Titel:
Abschiebungsverbot in Zielstaat Aserbaidschan aufgrund Erkrankung wegen paranoider Schizophrenie
Normenketten:
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3, § 4, § 76 Abs. 1, § 77 Abs. 2
Leitsätze:
1. Nichttraditionelle Religionsgemeinschaften haben in Aserbaidschan Schwierigkeiten bei der Registrierung. Anhänger unabhängiger, nicht selten fundamentalistischer-islamischer Strömungen unterliegen staatlicher Beobachtung und, vor allem wenn sie als Sicherheitsrisiko wahrgenommen werden, auch einer Verfolgung. (Rn. 74) (redaktioneller Leitsatz)
1. Selbst wenn der aserbaidschanische Staat gegenüber armenischen Volkszugehörigen nicht landesweit schutzwillig wäre, wäre ein interner Schutz in anderen Landesteilen möglich und zumutbar. (Rn. 83) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es besteht eine erheblichen Gesundheitsgefährdung bei Abbruch der laufenden Behandlung einer paranoider Schizophrenie, wenn diese aus finanziellen Gründen in Aserbaidschan nicht zugänglich ist. (Rn. 110) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aserbaidschanische Staatsangehörige, Erkrankung des Ehemanns an paranoider Schizophrenie, Behandlung in Aserbaidschan seit 2014, Übergriffe als Angehöriger einer christlichen Gruppe „50er“ im Jahr 2002, Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von medizinischer Behandlung u.a. gegen Schizophrenie in Aserbaidschan, Sicherung des Lebensunterhalts bei Erwerbsunfähigkeit, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Abschiebungsverbot, Aserbaidschan, Erkrankung, politische Verfolgung, Heimatland, Nichttraditionelle Religionsgemeinschaften
Fundstelle:
BeckRS 2020, 25645
Tenor
I. Unter Aufhebung von Ziffern 4 bis 6 ihres Bescheids vom 25. November 2016 wird die Beklagte verpflichtet, für den Kläger zu 1 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.
Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 1 zu einem Drittel zu tragen. Die Kläger tragen im Übrigen ihre außergerichtlichen Kosten und die restlichen Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung von Abschiebungsverboten.
2
Der nach eigenen Angaben am * 1976 geborene Kläger zu 1 bildet mit der am * 1980 geborenen Klägerin zu 2 und den 2002, 2004 und 2009 geborenen Klägerinnen zu 3 bis 5 eine Familie aserbaidschanischer Staatsangehörigkeit (überwiegend) aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit christlicher bzw. muslimischer Religionszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben verließen die Kläger Mitte bis Ende Oktober 2014 Aserbaidschan, reisten auf dem Landweg am 13. November 2014 in die Bundesrepublik ein und beantragten Asyl.
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Bei seinen auf Aserbaidschanisch geführten Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 27. Januar 2015 und am 27. Oktober 2016 (BAMF-Akte Bl. 61 ff., 67 ff., 129 ff.) gab der Kläger zu 1 im Wesentlichen an, in Aserbaidschan lebten noch seine Mutter (wohnhaft in *) sowie ein Bruder. Er habe von 1990 bis 1993 auf einer Berufsschule in * Heizungs- und Sanitärmonteur gelernt und nach dem Wehrdienst als Lieferant in * gearbeitet, dabei monatlich 500 Manat verdient (249 EUR) und zusätzlich als Taxifahrer gearbeitet. Neben Aserbaidschanisch spreche er auch Russisch. Bis drei bis vier Monate vor seiner Ausreise habe er in der Eigentumswohnung seiner Mutter gewohnt.
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Er habe Aserbaidschan verlassen, da er und seine Familie in Lebensgefahr gewesen seien. Die Großmutter seiner Ehefrau sei Armenierin gewesen, weshalb seine Frau niemand habe heiraten wollen und nicht sehr angesehen gewesen sei. Als alle erfahren hätten, dass seine Ehefrau eine armenische Großmutter habe, hätten ihnen die Nachbarn Strom und Gas abgestellt, um die Familie loszuwerden. In der letzten Nacht, die die Familie in der eigenen Wohnung verbracht habe, seien einige Nachbarn vor der Tür gestanden und hätten versucht, die Türe aufzubrechen. Als die Kläger gefragt hätten, was die Nachbarn wollten, hätten diese geantwortet, dass sie Verwandte im Krieg mit Armenien verloren hätten und Blutrache üben wollten. Die Tür habe zum Glück gehalten. Jedoch habe man an ihre Tür und an ihren Zaun geschrieben, dass hier Armenier und Christen wohnten, die getötet werden müssten. Nach diesem Vorfall hätten sie sich nicht mehr getraut, die Kinder zur Schule zu schicken.
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Man sei daraufhin in eine Mietwohnung umgezogen und habe einen Weg gesucht, wie man das Land verlassen könne. Die anderen Armenier seien schon zuvor weggezogen. In der Stadtmitte lebten noch Armenier, die aber ihren Namen gewechselt hätten. Wenn man den Namen wechsele oder in eine andere Ortschaft ziehe, dann könne man in Ruhe leben. Es sei aber nur eine zeitlich begrenzte Lösung, bis das jemand herausfinde. Er habe auch an seine Kinder gedacht.
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Als seine Frau schwanger gewesen sei, sei sie zudem von anderen Frauen geschlagen worden, wodurch sie das Kind verloren habe. Seine Frau und er seien auch öfters zusammengeschlagen und auf der Straße beleidigt worden. Als sie zur Polizei gegangen seien, habe man sie nur beleidigt und zurückgeschickt. Diese Erlebnisse habe er nicht verarbeiten können. Er sei deshalb zum Arzt gegangen, der Schizophrenie diagnostiziert und ihm Risperidon und Amitriptylin verschrieben habe, was ihm sehr gut helfe.
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Er gehöre zudem einer besonderen christlichen Glaubensgemeinde an, die sich die „50er“ nenne, nachdem 50 Tage nach Ostern der Heilige Geist zurück zur Erde gekommen sei. Dort sei er von den Aposteln gesehen worden und jeder Apostel habe dies in seiner Sprache verkündet. Man habe Broschüren in der Stadt verteilt und sich ab und zu auch zum gemeinsamen Gebet bei einem Glaubensbruder oder Glaubensschwester versammelt. Die Polizei habe diese Versammlung aber aufgelöst. Der Vorfall habe sich 2002 ereignet. Ungefähr 15 Polizisten hätten die Versammlung gesprengt und sie mit Schlagstöcken so geschlagen, dass er für zwei Wochen bettlägerig gewesen sei. Er habe oft Probleme mit der Polizei gehabt: Wenn die Polizei mitbekommen habe, dass sie Broschüren verteilt hätten, seien die Broschüren von der Polizei vernichtet und sie selbst beleidigt worden. Bei ihm zu Hause habe man sich nie getroffen, da seine Frau dies wegen der übrigen Probleme in der Nachbarschaft nicht gewollt habe.
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Bei ihren auf Aserbaidschanisch geführten Anhörungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 27. Januar 2015 und am 27. Oktober 2016 (BAMF-Akte Bl. 64 ff., 73 ff., 136 ff.) gab die Klägerin zu 2 an, sie habe zuletzt in * gewohnt. In * bei * lebe noch ihre Mutter. Sie habe die Mittelschule abgeschlossen und sei danach Hausfrau gewesen. Neben Aserbaidschanisch spreche sie auch Türkisch.
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Sie habe vor ihrer Ausreise in * gelebt, davon die letzten Monate in verschiedenen Mietwohnungen. Ihr Mann sei Christ der Glaubensgemeinschaft der „50er“ und ihre Großmutter sei Armenierin gewesen. In Aserbaidschan habe man mit einer derartigen Abstammung Probleme. Als sie 2014 im fünften Monat schwanger gewesen und ihre Abstammung herausgekommen sei, habe sie durch Schläge der Nachbarinnen das Kind verloren. Auch habe man der Familie öfters Gas und Strom abgestellt. Eines Nachts hätten Leute vor ihrer Tür gestanden. Einer habe sehr laut gesagt, dass die Familie für die getöteten Mütter und Schwestern im Grenzgebiet selbst getötet werden solle. Mehrmals habe sie auch ihre Haustüre waschen müssen, nachdem dort Parolen wie „Hier leben schmutzige Armenier. Tötet sie.“ angebracht worden seien. Auf ihren Zaun habe man geschrieben: „Hier lebt ein Christ und eine Armenierin. Sie gehören nicht hierher.“ Vor lauter Angst sei man daraufhin in eine Mietwohnung umgezogen.
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Die Leute seien auch sehr schlecht mit ihrem Mann umgegangen und hätten ihn geschlagen. Dies sei 2002 gewesen, als er sich mit seiner Gemeinde zum Beten getroffen habe. Die Versammlung sei aufgelöst und ihr Mann geschlagen worden. Auch danach sei er öfters auf der Straße geschlagen worden. Ihr Ehemann sei an Schizophrenie erkrankt. Sie selbst leide unter Bluthochdruck und nehme Ramipril und Bisoporol. In Aserbaidschan habe sie versucht, sich mit Hausmitteln selbst zu behandeln. Sie habe die Probleme auch nur bei großem Stress gehabt, es sei nicht dauerhaft gewesen.
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Die Kläger legten eine Heiratsurkunde vor (BAMF-Akte Bl. 192).
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Die Kläger legten für den Kläger zu 1 folgende Atteste vor:
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-, Stationsarzt *kliniken * vom 22.5.2015, stationärer Aufenthalt vom 28.4.2015 bis 22.5.2015. Diagnose: Paranoide Schizophrenie (ICD-10 F20.0), Medikation bei Einlassung: Risperdal, Therapieempfehlung: ambulante psychiatrische Weiterbehandlung. Der Kläger berichte, dass er seit langer Zeit stimmen höre, die ihm sagten, er solle sich oder die Kinder umbringen. Im August 2014 sei er das erste Mal in Aserbaidschan bei einem Psychiater gewesen, der ihm Medikamente zur Beruhigung gegeben habe. In Deutschland sei er seit November 2014, er habe Amitriptylin genommen, was aber nicht geholfen habe. Durch die Behandlung im Heimatland erstmalig 2014 sei die Symptomatik remittiert. Bei der Aufnahme habe sich ein paranoid-halluzinatorisches Syndrom mit einem ängstlichen Affekt gezeigt. Nach einer Medikation mit Risperidon seien die Halluzinationen schließlich komplett verschwunden. Der Kläger scheine eine episodisch verlaufende und ausreichend remittierende Verlaufsform der Erkrankung zu haben, da es fremdanamnestisch nach der ersten Krankheitsepisode zu einer vollständigen Remission gekommen sei. Mit dem Kläger sei die Notwendigkeit einer rezidivprophylaktischen Medikamenteneinnahme besprochen worden.
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- Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 28.11.2016, Diagnose: gesichert paranoide Schizophrenie (ICD-10 F 20.0), gesichert Panikstörung (ICD-10 F 41.0), Medikation: Risperidon 4 mg, Amitriptylin 25 mg.
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Für die Klägerin zu 2 legten die Kläger folgendes Attest vor:
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-, Facharzt für Allgemeinmedizin, Attest vom 29.11.2016. Bei der Klägerin zu 2 bestehe eine arterielle Hypertonie, die mit Bisoprolol 5 mg und Ramipril 10 mg behandelt werde.
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Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 25. November 2016, als Einschreiben am 30. November 2016 zur Post gegeben, den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Abschiebung nach Aserbaidschan wurde angedroht (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft komme nicht in Betracht. In Bezug auf die vorgetragenen Verfolgungshandlungen wegen der armenischen Staatsangehörigkeit der Großmutter der Klägerin zu 2 seien die Kläger auf innerstaatliche Fluchtalternativen zu verweisen. Insofern hätten die Kläger selbst vorgetragen, in eine Mietwohnung gezogen und somit inländische Zuflucht gefunden zu haben. Nicht nachvollziehbar sei es, dass sie sich dort regelrecht versteckt und die Kinder nicht zur Schule geschickt hätten. Es sei nicht damit zu rechnen, dass fremde Nachbarn in * ein Interesse daran hätten, die armenische Großmutter der Klägerin zu 2 herauszufinden, zumal die Kläger mit ihren auf „-ev“ endenden Nachnahmen typisch aserbaidschanische Nachnamen trügen, während armenische Nachnamen regelmäßig auf „-schwili“ oder „-jan“ endeten. Die Kläger könnten auch an anderen Orten Aserbaidschans ihren Lebensunterhalt sichern, denn die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sei gesichert und sozial schwache Familien erhielten Sozialleistungen. Zudem könne der Kläger zu 1 als ausgebildeter Monteur und Taxifahrer wie schon bisher den Lebensunterhalt der Kläger sichern. Was die Religionszugehörigkeit des Klägers zu 1 betreffe, so sei nicht diese, sondern die Probleme seiner Ehefrau maßgeblich für die Ausreise der Kläger gewesen. Der Kläger zu 1 habe angegeben, 2002 von der Polizei geschlagen worden zu sein, so dass kein Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und der Ausreise 2014 bestehe. Auch die Zuerkennung subsidiären Schutzes komme nicht in Betracht, ebenso wenig die Feststellung von Abschiebungsverboten. Der Kläger zu 1 sei wegen seiner paranoiden Schizophrenie schon im August 2014 in Aserbaidschan in Behandlung gewesen, wodurch die Symptome vollständig remittiert seien. Es sei nicht zu befürchten, dass der Kläger zu 1 wegen seiner Erkrankung in Aserbaidschan nur eingeschränkt oder gar nicht als Familienernährer fungieren könne. Die Erkrankung des Klägers zu 1 sei nicht lebensbedrohlich. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Schutzwürdige Belange seien nicht vorgetragen worden.
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In der Rechtsbehelfsbelehrung:des streitgegenständlichen Bescheids vom 25. November 2016 wurde das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach als zuständiges Gericht bezeichnet. Am 24. November 2016 waren die Kläger indes in den Landkreis * umverteilt worden.
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Am 12. Dezember 2018 ließen die Kläger vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach Klage erheben und beantragen,
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1. Unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 25. November 2016, zugestellt am 1. Dezember 2016, Aktenzeichen, wird die Beklagte verurteilt, bei den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG festzustellen.
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2. Hilfsweise wird beantragt, die Beklagte zu verurteilen, bei den Klägern subsidiären Schutz nach § 4 AsylG festzustellen.
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3. Äußerst hilfsweise wird beantragt, die Beklagte zu verurteilen, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festzustellen.
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Der Kläger zu 1 sei christlichen Glaubens und habe deshalb in Aserbaidschan erhebliche Probleme gehabt. Die Kläger seien mehrfach innerhalb * umgezogen. Die Großmutter der Klägerin zu 2 sei armenischer Herkunft und sei anlässlich des schwelenden Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan aufgrund ihrer Herkunft massiv bedroht worden. Darüber hinaus leide der Kläger zu 1 an paranoider Schizophrenie und sei bereits stationär im *krankenhaus * gewesen.
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Der Kläger zu 1 ließ folgendes Attest vorlegen:
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- Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 2.8.2018. Diagnosen: Paranoide Schizophrenie (ICD-10 F 10.0), schizophrener Defektzustand (ICD-10 F 20.5), Z.n. Panikstörung (ICD-10 F 41.0).
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Der Kläger befinde sich seit dem 19. Februar 2015 in sechs- bis achtwöchigem Abstand in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Der Kläger habe bei seiner Erstvorstellung von Kopfschmerzen, Tinnitus, Albträumen, innerer Unruhe, Palpitation, erhöhter Schreckhaftigkeit, Gefühl vitaler Gefährdung, Schwächegefühl, Schweißausbrüchen und reaktiv depressiver Verstimmung berichtet. Die Symptomatik habe seit August 2014 schon im Heimatland bestanden, wo der Kläger nervenärztlich (wohl mit Benzodiazepinen) behandelt worden sei. Als besonderen Belastungsfaktoren schildere der Kläger, dass er als 15-Jähriger die Toten eines Massakers gesehen habe. Die Ehefrau berichte von Rückzugstendenzen des Klägers sowie von Rede- und Gegenrede des Klägers mit nicht vorhandenen Personen. Die Exploration habe ein produktiv psychotisches Geschehen mit akuten Halluzinationen („Erhäng dich“) ergeben, weswegen eine umgehende Einweisung in das *krankenhaus erfolgt sei. Dort sei die Diagnose einer Paranoiden Schizophrenie gestellt worden. Aktuell stünde beim Kläger eine Symptomatik mit Antriebsminderung, Energielosigkeit, Anhedonie, depressiver Verstimmung, Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen im Vordergrund. Es erfolge eine Medikation mit Risperidon 4 mg und Milnacipran 25 mg sowie regelmäßige Kontrollen der Blut-, Leber- und Nierenwerte und EKG-Kontrollen. Ein möglicher Abbruch der Medikation führe mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb weniger Wochen zu einer Exazerbation der paranoiden Schizophrenie; im Vorfeld habe dies zu akustischen Halluzinationen mit imperativen Stimmen („Erhäng dich“) und einer notfallmäßigen Einweisung geführt. Der Kläger sei nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
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Die Beklagte beantragte
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und hat mitgeteilt, dass eine Abhilfe nicht in Erwägung gezogen werde, da der Kläger zu 1 bereits in Aserbaidschan in medizinischer Behandlung gewesen sei.
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Mit Beschluss vom 5. Mai 2017 hat sich das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg verwiesen. Die Klage ging dort am 16. Mai 2017 ein.
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Anschließend entzogen die Kläger dem damaligen ersten Klägerbevollmächtigten das Mandat (VG-Akte Bl. 50 f.) und beauftragten die heutigen ersten (VG-Akte Bl. 52) und zweiten (VG-Akte Bl. 60) Klägerbevollmächtigten parallel nebeneinander; letztere beantragten Prozesskostenhilfe.
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Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 18. September 2018 der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylG). Der nach ihrem Wechsel aus dem Verwaltungsgericht zuständige Einzelrichter hat eine in einem anderen Klageverfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes, Berlin, zu folgenden Fragen (Antworten des Auswärtigen Amts, Auskunft vom 20.11.2019, VG-Akte Bl. 150 f., eingefügt) zum Verfahrensgegenstand gemacht:
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1. Sind neuroleptische Medikamente in Aserbaidschan erhältlich? Sind insbesondere die Medikamente Levomepromazin, Olanzapin und Risperidon oder gleichwertige Medikamente erhältlich?
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Antwort: Neuroleptika sind grundsätzlich in Aserbaidschan erhältlich. Sie sind wir auch in Deutschland rezeptpflichtig und nur in wenigen Apotheken erhältlich. Risperidon und Olanzapin sind beide in Aserbaidschan erhältlich.
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2. Sind die Behandlung einer paranoiden Schizophrenie in Aserbaidschan sowie die hierzu erforderlichen Medikamente auch in tatsächlicher Hinsicht nicht mit Kosten verbunden? Ist es zutreffend, dass u.a. Schizophrene, die in einer psychiatrischen Klinik registriert sind, in tatsächlicher Hinsicht kostenlosen Zugang zu Psychopharmaka haben?
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Antwort: Kostenfreie Behandlung ist nur de jure vorhanden. Bei stationärer Behandlung werden die Medikamente von der Klinik zur Verfügung gestellt. De facto ist es jedoch so, dass nicht alle Medikamente in den Kliniken verfügbar sind und die vorhandenen Präparate oft veraltet sind und eine niedrige Effektivität haben. Deshalb kaufen die Patienten regelmäßig modernere Präparate auf eigene Kosten.
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3. Wenn die Fragen unter Ziffer 1 verneint werden: Welche Kosten fallen bei einer Behandlung einer paranoiden Schizophrenie an (ambulant, stationär, für Medikamente)?
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Antwort: Jede ambulante Sprechstunde muss vom Patienten selbst bezahlt werden und kostet ungefähr 30-40 AZN (= ca. 15-20 EUR). Die stationäre Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen ist kostenlos, es müssen jedoch die fehlenden Medikamente besorgt werden. Zu den Kosten der laut Beweisbeschluss verschriebenen Medikamente kann wie folgt ausgeführt werden:
Risperidon (Rispaxol) 2 mg 20 Tab. = 9,91 AZN (= ca. 5 EUR)
Olanzapin (Zylanka) 5 mg 28 Tab. = 17,10 AZN (= ca. 9 EUR)
Zolaxa 5 mg 30 Tab. = 38,00 AZN (= ca. 19 EUR)
Zarifar 10 mg 28 Tab. = 34,32 AZN (= ca. 17 EUR)
Levomeprazin ist nicht verfügbar, aber ein Präparat mit gleichem Wirkstoff unter dem Handelsnamen Tisercin erhältlich.
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4. Ist eine Behandlung einer paranoiden Schizophrenie für Mittellose zumindest in dem Umfang gewährleistet, dass im Rahmen einer akuten Psychose eine Selbstgefährdung oder sonstige wesentliche Verschlechterung verhindert werden kann?
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Antwort: Ja, im Rahmen einer stationären Behandlung ist eine kostenfreie Behandlung möglich.
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5. Wie stellt sich die derzeitige Arbeitsmarktsituation für wenig Qualifizierte dar?
Antwort: Die wirtschaftliche Lage in Aserbaidschan erholt sich zwar langsam, ist jedoch immer noch schwierig. Personen ohne Berufsausbildung und ohne familiäre Hilfe haben es in Aserbaidschan - wie auch in anderen Ländern mit vergleichbarer wirtschaftlicher Lage - schwer, eine Arbeit mit ausreichendem Einkommen zu finden; ausgeschlossen ist es jedoch nicht.
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6. Welche staatliche Unterstützung erhält eine einkommensschwache Familie, wenn ein Elternteil arbeitsunfähig erkrankt ist?
Antwort: Es ist grundsätzlich möglich, staatliche Hilfe in Form von Sozialhilfe oder ähnlichem zu beantragen. Über die konkreten Erfolgsaussichten kann die Botschaft keine Aussage treffen. Außerdem gibt es das unter anderem mit deutschen Mitteln geförderte Rückkehrerprogramm „Restart“, das genau auf diese Personengruppe zugeschnitten ist und den Rückkehrern dabei hilft, staatliche Unterstützungsmöglichkeiten zu beantragen und den Anspruch zu nehmen.
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Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.
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Die zweiten Klägerbevollmächtigten führten aus, die armenische Herkunft der Großmutter der Klägerin zu 2 sei an ihrem Namen (*yan) eindeutig zu erkennen. Auch wenn die Klägerin zu 2 selbst einen russifizierten Nachnamen (*eva) trage, sei doch der Name ihrer Großmutter in die Geburtsurkunde eingetragen. Daher sei ihr Name nach wie vor geeignet, Diskriminierung auszulösen. Eine Verschleierung ihrer Herkunft sei der Klägerin zu 2 nicht möglich, da ein Blick in die Geburtsurkunde genüge, um ihre armenische Abstammung zu erkennen; Armenier seien in der aserbaidschanischen Bevölkerung nicht generell akzeptiert. Sie könne daher ihre Abstammung nicht komplett verbergen. Für den Kläger zu 1 werde keine generelle Gruppenverfolgung von Christen geltend gemacht, sondern die Verfolgung der speziellen Gruppierung, welche der Kläger zu 1 angehöre. Es handelte sich um eine sogenannte Pfingstgemeinde; eine beim staatlichen Religionskomitee in Aserbaidschan nicht registrierte Gemeinschaft sei illegal; der Kläger gehe davon aus, dass diese Gruppe nicht registriert sei. Weiter sei diese Gruppierung missionarisch tätig gewesen, was von staatlicher Seite nicht geduldet werde. Sie hätten Bücher und Broschüren auf den Straßen verteilt, Gebete hätten dann an versteckten Orten stattfinden müssen, da die Gruppe der Verfolgung ausgesetzt gewesen sei.
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Eine kostenfreie Behandlung sei nur de jure vorhanden, der Bedarf an Medikation des Klägers zu 1 werde noch durch ein aktuelles ärztliches Attest belegt. Zudem müsse der Kläger zu 1 Medikamente wegen eines Diabetes mellitus Typ 2 einnehmen, was ebenfalls durch ein Attest belegt werde. Der Kläger sei finanziell zur Beschaffung der erforderlichen Medikamente in Aserbaidschan nicht in der Lage; er habe etwa 300-500 AZN monatlich verdient (150 bis 250 Euro) durch Gelegenheitsarbeiten sowie als Handwerker, Hausmeister und Taxifahrer. In Zeiten seiner Arbeitslosigkeit habe die Familie die Hausgeräte verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen. Die Klägerin zu 2 und ihre Kinder hätten nicht arbeiten können. Die Familie habe in Aserbaidschan auch kein familiäres Netzwerk mehr. Die Kläger zu 1 und zu 2 hätten daher Anspruch auf Flüchtlingsschutz, im Übrigen Anspruch auf Abschiebungsverbote, da die Familie mit Sicherheit verelenden werde und sogar Suizidalität bis hin zum Tod oder ein Entgleisen des Diabetes lebensbedrohlich werden könnte. Es wurde Prozesskostenhilfe beantragt.
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Im Verlauf des Klageverfahrens wurden folgende ärztlichen Stellungnahmen für den Kläger zu 1 vorgelegt:
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- Dr., Chefärztin Innere Medizin, *kliniken, Entlassbericht vom 11.7.2018 (VG-Akte Bl. 102 ff.):
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Diagnosen: Diabetes mellitus Typ 2, Depression, arterielle Hypertonie, Zustand nach TBC vor 10 Jahren.
Anamnese: stationäre Einweisung durch den Hausarzt wegen Gewichtsabnahme unklarer Ursache; Diätberatung durchgeführt, Entlassung in insgesamt deutlich gebesserten Zustand nach einer Woche stationärer Behandlung.
Medikation: Ramipril 2,5 mg (1-0-0-0), Simvastatin 20 mg (0-0-1-0), Metformin 500 mg (1-0-1-0), Amitriptylin 25 mg (0-0-0-5-0), Risperidon 4 mg (1-0-0-0), Insulin glargin (0-0-13IE-0).
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- Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 9.1.2020 (VG-Akte Bl. 101).
Diagnosen: Paranoide Schizophrenie (ICD-10 F 10.0), gesichert Panikstörung (ICD-10 F 41.0).
Der Kläger befinde sich seit Februar 2015 in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Der Kläger zeige eine Symptomatik mit Antriebsverminderung, Energielosigkeit, Konzentrationsstörungen und könne seine Alltagsgestaltung nicht selbstständig bewältigen und sei in den meisten Lebensbereichen auf die Hilfe seiner Frau angewiesen. […] Er sei auf eine kontinuierliche psychiatrische Behandlung einschließlich medikamentöser Therapie angewiesen, könne sich aufgrund des Krankheitszustandes nicht selbst versorgen und benötige eine kontinuierliche Betreuung im häuslichen Bereich.
Medikation: Risperidon 4 mg (0-0-1-0), Aripiprazol 15 mg (0-0-0-1), Milnaneurax 50 mg (1-1-0-0).
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- N.N., *kliniken * u.a., Vorläufiger Entlassbrief vom 28.2.2020 (VG-Akte Bl. 212 ff.).
Diagnose: Erkrankung der Herzkranzgefäße, dazu Risikofaktoren für Herzerkrankung Nikotinabusus und Diabetes mellitus Typ 2.
Anamnese: der Kläger zu 1 habe immer wieder über stechende Schmerzen im linken Brustbereich mit Ausstrahlung in den linken Arm geklagt.
Therapie: Stents in die Herzkranzgefäße gesetzt, danach Medikation mit ass 100 mg als Monotherapie sowie Kontrolluntersuchung.
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Im Verlauf des Klageverfahrens wurden folgende ärztlichen Stellungnahmen für die Klägerin zu 2 vorgelegt:
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-, Facharzt für Allgemeinmedizin, Attest vom 9.1.2020 (VG-Akte Bl. 104).
Diagnosen: arterielle Hypertonie (I 110.99 G), Hyperlipoproteinämie (E 78.5 G), obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (G 47.31 G), rezidivierende Abdominalbeschwerden (R 10.0 G), Steadosis Hepatis (K 76.0 G), Osteochondrose L5/S1 (M 51.2 G), intraforaminale Bandscheibenprotusion links (M 51.2 G), linkskonvexe skoliotische Fehlhaltung (M 41.8 G), Adipositas I (E 66.9 G), V.a. vegetative Dystonie (F45.9 G).
Anamnese: Die Klägerin stehe seit April 2015 regelmäßig in Behandlung und Klage über wiederkehrende Schmerzen im Abdominalbereich, im Thorax- und Lumbalbereich, teilweise mit Atembeschwerden sowie Tagesmüdigkeit. Das Schlafapnoe-Syndrom werde mit einer APAP-Therapie behandelt. Aus hausärztlicher Sicht sei unter anderem die belastende ungewisse soziale Komponente ausschlaggebend für die immer wiederkehrenden vor allem Abdominalbeschwerden. [Weitere einzelne ärztliche Atteste aus dem Jahr 2015 und 2016 wurden hierzu ergänzend vorgelegt].
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- Dr., *zentrum, Attest vom 20.2.2019 (VG-Akte Bl. 148 f.):
Diagnosen: obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (G 47.31 G), Adipositas II (E 66.01 G).
Anamnese: die Patientin benutze das Gerät mit Maske einer APAP-Therapie nicht, sehe auch keinen Sinn darin, warum sie die Therapie durchführen solle, reiße sich die Maske in der Nacht weg und lehne auch eine Gewichtsreduktion sowie eine andere Schlafhaltung ab.
Medikation: Biosoprol (1-0-0-0), Ramipril (1-0-0-0), APAP.
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Der Einzelrichter gewährte mit Beschluss vom 20. Februar 2020 teilweise Prozesskostenhilfe.
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Die Regierung von * als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakte sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässigen Klagen haben nur im tenorierten Umfang teilweise Erfolg. Der mit den Klagen angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist nur im tenorierten Umfang rechtswidrig und daher aufzuheben, im Übrigen aber rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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Die Klagen sind zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden.
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Die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG ist zwar nicht gewahrt, denn am 12. Dezember 2018 ließen die Kläger vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach Klage erheben, die erst mit dessen Beschluss vom 5. Mai 2017 an das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg verwiesen wurde, wo sie am 16. Mai 2017 und damit nach rechnerischem Ablauf der Klagefrist einging. Jedoch gilt vorliegend nach § 58 Abs. 2 VwGO nicht die zweiwöchige sondern die einjährige Klagefrist, denn die Rechtsbehelfsbelehrung:des streitgegenständlichen Bescheids vom 25. November 2016 war unzutreffend, da hierin das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach als zuständiges Gericht bezeichnet wurde. Am 24. November 2016 und damit vor Erlass des Bescheids waren die Kläger indes in den Landkreis * umverteilt worden, was der Beklagten offenbar noch nicht mitgeteilt worden war. Gleichwohl war im Zeitpunkt der Klageerhebung nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO bereits das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg örtlich zuständig. Damit lief die Jahresfrist, die eingehalten ist, ohne dass es darauf ankommt, ob bereits die Rechtshängigkeit beim örtlich unzuständigen Verwaltungsgericht die Klagefrist gewahrt hat.
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Die Klagen sind aber nur für den Kläger zu 1 im tenorierten Umfang teilweise begründet, im Übrigen sind sie für ihn wie auch vollumfänglich für die Kläger zu 2 bis 5 unbegründet. Es wird insoweit Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
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Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
65
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
66
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) entspricht.
67
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16).
68
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 17, 34). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
69
Soweit keine Beweiserleichterung wie bei Vorverfolgung oder in Widerrufsfällen nach Art. 4 Abs. 4 bzw. Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU greift, bleibt es im Umkehrschluss beim allgemeinen Günstigkeitsprinzip, wonach die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter für sich günstige Rechtsfolgen herleitet, zu seinen Lasten geht, also der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 26 ff.).
70
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt -, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wenig wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
71
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
72
a) Für den Kläger zu 1 fehlt es an einer ausreiserelevanten Verfolgung.
73
Eine Verfolgung wegen der „Religion“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU umfasst als Schutzgut der Religion theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit Anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Damit enthält die Norm einen weiteren Religionsbegriff, der alle Komponenten dieses Begriffs, ob öffentlich oder privat, kollektiv oder individuell, einbezieht. Er umfasst sowohl „traditionelle“ Religionen als auch andere Glaubensüberzeugungen (EuGH, U.v. 4.10.2018 - C-56/17 - NVwZ 2019, 634/637 Rn. 63 ff.).
74
Soweit der Kläger zu 1 sich auf eine Verfolgung wegen seines Glaubens und seiner Missionstätigkeit im Jahr 2002 und danach beruft, war diese für die Ausreise im Jahr 2014 nicht mehr fluchtauslösend. Laut Erkenntnislage (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 18.6.2018, S. 4) garantiert der säkulare Staat die Religionsausübung der registrierten (traditionellen) Religionsgemeinschaften und sichert das friedliche Zusammenleben von Sunniten, Schiiten, Juden und Christen. Nichttraditionelle Religionsgemeinschaften haben Schwierigkeiten bei der Registrierung. Anhänger unabhängiger, nicht selten fundamentalistischer-islamischer Strömungen unterliegen staatlicher Beobachtung und, vor allem wenn sie als Sicherheitsrisiko wahrgenommen werden, auch Verfolgung (Lagebericht ebenda S. 4). Dass der Kläger Anhänger einer heute noch seitens des aserbaidschanischen Staats als Sicherheitsrisiko wahrgenommenen Religionsgemeinschaft wäre, ist nicht ersichtlich. Die behaupteten Übergriffe gegen seine Gruppe („50er“) hätten im Sommer 2002 stattgefunden. Dass diese Gruppe heute, 18 Jahre später, noch im Blickfeld des aserbaidschanischen Staats stünde, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
75
Auch in der mündlichen Verhandlung hat sich nicht ergeben, dass diese Gruppe heute noch existiert; die Kläger haben den Kontakt zu ihr abgebrochen (Protokoll vom 23.6.2020 S. 5), auch wenn sich der Kläger zu 1 ihr noch zugehörig fühle (Protokoll vom 23.6.2020 S. 5). Weder ist ersichtlich, dass die spezifische Form der Glaubenspraxis dieser Gruppe für den Kläger zu 1 identitätsstiftend wäre - in Deutschland sind die Kläger weder Mitglied einer hier existierenden Kirche oder der früheren vergleichbaren Glaubensgemeinschaft, noch können sie erklären, in welchem Kirchengebäude sie gelegentlich beten oder Kerzen anzünden, noch haben sie ihren Kindern überhaupt den christlichen Glauben und eine Zugehörigkeit zu einer Gemeinde vermittelt (Protokoll vom 23.6.2020 S. 5) -, noch ist erkennbar, dass der am Glaubensleben schon ausgesundheitlichen Gründen nicht mehr aktiv teilnehmende Kläger zu 1 (Protokoll vom 23.6.2020 S. 5) bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan wieder dasselbe Glaubensleben wie im Jahr 2002 und bis zu seiner Ausreise praktizieren und sich so staatlichen Maßnahmen aussetzen würde.
76
Soweit eine offene Missionstätigkeit nicht geduldet wird (Lagebericht ebenda S. 10), betrifft dies alle Religionsgemeinschaften. Ebenso muss sich jede Religionsgemeinschaft beim Staatskomitee registrieren lassen, das auch die Einfuhr, den Druck und die Verbreitung religiöser Literatur kontrolliert (Lagebericht ebenda S. 10). Dies sind zwar Beschränkungen der Religionsfreiheit im Außenbereich der Religionsbetätigung. Weiter gilt in Aserbaidschan die Tätigkeit einer Religionsgemeinschaft ohne Registrierung als illegal; sind aktuell 739 islamische, 17 christliche, 8 jüdische, 2 Baha’i und 1 krischnaitische Gemeinden registriert (Lagebericht ebenda S. 10).
77
Es ist aber nicht ersichtlich, dass die Gruppierung des Klägers eine Registrierung wenigstens versucht und einen legalen Status angestrebt hat (Protokoll vom 23.6.2020 S. 4), ebenso wenig ist ersichtlich, dass der Kläger heute noch Anhänger dieser Gruppierung ist und im Fall einer Rückkehr für sie erneut aktiv und offen missionieren würde unter Verstoß gegen staatliche Regeln, welche (nur) die offene, nicht die verdeckte Missionierung untersagen.
78
Hinzu kommt, dass Ausreiseanlass des Klägers letztlich die diagnostizierte Schizophrenie war, die in Aserbaidschan seinen Angaben zu Folge offenbar gut behandelt worden ist (BAMF-Akte Bl. 134), die aber zusammen mit seiner Arbeitslosigkeit zu einer Verelendung der Familie geführt habe, da er die Behandlung nicht mehr hätte bezahlen können (VG-Akte Bl. 99).
79
b) Für die Klägerin zu 2 fehlt es an einer landesweiten ausreiserelevanten Verfolgung.
80
Die geltend gemachten Übergriffe von Nachbarn u.a. sind Übergriffe privater Dritter, die nicht landesweit vorkamen, wie sich aus dem eigenen Vortrag der Klägerin ergibt, zumal sie Bedrohungen und Übergriffen durch Umzug ausgewichen sind. Diese Privaten sind mangels Territorialgewalt keine Verfolger i.S.v. § 3c AsylG, Dass diese Übergriffe dem aserbaidschanischen Staat zurechenbar sind, ist nicht ersichtlich, denn die Privaten handelten eigenständig. Von einem aktiven staatlichen Verfolgungsprogramm mit den Privaten als bloßen Handlangern kann daher nicht die Rede sein.
81
Auch eine staatliche Verfolgung durch landesweites Unterlassen angemessenen Schutzes ist nicht ersichtlich; die Klägerin zu 2 hat hierzu vor dem Bundesamt nichts vorgetragen. Dass der Staat landesweit schutzunwillig wäre, ist auch nicht ersichtlich, denn die Klägerin zu 2 hat zwar angegeben, sie seien bei der Polizei nur weggeschickt und beleidigt worden, Näheres dazu konnte sie aber nicht mehr erinnern und Schutzersuchen an andere oder übergeordnete staatliche Stellen wie die Ombudsfrau sind nicht erfolgt (Protokoll vom 23.6.2020 S. 7).
82
Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin zu 2 Teil einer Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist, da sie erstens zwar nach ihren Angaben armenischer Abstammung ist, dies aber ihr äußerlich und sprachlich offenbar nicht anzumerken ist, sondern sich allein aus der Geburtsurkunde ergibt, in welcher ihre armenische Großmutter verzeichnet sei. Da sie aber verheiratet ist, wäre ihr auch ein Namenswechsel mit Umzug in die weitere Umgebung im Land möglich, den ihr Ehemann als ausreichende Schutzalternative bezeichnet hat (BAMF-Akte Bl. 133), zumal sie ihren Namen dem seinen angeglichen hat (BAMF-Akte Bl. 7, 192), den sie aber wegen der Kinder nicht in Erwägung gezogen haben wollen (Protokoll vom 23.6.2020 S. 5 f.). Zweitens teilt sie offenbar keine (äußerliche oder sonst erkennbare) abgegrenzte Identität mit anderen armenischen Volkszugehörigen, da sie sich - wie schon ihr Vater (Protokoll vom 23.6.2020 S. 6) - assimiliert hat und assimilieren will und eine armenische Volkszugehörigkeit väterlicherseits nicht einmal aus ihrem Reisepass, sondern nur aus ihrer Geburtsurkunde ersichtlich sein soll (Protokoll vom 23.6.2020 S. 6).
83
Das Bundesamt hat zutreffend darauf verwiesen, dass der Klägerin, selbst wenn der aserbaidschanische Staat gegenüber armenischen Volkszugehörigen nicht landesweit schutzwillig wäre, ein interner Schutz in anderen Landesteilen, wo man die Kläger nicht kennt, möglich und zumutbar wäre (Bescheid S. 5); erst recht verbunden mit o.g. Namenswechsel. Dieser Einschätzung schließt sich der Einzelrichter an.
84
Diese interne Fluchtalternative ist ihnen auch wirtschaftlich zumutbar. Soweit die Klägerin zu 2 und die Kläger zu 3 bis 5 gemeinsam nach Aserbaidschan zurückkehren würden und nicht erwerbstätig wären, wären sie auf die Existenzsicherung durch dortige Sozialleistungen zu verweisen (Lagebericht ebenda S. 16); zudem sind die Kinder heute zwischen 17 und 10 Jahre alt und nicht mehr auf eine vollzeitige Betreuung und Beaufsichtigung angewiesen, vielmehr teilweise selbst in Ausbildung und damit erwerbstätig und erwerbsfähig, so dass die Klägerin zu 2 auch eine mindestens Teilzeit-Erwerbstätigkeit aufnahmen kann, um zum Familienunterhalt beizutragen, selbst wenn der Kläger zu 1 wohl nicht mehr erwerbsfähig ist.
85
c) Die Kläger zu 3 bis 5 konnten ebenfalls nicht glaubhaft machen, dass ihnen in Aserbaidschan eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Sie waren - soweit vorgetragen - bisher nicht Ziel von staatlichen oder quasistaatlichen Maßnahmen und sind im Übrigen auf die soeben geschilderte innerstaatliche Zuflucht zu verweisen.
86
2. Der Kläger haben auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
87
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
88
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
89
Insoweit wird ebenfalls auf die Bescheidsbegründung verwiesen und ergänzt, dass o.g. innerstaatliche Zuflucht besteht (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
90
3. Den Klägern steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu, da diese Norm im Fall - wie hier für den Kläger zu 1 - geltend gemachter wirtschaftlich existenzbedrohender krankheitsbedingter Gefahren durch § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG gesperrt ist und die Sicherung des Existenzminimums dieser Kläger im vorliegenden Einzelfall dort indirekt berücksichtigt wird (vgl. oben zu § 3e AsylG und unten).
91
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
92
a) Die Vorschrift des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK findet nach deutscher Rechtslage nicht auf die besonderen Ausnahmefälle krankheitsbedingter Gefahren (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 175 f.) Anwendung, da der Bundesgesetzgeber solche Fälle in § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG als lex specialis geregelt hat. Dies ist konventions-, unions- und bundesrechtlich nicht zu beanstanden, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 ff. Rn. 16 f.), dessen Feststellung zu einer identischen Schutzberechtigung für den Betroffenen führt (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dabei liegt die Ausgestaltung eines nationalen Abschiebungsverbots allein in der Gestaltungshoheit des nationalen Gesetzgebers, solange er auf der Rechtsfolgenseite keinen mit dem subsidiären Schutz konkurrierenden Schutzstatus einführt (EuGH, U.v. 18.12.2014 - C-542/13 - juris Rn. 42 f.). Dies ist für den Kläger zu 1 der Fall.
93
b) Die Sicherung des Existenzminimums der Kläger zu 2 bis 5 wird durch Sozialhilfeleistungen nach dem landesüblichen Standard in Aserbaidschan sowie eigene Erwerbstätigkeit gesichert werden können (vgl. oben zur innerstaatlichen Zuflucht).
94
4. Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers zu 1 vor, im Fall der übrigen Kläger aber nicht.
95
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung und die mit einer Erkrankung verbundenen Gesundheitsbeeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat verschlimmern, ist in der Regel als am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfende individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 - juris Rn. 15). Die Gesundheitsgefahr muss erheblich sein; die Verhältnisse im Abschiebezielstaat müssen also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität, etwa eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, erwarten lassen. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I S. 390) mit Wirkung vom 17. März 2016 geänderten Fassung nachgezeichnet (vgl. NdsOVG, B.v. 19.8.2016 - 8 ME 87.16 - juris Rn. 4). Nach dieser Bestimmung liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
96
Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, dass also eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, a.a.O.).
97
Dabei sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können, in die Beurteilung der Gefahrenlage mit einzubeziehen. Solche Umstände können darin liegen, dass eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Zielstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich trotz grundsätzlich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 - juris Rn. 9).
98
b) Diese Anforderungen sind auch mit Art. 3 EMRK vereinbar: Krankheitsbedingte Gefahren können ausnahmsweise die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllen. Solche Ausnahmefälle können vorliegen, wenn eine schwerkranke Person durch die Aufenthaltsbeendigung auch ohne eine unmittelbare Gefahr für ihr Leben schon wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Aufnahmeland oder weil sie dazu keinen Zugang hat, tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wird, dass sich ihr Gesundheitszustand schwerwiegend, schnell und irreversibel verschlechtert mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 183). Solche Gesundheitsgefahren muss der Ausländer allerdings mit ernst zu nehmenden Gründen geltend machen und daraufhin der Konventionsstaat sie in einem angemessenen Verfahren sorgfältig prüfen, wobei die Behörden und Gerichte des Konventionsstaats die vorhersehbaren Folgen für den Betroffenen im Zielstaat, die dortige allgemeine Situation und seine besondere Lage berücksichtigen müssen, ggf. unter Heranziehung allgemeiner Quellen wie von Berichten der Weltgesundheitsorganisation oder angesehener Nichtregierungsorganisationen sowie ärztlicher Bescheinigungen über den Ausländer (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 186 f. m.w.N.). Dies mündet in eine Vergleichsbetrachtung der Folgen einer Abschiebung für den Betroffenen durch einen Vergleich seines Gesundheitszustands vor der Abschiebung mit dem, den er nach Abschiebung in das Bestimmungsland haben würde. Maßgeblich ist eine nur ausreichende Behandlung, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu verhindern, nicht, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat der medizinischen Versorgung im Konventionsstaat mindestens gleichwertig ist, denn Art. 3 EMRK garantiert kein Recht, im Zielstaat eine besondere Behandlung zu erhalten, welche der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188f . m.w.N.). Die erforderliche Prüfung umfasst auch, inwieweit der Ausländer tatsächlich Zugang zu der Behandlung und den Gesundheitseinrichtungen im Zielstaat hat, wobei die Kosten für Medikamente und Behandlung berücksichtigt werden müssen, ob ein soziales und familiäres Netz besteht und wie weit der Weg zur erforderlichen Behandlung ist (ebenda Rn. 190 m.w.N.). Wenn nach dieser Prüfung ernsthafte Zweifel bleiben, ist Voraussetzung für die Abschiebung, dass der abschiebende Staat individuelle und ausreichende Zusicherungen des Aufnahmestaats erhält, dass eine angemessene Behandlung verfügbar und für den Betroffenen zugänglich sein wird, so dass er nicht in eine Art. 3 EMRK widersprechende Lage gerät (ebenda Rn. 191).
99
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch aussagekräftige, nachvollziehbare Atteste, die klare Diagnosen stellen und Aufschluss über die konkrete Therapie und mögliche Folgen einer unzureichenden Behandlung geben, glaubhaft machen (BayVGH, B.v. 27.11.2017 - 9 ZB 17.31302 - juris Rn. 4; nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 2, § 60a Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
100
c) Ein solches Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers zu 1 vor.
101
aa) Die o.g. Maßstäbe vorausgesetzt, ist bei dem Kläger zu 1 nach derzeitigem Verfahrensstand unter Berücksichtigung der vorgelegten (fach-)ärztlichen Atteste von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bei Abbruch der laufenden Behandlung auszugehen.
102
Gemäß dem letzten fachärztlichen Attest (Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 9.1.2020, VG-Akte Bl. 101) besteht beim Kläger eine behandlungsbedürftige Erkrankung an paranoider Schizophrenie (ICD-10 F 10.0) mit Panikstörung (ICD-10 F 41.0). Der Kläger befinde sich seit Februar 2015 in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Der Kläger […] sei auf eine kontinuierliche psychiatrische Behandlung einschließlich medikamentöser Therapie angewiesen, könne sich aufgrund des Krankheitszustandes nicht selbst versorgen und benötige eine kontinuierliche Betreuung im häuslichen Bereich. Die Medikation bestehe derzeit aus Risperidon 4 mg (0-0-1-0), Aripiprazol 15 mg (0-0-0-1), Milnaneurax 50 mg (1-1-0-0). Bereits zuvor war fachärztlich attestiert worden (Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 2.8.2018), ein möglicher Abbruch der Medikation führe mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb weniger Wochen zu einer Exazerbation der paranoiden Schizophrenie; im Vorfeld habe dies zu akustischen Halluzinationen mit imperativen Stimmen („Erhäng dich“) und einer notfallmäßigen Einweisung geführt. Der Kläger sei nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
103
bb) Unter Würdigung der Auskunftslage ist nicht davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1 die - tatsächlich verfügbare - Behandlung seiner Schizophrenie im Heimatland Aserbaidschan aus finanziellen Gründen noch so zugänglich wäre, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände nicht in einer Weise verschlimmerte, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führte.
104
Gemäß der Auskunftslage ist eine Behandlung psychischer Erkrankungen in Aserbaidschan grundsätzlich möglich (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Aserbaidschan vom 26.3.2015; ecoi.net; Deutsche Botschaft Baku, Auskunft vom 18.4.2013, Az. RK-12-516.80). In akuten Fällen erfolgt die stationäre Behandlung in Nervenkrankenhäusern, die es sowohl in Baku wie auch in den Regionen des Landes gibt. Die ambulante Behandlung von Patienten wird in der Poliklinik des jeweiligen Wohnorts der Patienten durchgeführt (Deutsche Botschaft Baku, Auskunft vom 18.4.2013).
105
Allerdings ist unter Berücksichtigung der eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019, VG-Akte Bl. 150 f.) nicht davon auszugehen, dass dem Kläger in seiner konkreten Situation eine adäquate Behandlung selbst nach aserbaidschanischen Verhältnissen dort finanziell zugänglich ist. Sein aktueller Finanzierungsbedarf an Medikamenten in Aserbaidschan ergibt sich wie folgt aus dem aktuellen fachärztlichen Attest und der aktuellen Auskunft:
106
Medikamentenpreise (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019, VG-Akte Bl. 75 f.):
Risperidon (Rispaxol) 2 mg 20 Tab. = 9,91 AZN (= ca. 5 EUR)
Olanzapin (Zylanka) 5 mg 28 Tab. = 17,10 AZN (= ca. 9 EUR)
Zolaxa 5 mg 30 Tab. = 38,00 AZN (= ca. 19 EUR)
Zarifar 10 mg 28 Tab. = 34,32 AZN (= ca. 17 EUR)
Levomeprazin ist nicht verfügbar, aber ein Präparat mit gleichem Wirkstoff unter dem Handelsnamen Tisercin erhältlich.
107
Medikamentenbedarf (Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 9.1.2020, VG-Akte Bl. 101; Preise ermittelt nach o.g. Auskunft sowie dem amtlichen Tariff (price) Council of Azerbaijan Republic als Preisliste für 9850 medizinische Produkte, www.tariffcouncil.gov.az/?/en/news/view/81/):
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Medikamenten-bedarf
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Tagesbedarf pro Monat (zu 30 Tage)
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Faktor zu Packungsgröße
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Einzelkosten in AZN
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in AZN
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Aripiprazol 15 mg (Nr. 960)
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30
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30/30
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28,38
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28,38
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Milnaneurax 50 mg
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nicht ermittelbar
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0,00
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0,00
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Risperidon 4 mg
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60
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60/20
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9,91
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29.73
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Summe
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58,11
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Bereits die verfügbaren und bepreisten Medikamente, welche dem Kläger derzeit verabreicht werden, würden in der aktuellen Dosierung 58,11 AZN kosten. Hinzu kämen die Kosten möglicherweise für Ersatzmedikamente für nicht unter diesem Namen auffindbares erhältliches Milnaneurax sowie die Kosten für ambulante Sprechstunden und Zuzahlungen selbst bei stationärer Behandlung.
110
Dabei ist dem Kläger zu 1 die notwendige Behandlung der paranoiden Schizophrenie aus finanziellen Gründen nicht zugänglich. Der Auskunft der Deutschen Botschaft vom 18. April 2013 ist zu entnehmen, dass die ärztliche Behandlung und Medikation bei schizophrenen Psychosen und damit auch bei einer paranoiden Schizophrenie kostenlos sei. In derselben Auskunft wird indes zum staatlichen Gesundheitssystem angeführt, dass direkte Zahlungen an Ärzte üblich seien und Behandlungskosten etwa im Bereich zwischen 100 und 1.000 AZN/Euro liegen würden. Nach dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 17) besteht in der Republik Aserbaidschan kein staatliches Krankenversicherungssystem; theoretisch gibt es eine alle notwendigen Behandlungen umfassende kostenlose medizinische Versorgung. Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt (was den Krankentransport und die Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus einschließt); mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann aber nach einigen Tagen „auf eigenen Wunsch“ entlassen, wenn sie die Behandlungskosten und „Zuzahlungen“ an die Ärzte und das Pflegepersonal nicht aufbringen können. In diesem Fall erfolgt dann die weitere Behandlung ambulant oder nach Kostenübernahme durch Dritte. Ein privater medizinischer Sektor floriert, erfordert aber eine Bezahlung aus eigenen Mitteln. Der hier eingeholten Auskunft (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 20.11.2019, VG-Akte Bl. 150 f.) ist ebenfalls zu entnehmen, dass eine kostenfreie Behandlung nur de jure vorhanden ist. Bei stationärer Behandlung werden die Medikamente von der Klinik zur Verfügung gestellt. De facto ist es jedoch so, dass nicht alle Medikamente in den Kliniken verfügbar sind und die vorhandenen Präparate oft veraltet sind und eine niedrige Effektivität haben. Deshalb kaufen die Patienten regelmäßig modernere Präparate auf eigene Kosten. Mithin müsste der Kläger bei ambulanter Versorgung ihre Medikamente zu den o.g. Preisen selbst erwerben bzw. erwerben lassen, wie dies vor ihrer Ausreise noch durch seine Mutter erfolgt sei (Protokoll vom 23.6.2020 S. 3), als er selbst aber noch durch Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu sichern vermochte (Protokoll vom 23.6.2020 S. 2 f.).
111
Da es nur grundsätzlich möglich ist, staatliche Hilfe in Form von Sozialhilfe oder ähnlichem zu beantragen, aber über die konkreten Erfolgsaussichten keine Aussage getroffen werden kann, ist auch auf diesem Weg keine Finanzierung für den mittlerweile nicht mehr erwerbstätigen und wohl auch nicht mehr erwerbsfähigen (vgl. Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 2.8.2018) Kläger gesichert.
112
Der Kläger ist aber zur Überzeugung des Einzelrichters auch unter Berücksichtigung etwaiger familiärer Verdienstmöglichkeiten nicht zur eigenen Finanzierung in der Lage: Er ist Teil einer fünfköpfigen Familie und krankheitsbedingt nicht erwerbsfähig (Dr.med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 2.8.2018). Daher müsste der Lebensunterhalt für die Familie durch die übrigen Familienmitglieder anderweitig aufgebracht werden.
113
Dabei wären auch die dem Kläger zu 1 voraussichtlich zustehenden Sozialleistungen nicht ausreichend. Nach dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Lagebericht Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 17) liege das offizielle Existenzminimum nach offiziellen Berechnungen derzeit bei 173 AZN (ca. 90 EUR) pro Kopf und Monat. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sei gewährleistet. Einkommensschwache Familien erhielten Sozialleistungen; im Jahr 2017 insgesamt 326.631 Personen Leistungen von durchschnittlich 36,39 AZN (ca. 18 EUR) pro Person pro Monat. Dieser Betrag würde im Fall des Klägers nicht einmal die Medikamentenkosten von ca. 58,11 AZN, geschweige denn zusätzlich seinen Lebensunterhalt decken. Dass die Klägerin zu 2 und die Klägerin zu 3 durch ihre Erwerbstätigkeit in Aserbaidschan aber die fünfköpfige Familie einschließlich des für den Kläger zu 1 krankheitsbedingt anfallenden Sonderbedarfs unterhalten könnten, mithin also seinen Lebensunterhalt so sichern könnten, dass ihm auch die erforderliche Behandlung seiner Schizophrenie in Aserbaidschan auch finanziell so zugänglich wäre, dass sich die vorhandene Erkrankung nicht in einer § 60 Abs. 7 AufenthG widersprechenden Weise verschlimmerte, ist daher nicht ersichtlich.
114
Daher ist im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch die Beklagte zu Gunsten des Klägers zu 1 festzustellen.
115
d) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Klägerin zu 2 (und der übrigen Kläger zu 3 bis 5) nicht vor.
116
aa) Die o.g. Maßstäbe vorausgesetzt, ist bei der Klägerin zu 2 nach derzeitigem Verfahrensstand unter Berücksichtigung der vorgelegten (fach-)ärztlichen Atteste nicht von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung bei Abbruch der laufenden Behandlung auszugehen.
117
Gemäß dem letzten fachärztlichen Attest (Dr., *zentrum, Attest vom 20.2.2019, VG-Akte Bl. 148 f.) leidet die Klägerin zu 2 zwar unter einem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom (G 47.31 G) und Adipositas II (E 66.01 G), benutze das Gerät mit Maske einer APAP-Therapie aber nicht und sehe auch keinen Sinn darin, warum sie die Therapie durchführen solle, reiße sich die Maske in der Nacht weg und lehne auch eine Gewichtsreduktion sowie eine andere Schlafhaltung ab. Dass hierin erstens eine lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert wäre, die zweitens laufender Behandlung bedürfe und bei deren Abbruch in Folge einer Abschiebung drittens von einer erheblichen Gesundheitsgefährdung auszugehen wäre, ist nicht glaubhaft gemacht oder sonst ersichtlich.
118
Die Klägerin zu 2 lehnt die in Deutschland angebotene Therapie, insbesondere eine eigene Mitwirkung durch Benutzung der APAP-Maske und eine Disziplin erfordernde Gewichtsabnahme mit günstigen Auswirkungen auch u.a. auf die arterielle Hypertonie (I 110.99 G), rezidivierende Abdominalbeschwerden und ihre Wirbelsäulenprobleme sowie ihre Adipositas I (E 66.9 G) - ungeachtet der Frage, ob dies konkret lebensbedrohliche oder vergleichbar schwere Erkrankungen sind - derzeit ab (zu den Diagnosen vgl., Facharzt für Allgemeinmedizin, Attest vom 9.1.2020, VG-Akte Bl. 104; auch Protokoll vom 23.6.2020 S. 7), da ihr das Beatmungsgerät Beschwerden verursache; ein erhebliches Übergewicht der Klägerin als weiterer Belastungsfaktor ist auch nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung weiter vorhanden, so dass nicht von einer Verschlechterung der im Bundesgebiet nicht effektiv therapierten und ohne ihre Mitwirkung auch nicht effektiv therapierbaren Erkrankungen auszugehen ist. Auf einen Abbruch dieser Behandlung durch eine Abschiebung kommt es daher rechtlich nicht an.
119
4. Die Gewährung von Abschiebungsschutz für den Kläger zu 1 hat zur Folge, dass der streitgegenständliche Bescheid im tenorierten Umfang aufzuheben und von der Beklagten ein Abschiebungsverbot auszusprechen ist. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher nur für den Kläger zu 1 ebenfalls aufzuheben. Im Übrigen sind die Klagen abzuweisen.
120
5. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 155 Abs. 1 VwGO und bestimmt sich, da die Klagen der Kläger unterschiedlichen Erfolg haben, nach der sog. Baumbach‘schen Formel (Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl., § 155 VwGO Rn. 2; Hartung in BeckOK, VwGO, 46. Edition, § 159 Rn. 6). Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.