Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 15.09.2020 – AN 19 K 20.30018
Titel:

Widerruf der Flüchtlingseigenschaft

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 4, § 4 Abs. 1, § 73 Abs. 1 S. 1, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 8 S. 1
Leitsätze:
1. Nach § 60 Abs. 6 AufenthG führt eine Verurteilung nicht automatisch zum Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Vielmehr ist eine auf einer umfassenden Würdigung aller Umstände beruhende Prognoseentscheidung über das Bestehen einer konkreten Wiederholungsgefahr erforderlich. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Selbst eine abgeschlossene Therapie rechtfertigt unter Berücksichtigung der Rückfallquote per se keine Resozialisierungswahrscheinlichkeit. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Wiederholungsrognose ein wesentliches Indiz dar. Eine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr im Sinne einer Beweiserleichterung begründen sie jedoch nicht. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine möglicherweise aufgrund der Desertion drohende Gefängnisstrafe begründet kein Abschiebeverbot. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, Freiheitsstrafe von mind. 3 Jahren, Wiederholungsgefahr (bejaht), Drogenkonsum, Abschiebungsverbot, Gefahrenprognose, Heroin, Iran, Therapie, Flüchtlingseigenschaft, Widerruf, Asylanerkennung, Drogenhandel, Wiederholungsgefahr, Desertion, Doppelbestrafung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 27508

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft.
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Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger, Araber und nach seiner Aussage bei seiner Anhörung am … 2016 schiitischen Glaubens. Er reiste im November 2015 in die Bundesrepublik ein und stellte am … 2016 einen Asylantrag.
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Eine persönliche Anhörung des Klägers fand am … 2016 statt.
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Mit bestandskräftigem Bescheid vom 3. Februar 2017 (Az.: …) erkannte das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zu und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab.
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Am 20. Juni 2017 wurde der Kläger vorläufig festgenommen. Mit seit dem 27. Juni 2018 rechtskräftigem Urteil des Landgerichts … wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Aus den Gründen ergibt sich, dass der Kläger im Zeitraum April bis 9. Mai 2017 einem Dritten in vier Fällen Heroin übergab in dem Auftrag, dieses für ihn zu verkaufen und den Erlös an ihn auszukehren, wofür der Dritte eine Belohnung erhielt. Dabei handelte es sich um folgende veräußerte Mengen: (1) 40 Gramm Heroin; (2) 20 Gramm Heroin; (3) 20 Gramm Heroin, (4) 30,027 Gramm Heroin. Für diese Taten erachtete das Landgericht … folgende Einzelfreiheitsstrafen für tat- und schuldangemessen: Tat (1) betreffend 40 Gramm Heroin: 3 Jahre, Tat (2) und Tat (3) betreffend je 20 Gramm Heroin: jeweils 2 Jahre und 6 Monate; Tat (4) betreffend 35,027 Gramm Heroin: 3 Jahre.
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Aus den weiteren Urteilsgründen ergibt sich, dass der Kläger im Zeitraum Januar 2017 bis 20. Juni 2017 bei neun Gelegenheiten Heroin von verschiedenen Lieferanten zum Selbstkonsum erwarb. Die Menge betrug dabei bei sechs Gelegenheiten jeweils 1 Gramm Heroin, bei einer weiteren Gelegenheit zwei Plomben mit jeweils mind. 0,1 Gramm Heroin, bei einer weiteren Gelegenheit vier Plomben mit einer Gesamtmenge von 0,20 Gramm Heroin und bei einer weiteren Gelegenheit 12 Plomben Heroin mit einem Gesamtgewicht von 1,86 Gramm Heroin. Für diese Taten erachtete das Landgericht Einzelfreiheitsstrafen zwischen einem und drei Monaten für tat- und schuldangemessen (vgl. Urteil des Landgerichts … Seite 28).
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Auch war der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits - unter anderem - einschlägig vorbestraft wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln. Diese Verurteilung erfolgte am 6. Dezember 2016.
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Bei dem Kläger wurde eine Opiatabhängigkeit diagnostiziert.
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Mit Verfügung vom 4. September 2017 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein. Mit Schreiben vom 13. Dezember 2018 teilte das Bundesamt dem Kläger mit, es beabsichtige die asylrechtliche Begünstigung zu widerrufen und im Übrigen festzustellen, dass kein subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt werden könne. Dem Kläger werde Gelegenheit gegeben, sich zu dieser beabsichtigten Entscheidung innerhalb eines Monats schriftlich zu äußern.
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Mit Schreiben vom 11. Januar 2019 ließ der Kläger mitteilen, es lägen keine ausreichend schwerwiegenden Gründe für die Entziehung der Flüchtlingseigenschaft vor. Er habe sich „keiner Straftat gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder das Eigentum unter Anwendung oder Androhung von Gewalt begangen“. Zudem bestehe nicht die Gefahr weiterer Straftaten, da er sich derzeit in der Behandlung durch das Bezirkskrankenhaus … befinde.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 17. Dezember 2019, zugestellt am 30. Dezember 2019, widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 3. Februar 2017 (Az. …*) zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Nummer 1), lehnte die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab (Nummer 2) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Nummer 3).
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Zur Begründung des auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützten Bescheides führte das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr vorlägen. Es seien nunmehr Umstände eingetreten, die den Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfüllten. Danach sei die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeute, da er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren verurteilt worden sei. Im Rahmen der Festsetzung der Gesamtfreiheitsstrafe habe das Landgericht … ausgeführt, dass aus den verhängten Einzelstrafen unter Erhöhung der Einsatzstrafe von 3 Jahren eine Gesamtstrafe zu bilden gewesen sei. Demnach lägen in jedem Fall die Voraussetzungen nach bisheriger höchstrichterlicher Rechtsprechung für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG vor. Bei der Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe sei zumindest für eine der Einzelstrafen eine wenigstens 3-jährige Freiheitsstrafe abgeurteilt worden. Die rechtskräftige Verurteilung zu einer mindestens 3-jährigen Freiheitsstrafe führe nicht automatisch zum Ausschluss von Asylberichtigung und Flüchtlingseigenschaft. Es müsse darüber hinaus im Einzelfall eine Wiederholungsgefahr festgestellt werden. Hierbei seien die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftaten, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht das bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Dabei sei es ausländerrechtlich aber nicht angezeigt, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen, wie Strafgerichte es täten. Drogenhandel gehöre zu den gefährlichsten und schwer zu bekämpfenden Delikten. Die generell bekannte hohe Rückfallquote bei Rauschgiftdelikten gelte in besonderem Maße für schwere Rauschgiftdelikte. Die sich damit schon typischerweise aus Art und Schwere der Straftaten ergebende Wiederholungsgefahr ergebe sich zudem aus den Feststellungen des Gerichts im Strafurteil. Zwar habe das Gericht in dem Urteil zugunsten des Klägers seine eigene Betäubungsmittelabhängigkeit festgestellt und den Umstand, dass er die Taten begangen habe, um seine eigene Sucht zu finanzieren. Zudem sei zu seinen Gunsten berücksichtigt worden, er sei besonders haftempfindlich, spreche die deutsche Sprache nicht fließend und ein Großteil seiner Familie befände sich im Ausland. Neben weiteren zugunsten des Ausländers gewerteten Umständen habe das Gericht jedoch zulasten des Klägers gewürdigt, dass er einschlägig vorbestraft und seine Rückfallgeschwindigkeit beachtlich sei. Es sei zuletzt am 11. Januar 2017, rechtskräftig seit dem 03. Februar 2017, verurteilt worden und habe die nächsten Straftaten bereits ab März 2017 begangen. Außerdem handele er mit Heroin, wobei es sich um eine gefährliche Droge handle. Die zum Handel bestimmten Heroinmengen seien zudem jeweils hoch gewesen. Dem Vorbringen des Klägers, es bestehe keine Gefahr weiterer Straftaten, da er sich in Behandlung im Bezirkskrankenhaus … befinde, könne nicht gefolgt werden. Selbst eine erfolgreich absolvierte Therapie besage noch nicht, dass der Suchtkranke nunmehr als auf Dauer geheilt anzusehen sei. Die Rückfallquote bei Suchtgefährdeten sei auch nach einer erfolgreich absolvierten Therapie erfahrungsgemäß hoch. Die vom Kläger vor Gericht bekundete Absicht, eine Therapie von 24 Monaten Behandlungsdauer zu absolvieren und künftig ein drogenfreies Leben führen zu wollen, führe zu keiner anderen Bewertung. Bei der Bewertung einer Wiederholungsgefahr könne die soziale Situation des Klägers nicht unberücksichtigt bleiben. Wie dem Urteil des Landgerichts zu entnehmen sei, bestehe bei dem Kläger kein großes soziales Umfeld in der Bundesrepublik Deutschland. Der Kläger habe die Straftaten begangen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt eine Lebensgefährtin gehabt habe. Zudem sei bei der Bewertung einer Wiederholungsgefahr die wirtschaftliche Situation des Klägers zu berücksichtigen. Laut rechtskräftigem Urteil des Landgerichts vom 27. Juni 2018 habe der Kläger vor seiner Verurteilung von 330 EUR Sozialleistungen gelebt. Die damit anzunehmende prekäre finanzielle Situation des Klägers habe sich durch seine Strafe mit Sicherheit nicht verbessert. Es lägen keinerlei Nachweise dafür vor, dass sich seine finanzielle Lage inzwischen derart verbessert habe, dass eine Gefährdung durch weitere Straftaten schon alleine deshalb auszuschließen sei. Es bestehe folglich eine erheblich konkrete Wiederholungsgefahr für die Begehung vergleichbarer Straftaten durch den Kläger.
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Auch lägen daher die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Der Ausschlusstatbestand gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Nr. 4 Alt. 1 AsylG sei erfüllt.
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Ebenso wenig lägen Abschiebungsverbote vor. Der Kläger laufe keine Gefahr einer Doppelbestrafung im Iran und einer daraus möglichweise resultierenden das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG. Unter Zugrundelegung der konkreten Umstände und der aus den Erkenntnisquellen vorliegenden Sach- und Rechtslage fehle es an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass es im Fall des Klägers zu einer Doppelbestrafung im Iran komme. Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Januar 2019 zufolge seien in jüngster Vergangenheit keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden. Im Übrigen dürfe es bei den vom Kläger im Bundesgebiet begangenen Straftaten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a. im Wesentlichen an der Schwere des Delikts mangeln, die eine Doppelbestrafung im Iran auslösen könnte. Auf die weiteren Bescheidsausführungen wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 13. Januar 2020, bei Gericht eingegangen per Telefax am gleichen Tag, ließ der Kläger Klage erheben mit dem Antrag:
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Az. … vom 17.12.2019 - zugestellt am 30.12.2019 - wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
III. Die Beklagte wird hilfsweise verpflichtet, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
IV. Es wird festgestellt, dass Abschiebungsverbote gem. § 60, 60a Aufenthaltsgesetz vorliegen.
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Zur Begründung bezog sich der Kläger auf seine bisherigen Angaben, die das Bundesamt falsch gewürdigt hätte.
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Mit Schriftsatz vom 21. Januar 2020 beantragte die Beklagte
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Schriftsatz vom 30. Januar 2020 ließ der Kläger seine Klage dahingehend ergänzen, dass der Kläger nicht als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen sei. Der Kläger habe sich keiner Straftat gegen das Eigentum unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, keiner Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit oder das Leben, sowie keiner Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung schuldig gemacht. Aufgrund der derzeit noch andauernden Behandlung im Bezirkskrankenhaus … bestehe zudem nicht die Gefahr, dass der Kläger künftig weitere Straftaten begehen werde. Die in diesem Fall erforderliche Prognose führe vorliegend nicht dazu, dass eine Wiederholungsgefahr festgestellt werden müsse. Nach erfolgreicher Behandlung des Klägers sei eine Verknüpfung der Straftaten mit einem hohen Wiederholungsrisiko vielmehr nicht möglich. Mit dem Ende einer Betäubungsmittelabhängigkeit entfalle regelmäßig eine eventuelle Wiederholungsgefahr. Darüber hinaus sei im vorliegenden Fall die sich in jüngster Zeit zuspitzende Konfliktsituation zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Iran zu berücksichtigten. Im Zuge dessen sei es im Iran zu umfangreichen Unruhen und Tumulten gekommen, bei denen für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Iran konkrete individuelle Gefahren für Leib und Leben vorlägen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Behördenakten und zum Verlauf der mündlichen Verhandlung auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist, soweit sie zulässig ist, unbegründet.
I.
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Soweit der Kläger beantragt, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist die Klage bereits unzulässig. Richtige Klageart hierfür ist vorliegend die Anfechtungsklage, nicht die Verpflichtungsklage. Den entsprechenden Klageantrag hat der Kläger schon unter Ziffer I seiner Klageschrift gestellt.
II.
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Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 17. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
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1. Das Bundesamt hat die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vom 3. Februar 2017 zu Recht gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG widerrufen, da die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
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a) Dies ist gem. § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unter anderem dann der Fall, wenn der Kläger eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Diese Voraussetzungen sind für den Kläger in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt gegeben aufgrund der mit dem seit 27. Juni 2018 rechtskräftigen Verurteilung des Landgerichts … zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten bei einer Einsatzstrafe von 3 Jahren.
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b) Diese Verurteilung führt nicht automatisch zum Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Vielmehr erfordert die Norm nach ständiger Rechtsprechung zudem eine auf einer umfassenden Würdigung aller Umstände beruhende Prognoseentscheidung über das Bestehen einer konkreten Wiederholungsgefahr. Diese liegt vor, wenn vom Kläger in Zukunft neue vergleichbare Straftaten ernsthaft drohen (BVerwGE 112, 185 (188 ff.), BVerwG U.v. 1.11.2005 - 1 C 21/04). Auch diese Voraussetzungen sind für den Kläger in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt gegeben.
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Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744). Dabei sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11; BayVGH, B.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180). Gemessen an diesen Grundsätzen geht die Einzelrichterin davon aus, dass nach dem persönlichen Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Gefahrenprognose wird konkret durch das Verhalten des Klägers im Bundesgebiet getragen. Insofern sieht die Einzelrichterin gemäß § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung der Gründe ab und verweist auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides. Auch nach der mündlichen Verhandlung, auf dessen Zeitpunkt das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für seine Prognosebeurteilung abstellt, sieht das Gericht eine Wiederholungsgefahr weiterhin als gegeben an. Ergänzend ist zu der im streitgegenständlichen Bescheid getroffenen Gefahrenprognose insoweit auszuführen:
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(1) Zwar spricht für den Kläger, dass er in der Therapie die deutsche Sprache recht gut gelernt, nunmehr einen Arbeitsvertrag und nach eigenem Vortrag auch Freunde gefunden hat. Zudem spricht er davon, wieder eine Lebensgefährtin zu haben. Auch soll nach seinem Vortrag die noch verbleibende Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Ebenso trägt er vor, seit drei Jahren und drei Monaten nicht mehr drogenabhängig zu sein.
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(2) Andererseits ist zu beachten, dass der Kläger seine Therapie noch nicht abgeschlossen hat und der erste Arbeitstag des Klägers erst am Tag der mündlichen Verhandlung sein sollte. Vorher hat er lediglich drei Tage an seiner neuen Arbeitsstätte Probe gearbeitet. Auch ist die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung etwa sechs Wochen alt und damit noch recht neu. Eine Wohnung oder konkrete Pläne, wie er nach seiner Entlassung seinen Berufswunsch zum Sportlehrer verwirklichen will, wurden nicht aufgezeigt. Von einer neuen gefestigten Position des Klägers, die ihn davon abhalten kann, in sein früheres Verhalten zurückzufallen, kann daher noch nicht gesprochen werden, zumal es - auch vor dem Hintergrund seines Widerrufsverfahrens - nicht ungewöhnlich ist, dass sich ein Verurteilter während seiner Zeit in Therapie rechtstreu verhält und mit der ihm dort gegebenen Unterstützung fortentwickelt. Dafür, wie sich der Kläger verhält, wenn er nicht mehr in Therapie ist und ihm regelmäßige Unterstützung fehlt, stellt dies für sich genommen kein Indiz für eine Verneinung der Wiederholungsgefahr dar, auch weil die Erfolgschancen bei einer Therapie im Allgemeinen deutlich unter 50% liegen (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2017 - 19 ZB 16.2636 - m.w.N.), wobei hier lediglich das Scheitern im ersten Jahr nach Therapieende berücksichtigt ist. Selbst eine abgeschlossene Therapie rechtfertigt unter Berücksichtigung der Rückfallquote per se keine Resozialisierungswahrscheinlichkeit, BayVGH B.v. 3.4.2019 - 19 ZB 18.1011. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange die Drogentherapie nicht erfolgreich abgeschlossen ist und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (BayVGH, U.v. 3.2.2015 - 10 B 14.1613 m.w.N.). Solange keine Bewährung außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs erfolgt ist, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 31.1.2019 - 10 ZB 18.1534; B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469; BayVGH, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231).
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(3) Zudem machte der Kläger in der mündlichen Verhandlung den Eindruck, seine bisherige Sucht herunter zu spielen. So trug er vor, sogleich in der Untersuchungshaft, im Juni 2017, clean geworden zu sein und nur kurzzeitig körperliche Schmerzen gehabt zu haben. Die Abhängigkeit sei aber zum großen Teil eine mentale Angelegenheit. Nach wenigen Tagen sei er nicht mehr abhängig gewesen. Aus dem strafgerichtlichen Urteil, dessen mündlichen Verhandlungen am 13. Februar und März 2018 stattgefunden haben, geht hervor, dass der Kläger in der Justizvollzugsanstalt Entzugserscheinungen entwickelt habe und einer gesundheitlichen Gefährdung und einer zunehmenden Delinquenzgefährdung auszugehen sei. Hiermit hat sich der Kläger in der gegenwärtigen mündlichen Verhandlung nicht weiter auseinandergesetzt.
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(4) Auch sein Vortrag, die restliche Strafe werde nach Abschluss der Therapie zur Bewährung ausgesetzt, führt zu keinem anderen Ergebnis. Dabei ist zu berücksichtigten, dass Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung nach § 57 StGB zwar von tatsächlichem Gewicht sind und bei der Prognose ein wesentliches Indiz darstellen. Eine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr im Sinne einer Beweiserleichterung begründen sie jedoch nicht. Der durch das Verwaltungsgericht anzulegende Prognosemaßstab bezüglich des Bestehens einer Wiederholungsgefahr unterscheidet sich grundlegend von dem für die strafgerichtliche Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung geltenden Prognosemaßstab. Bei der strafrechtlichen Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung stehen Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund. Eine Bewährungsaussetzung kann daher auch bei Bestehen eines Restrisikos getroffen werden. Demgegenüber legen die Verwaltungsgerichte ihrer Beurteilung ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen zugrunde. In deren Mittelpunkt steht der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten, weshalb das Bundesamt bzw. das Gericht nicht gehalten sind, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen. Ihre Prognose orientiert sich daher grundsätzlich an strengeren Kriterien. Sie geht über die Bewährungsdauer hinaus (BVerwG, U.v.16.11.2000 - 9 C 6/00). Aus den oben dargelegten Gründen, insbesondere auch der noch nicht abgeschlossenen Therapie, liegt nach Auffassung des Gerichts eine konkrete Gefahr weiterer Straftaten vor.
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(5) Wenn auch nicht für die Meinungsbildung des Gerichts ausschlaggebend, die bisher für eine konkrete Wiederholungsgefahr sprechenden Argumente jedoch untermauernd, ist auch der Umstand, dass die vom Kläger genannten Therapieerfolge, seine seit über drei Jahren anhaltende Suchtfreiheit und die Aussicht, dass seine Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werde, alleine auf seinen Aussagen beruht. Vom Kläger wurde kein einziges Dokument vorgelegt, das seine Therapieerfolge bestätigt oder die Aussetzung seiner Haftstrafe zur Bewährung dokumentiert. Das Gericht hatte zuletzt mit Schreiben vom 6. August 2020 unter Verweis auf § 87 b VwGO den Kläger aufgefordert, seinen Vortrag, dass aufgrund der Behandlung des Klägers im Bezirkskrankenhaus … keine Wiederholungsgefahr besteht, zu substantiieren und hierzu Tatsachen anzugeben und nähere Erläuterungen abzugeben. Da dies nicht geschehen ist, obwohl gerade die Wiederholungsgefahr einen zentralen Punkt bei der Bewertung des Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft darstellt, bestehen Zweifel, an der rein positiven Entwicklung des Klägers. Von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung sieht die Einzelrichterin jedoch nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ab, da dies den Rechtsstreit verzögern würde, zumal selbst dessen Bestätigung an der Prognose einer konkreten Wiederholungsgefahr vorliegend aus den oben dargelegten Gründen nichts ändern würde.
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3. Dem Kläger steht unter diesen Umständen auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG zu, da der Ausschlusstatbestand gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG erfüllt ist.
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4. Ebenso wenig steht dem Kläger ein Anspruch auf Gewährung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen folgt das Gericht auch insoweit gemäß § 77 Abs. 2 AsylG den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Bescheides vom 17. Dezember 2019 und führt nur ergänzend aus:
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a) Selbst wenn der Kläger aufgrund der vorgetragenen Desertion vom Wehrdienst verhaftet werden sollte, so droht im daher keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Die Verweigerung des Militärdienstes bis zu einem Jahr in Friedenszeiten oder zwei Monaten in Kriegszeiten kann dazu führen, dass die Gesamtlänge des Militärdienstes um drei bis sechs Monate verlängert wird. Eine mehr als einjährige Wehrdienstverweigerung in Friedenszeiten oder mehr als zwei Monate in Kriegszeiten kann zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Die Wehrdienstverweigerer können soziale Vorteile und Bürgerrechte verlieren, einschließlich des Zugangs zu Posten im öffentlichen Dienst oder höherer Bildung oder des Rechts auf Unternehmensgründung. Die Regierung kann auch die Erteilung von Führerscheinen für Wehrdienstverweigerer verweigern, ihren Pass einziehen oder ihnen verbieten, das Land ohne besondere Genehmigung zu verlassen. Iranische Behörden gehen regelmäßig gegen Wehrdienstverweigerer vor (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 14. Juni 2019, S. 31 f.). Erkenntnisse, dass die Strafverfolgung aus politischen Gründen bei Fahnenflucht verschärft ist, liegen dem Gericht hingegen nicht vor. Allein, dass die verhängte Sanktion an eine alle Staatbürger gleichermaßen treffende Pflicht anknüpft, stellt keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar (BVerwG, B.v. 24.4.2017 - 1 B 22/17 m.w.N.). Eine möglicherweise aufgrund der Desertion drohende Gefängnisstrafe begründet damit kein Abschiebeverbot.
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b) Auch die Verurteilung des Klägers wegen Drogenhandels begründet kein Abschiebehindernis. So wurde im Iran am 16. Juli 2017 eine Gesetzesänderung betreffend die Todesstrafe aufgrund von Drogendelikten verabschiedet. Das Gesetz trat am 14. November 2017 in Kraft. Danach gibt es keine Todesstrafe mehr für den Handel von industriellen Drogen von unter 2 kg (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 14. Juni 2019, Seite 42; ebenso Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 26. Februar 2020, S. 20). Der Kläger hat nach dem vorgelegten Strafurteil nicht mit einer derartigen Menge gehandelt oder andere die Todesstrafe nach sich ziehende Merkmale erfüllt. Zudem wurde der Kläger bereits in Deutschland wegen des Drogenhandels verurteilt. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (s.o. Seite 15; siehe auch Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Iran des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 14. Juni 2019, Seite 87) sind in jüngster Vergangenheit keine Fälle einer Doppelbestrafung bekannt geworden. Auch nach Auskunft des “Home Office” des Vereinigen Königreichs („Country Policy and Information Note Iran: Fear of punishment for crimes committed in other countries „Double Jeopardy or re-prosecution“ von Januar 2018, S. 5) unterfallen Drogendelikte grundsätzlich nicht der Doppelbestrafung, es sei denn, es werden zugleich iranische Interessen berührt. Ein solcher Fall ist bei den vom Kläger begangenen Drogendelikten jedoch ebenfalls nicht gegeben, so dass eine Bestrafung des Klägers im Iran wegen seines Drogenhandels in Deutschland nicht zu befürchten ist.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO.
38
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).