 - 2 CS 15.1251 - juris Rn. 9). Da die Beigeladene jedoch vorliegend bereits mit dem zweiten und dritten Obergeschoss - auch zugunsten des Sondereigentums der Klägerin - von der Grenze abgerückt ist, ist ihr eine grenzständige Aufstockung nicht mehr möglich. Nur aufgrund dessen und des für den Nachbarn günstigen (weiteren) Zurückweichens von der Grenze fallen Abstandsflächen für die Aufstockung an, sodass das bauplanungsrechtlich bestehende Baurecht unter Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften nicht ausgeschöpft werden kann. Um jedoch auch in dicht bebauten innerstädtischen Bereichen die Errichtung von - die Nachbarschaft begünstigenden - Terrassengeschossen zu ermöglichen, kann (sofern die weiteren Voraussetzungen gegeben sind), grundsätzlich auf die Möglichkeit einer Abweichung zurückgegriffen werden.
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3.5. Weitere Voraussetzung ist die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz - wie bei dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme - eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B.v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 17). Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (BayVGH, B.v. 17.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 20).
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Die von Art. 6 BayBO erfassten, schützenswerten Belange der Klägerin - Belichtung, Belüftung und Besonnung sowie nach umstrittener Ansicht auch der sozialen Wohnfrieden bzw. Sozialabstand (vgl. zum Streitstand: BayVGH, U.v. 31.7.2020 - 15 B 19.832 - juris Rn 22) - werden durch die Abweichung nicht unzumutbar beeinträchtigt. Die Beklagte hat sich im Rahmen der Prüfung der Abweichung mit der Situation auch der betroffenen Nachbarn in sachgerechter, auf den Einzelfall bezogener Weise auseinandergesetzt. Ermessensfehler sind insoweit nicht erkennbar.
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In Bezug auf Belichtung, Besonnung und Belüftung treten durch die (rechnerisch) auf das Sondereigentum fallenden Abstandsflächen keine spürbaren Verschlechterungen ein, denn die an den Lichthof angrenzende Terrasse und die Wohnküche liegen bereits in den Abstandsflächen des Bestandsgebäudes. Dadurch, dass das Terrassengeschoss in diesem Bereich um ca. 3,0 m von der Gebäudeaußenkante zurückversetzt errichtet wird, ergibt sich, weil für die Abstandsfläche die Wandhöhe, also das Maß von der Geländeoberfläche bzw. des fiktiven Fußpunkts (BayVGH, B.v. 11.11.2015 - 2 CS 15.1251 - juris Rn 4) bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand beachtlich ist (Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO) für die Tiefe der Abstandsfläche kein Unterschied (Höhe Bestand 12,39 m, Höhe Vorhaben 15,39 m). Ferner ist der Lichteinfallswinkel von 45° für das Sondereigentum gewahrt (s.o.). Weiterhin ist zu beachten, dass die abstandsflächenrechtliche Situation nicht unmaßgeblich auf der von der Klägerin gewählten Verwirklichung ihrer Wohnung und Terrasse unter Ausnutzung des Lichthofes der Beigeladenen zur Belichtung ihres Sondereigentums beruht.
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Soweit gegenüber dem Bestand eine Vergrößerung der Abstandsfläche durch die Aufstockung - hier durch den im Südosten grenzständig an das Rückgebäude …str. ... angebauten Gebäudeteil - eintritt, betrifft dies Gemeinschaftsflächen, insbesondere die Dachfläche und den östlich des Rückgebäudes …str. ... gelegenen Innenhof (vgl. den genehmigten Abstandsflächenplan). Hierauf kann sich die Klägerin als Sondereigentümerin allerdings nicht berufen (vgl. hierzu: BVerwG‚ U.v. 20.8.1992 - 4 B 92.92 - juris Rn. 10; BayVGH‚ B.v. 8.7.2013 - 2 CS 13.807 - NVwZ 2013, 1622).
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Ob der sogenannte soziale Wohnfrieden zu den Schutzgütern des Abstandsflächenrechts zählt, ist, wie bereits ausgeführt, umstritten. Diese Frage kann hier jedoch offenbleiben, da der soziale Wohnfrieden ebenfalls nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Im dicht bebauten innerstädtischen Bereich sind gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten gang und gäbe und regelmäßig hinzunehmen. Die Klägerin konnte insbesondere nicht darauf vertrauen, dass die Beigeladene ihr Bestandsgebäude nicht entsprechend der baulichen Entwicklung im Geviertsinnern aufstocken würde. Dass in solch einer städtebaulich beengten Situation wechselseitige Blickbeziehungen und Einblickmöglichkeiten in die Wohnungen bestehen, ist letztlich zwangsläufig und daher von den Betroffenen hinzunehmen. Wer sich dadurch gestört fühlt, muss Maßnahmen in seinem eigenen Wohnbereich ergreifen, um sich dagegen zu schützen (BayVGH, Bv. 6.6.2014 - 9 CS 14.662 - juris Rn 15). Eine besondere Situation, in der in gravierendem, unerträglichen Maß in die Rechte der Klägerin eingegriffen würde, ist nicht erkennbar. Vielmehr handelt es sich um eine für das Gebiet der Beklagten durchaus übliche Wohnsituation. Insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob die Einblickmöglichkeiten durch die Schaffung von Wohnraum gegenüber dem Bestand - Büronutzung - „intensiviert“ werden.
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Ob sonstige, nicht drittschützende öffentliche Belange im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Abweichung von den Abstandsflächen für die Nachbarklage entscheidungserheblich sind (mit beachtlichen Argumenten dagegen: BayVGH, B.v. 9.2.2015 - 15 ZB 12.1152 - juris Rn. 7 ff. m.w.N. zum Streitstand), kann hier offenbleiben, da eine Verletzung sonstiger öffentlicher Belange nicht ersichtlich ist.
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Bei Berücksichtigung der Gesamtsituation ist auch ein die Belange der Klägerin überwiegendes Bauherreninteresse gegeben. Hierzu zählt nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch die Schaffung von zeitgemäßem Wohnraum (BayVGH, B.v. 5.12.2011 - 2 CS 11.1902 - juris Rn. 5). Das Interesse der Beigeladenen an der Schaffung von Wohnraum, also an der sinnvollen wirtschaftlichen Verwertung des vorhandenen Grundstücks unter Einhaltung des bauplanungsrechtlich zulässigen Rahmens überwiegt das Interesse der Klägerin, hiervon verschont zu bleiben, zumal eine maßgebliche Verschlechterung der (Belichtungs-)Situation durch das Vorhaben nicht zu erwarten ist (s.o.) und die bestehende Situation gerade auch dadurch geprägt ist, dass die Klägerin die Belichtung, Besonnung und Belüftung ihres Sondereigentums weitestgehend nicht auf dem Nachbargrundstück selbst, sondern über den Lichthof der Beigeladenen bewirkt.
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3.6. Auch die vom Bevollmächtigten der Klägerin zitierte Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Dezember 2014 (1 B 14.819) - welche auf die ebenfalls zitierte Entscheidung vom 3. April 2014 (1 ZB 13.2536) verweist - führt zu keinem anderen Ergebnis. Im dort entschiedenen Fall ging es um eine Nutzungsänderung des Dachgeschosses eines bestandsgeschützten Nebengebäudes, wodurch in unmittelbarer Nähe zur Nachbargrenze (ca. 0,5 m) eine erstmalige Wohnnutzung mit entsprechenden Einblickmöglichkeiten realisiert werden sollte. Eine Vergleichbarkeit zum gegenwärtigen Sachverhalt ist nicht ansatzweise gegeben, sodass die dort angestellten Erwägungen auf den hier zu entscheidenden Fall nicht ohne Weiteres übertragbar sind. Vorliegend bestehen unter wechselseitigen (rechnerischen) Abstandsflächenverstößen im dichtest bebauten innerstädtischen Bereich bereits Einblickmöglichkeiten in die Bestandsgebäude. Überdies beträgt der Abstand zwischen dem Vorhaben und dem Sondereigentum ca. 7,0 m.
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Der Hinweis des Bevollmächtigten der Klägerin dahingehend, dass brandschutzrechtliche Vorschriften hätten geprüft werden müssen, geht ebenfalls fehl. Eine Verletzung von Nachbarrechten durch die angefochtene Baugenehmigung kommt nämlich nur insoweit in Betracht, als die behauptete Rechtsverletzung überhaupt im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen war. Soweit die Klägerin rügt, dass der Brandschutz nicht außerhalb der beantragten Abweichungen geprüft worden sei, führt dies auch hinsichtlich der Abweichung von den Abstandsflächen nicht zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung. Denn die Prüfung des Brandschutzes gehört nicht zum Prüfprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens (Art. 59 Satz 1 BayBO). Nur dann, wenn die Norm überhaupt zum Prüfprogramm der Genehmigungsbehörde gehört, kann der mit ihr geschützte Belang auch zur objektiven Rechtswidrigkeit der erteilten Abweichung führen. Dies ist bei den Bestimmungen über den Brandschutz nicht der Fall. Auch wenn die Brandschutznachweise gemäß Art. 62 Abs. 3 BayBO gegebenenfalls zu prüfen sind (siehe Art. 59 Satz 2 BayBO), führt dies nicht zur Erweiterung des Prüfprogramms der Bauaufsichtsbehörde (BayVGH, B.v. 5.12.2011 - 2 CS 11.1902 - juris Rn. 7 m.w.N.).
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4. Der Nachbar kann die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit der Baugenehmigung geltend machen, soweit dadurch nicht sichergestellt ist, dass das genehmigte Vorhaben allen dem Nachbarschutz dienenden Vorschriften entspricht (Lechner in: Simon / Busse, Bayerische Bauordnung, Werkstand: 137. EL Juli 2020, Art. 68 RdNr. 427). Solche Mängel waren entgegen der Ansicht der Klägerin nicht auszumachen. Die Baugenehmigung ist - auch mit den Handeinträgen - aus sich heraus vollständig, klar und unzweideutig, Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG.
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5. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Es entspricht der Billigkeit, der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese einen Sachantrag gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.