Inhalt

VGH München, Beschluss v. 18.09.2020 – 20 NE 20.2035
Titel:

Teilnehmerobergrenze in geschlossenen Räumen für Kulturveranstaltungen wegen "Corona"

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
BayIfSMV § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 2
IfSG § 28
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 12 Abs. 1
Leitsätze:
1. Es handelt sich bei der Corona-Pandemie um ein seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erstmalig auftretendes Ereignis, das derzeit mit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen gehandhabt wird, die auf eine Pandemie dieser Größenordnung nicht zugeschnitten sind. (Rn. 24) (red. LS Alexander Tauchert)
2. Weiterhin bleibt der Klärung in einem Hauptsacheverfahren vorbehalten, ob - und wenn ja, in welchem Umfang - dem Verordnungsgeber ein Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung zusteht, in welchen Schritten und nach welchen Kriterien er die aus Gründen der Unterbrechung von Infektionsketten geschlossenen Wirtschaftsbereiche wieder öffnet und inwieweit ein solcher gegebenenfalls gerichtlich überprüfbar ist. (Rn. 24) (red. LS Alexander Tauchert)
3. Aus der langen Geltungsdauer der Verbote und Beschränkungen von Kulturveranstaltungen und den damit verbundenen, sich in ihrer Intensität vertiefenden Eingriffen in das Grundrecht der Berufsfreiheit könnte das Erfordernis einer weitergehenden Differenzierung erwachsen. Insoweit ist der Senat jedoch nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, welche Kriterien zu beachten sind, um ein infektiologisch unbedenklichen oder zumindest hinnehmbaren Betrieb mit einer entsprechend erhöhten Zuschauerzahl zu gewährleisten. Hierfür ist er im Rahmen seiner Kompetenz nach § 47 Abs. 6 VwGO, die lediglich die Außervollzugsetzung untergesetzlicher Normen umfasst, nicht berufen. (Rn. 25) (red. LS Alexander Tauchert)
Schlagworte:
Antrag auf einstweilige Außervollzugssetzung, Kulturveranstaltungen, Teilnehmerobergrenze in geschlossenen Räumen, Folgenabwägung, Teilnehmerobergrenze, Außervollzugssetzung, unter freiem Himmel, Veranstaltung, Normenkontrollantrag, geschlossener Raum, Corona, Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2020, 24347

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
1. Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO begehrt die Antragstellerin, den Vollzug von § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der Sechsten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 19. Juni 2020 (6. BayIfSMV - BayMBl. 2020 Nr. 348) einstweilen auszusetzen, soweit diese Vorschriften Kulturveranstaltungen mit mehr als 200 Besuchern in geschlossenen Räumen entgegenstehen.
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2. Der Antragsgegner hat am 19. Juni 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die zuletzt durch Verordnung vom 8. September 2020 (BayMBl. Nr. 507) geändert worden ist und auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
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„§ 21 Kulturstätten
(1) …
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(2) Kulturelle Veranstaltungen in Theatern, Konzerthäusern, auf sonstigen Bühnen und im Freien sowie die dafür notwendigen Proben und anderen Vorbereitungsarbeiten sind nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig:
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1. Der Veranstalter hat durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass grundsätzlich zwischen allen Teilnehmern, also Besuchern und Mitwirkenden, die nicht zu dem in § 2 Abs. 1 bezeichneten Personenkreis gehören, ein Mindestabstand von 1,5 m eingehalten werden kann; bei Einsatz von Blasinstrumenten und bei Gesang ist ein Mindestabstand von 2 m einzuhalten.
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2. Unter Beachtung der Anforderungen nach Nr. 1 sind in geschlossenen Räumen höchstens 100 und unter freiem Himmel höchstens 200 Besucher zugelassen; bei Veranstaltungen mit zugewiesenen und gekennzeichneten Sitzplätzen beträgt die Anzahl der möglichen Besucher in geschlossenen Räumen höchstens 200 und unter freiem Himmel höchstens 400.
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3. Für die Besucher gilt in geschlossenen Räumen Maskenpflicht, solange sie sich nicht an ihrem Platz befinden.
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4. Für die Mitwirkenden gilt in geschlossenen Räumen, in denen sich auch Besucher aufhalten oder der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, Maskenpflicht; dies gilt nicht, soweit dies zu einer Beeinträchtigung der künstlerischen Darbietung führt oder wenn der Mitwirkende einen festen Platz eingenommen hat und den Mindestabstand einhält.
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5. Der Veranstalter hat ein Schutz- und Hygienekonzept auszuarbeiten und auf Verlangen der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde vorzulegen; soweit ein von den Staatsministerien für Wissenschaft und Kunst und für Gesundheit und Pflege bekannt gemachtes Rahmenkonzept besteht, ist dieses zugrunde zu legen.
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6. Für gastronomische Angebote gilt § 13; die Teilnehmergrenzen nach Nr. 2 gelten auch insoweit.
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Für Veranstaltungen unter freiem Himmel gilt § 5 Abs. 1 Satz 2 entsprechend.“
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Gem. § 24 der 6. BayIfSMV tritt die Verordnung mit Ablauf des 18. September 2020 außer Kraft.
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3. Die Antragstellerin ist unter anderem in Bayern als Veranstalterin von Musikkonzerten, insbesondere im Bereich der klassischen Musik, tätig. Für das Jahr 2020 waren von ihr ursprünglich ca. 560 Veranstaltungen geplant, bedingt durch die Corona-Pandemie habe sie bislang über 200 Veranstaltungen absagen müssen. Mit Schreiben vom 26. August 2020 beantragte die Antragstellerin bei der örtlichen Infektionsschutzbehörde die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für ausgewählte Konzerte in der Vorweihnachtszeit (Orchester, Einzelkünstlerin und Chor). Die Veranstaltungen sollten dabei jeweils in der Münchner Philharmonie (Gasteig) stattfinden. Die örtliche Infektionsschutzbehörde war zwar der Meinung, dass einzelne Veranstaltungen nach dem Konzept der Antragstellerin infektionsschutzrechtlich vertretbar seien, sah sich aber aufgrund der bestehenden Rechtslage nicht imstande, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen.
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Zur Begründung ihres Antrages trägt die Antragstellerin im Wesentlichen vor, Kulturveranstalter in Bayern unterlägen derzeit den stärksten Einschränkungen im Bundesgebiet. Nachdem in anderen Bundesländern z.B. Konzerte in geschlossenen Räumen mit bis zu 1000 Besuchern stattfinden dürften, sei die derzeitige bayerische Regelung willkürlich. Weder infektionslogisch noch epidemiologisch sei eine derart restriktive Regelung erforderlich und notwendig. Es seien auch keine sonstigen Gründe ersichtlich, die eine derart restriktive und starre Regelung rechtfertigen würden. Dies zeigten auch die für den Personentransport, beispielsweise für Flugzeug und Bahn, geltenden Regelungen, die derlei zahlenmäßigen Beschränkungen nicht beinhalteten, obgleich hier Menschen für teilweise noch längere Zeiträume nicht getrennt säßen. Auch mit Blick auf große Hallen sei nicht nachvollziehbar, warum bei möglichen Konzertveranstaltungen höchstens 200 Besucher zugelassen seien. Die bayerische Regelung sei insofern auch unverhältnismäßig, als hier mögliche Differenzierungen, von denen andere Bundesländer ersichtlich Gebrauch gemacht hätten (Registrierung, Alkoholverbot, Berücksichtigung der Fläche, besonderes Genehmigungsverfahren) für die Frage einer Genehmigungsfähigkeit nicht berücksichtigt würden. Hinzu komme, dass sich der Freistaat Bayern selbst eine Ausnahmegenehmigung für die Vorstellungen der Bayerischen Staatsoper als Pilotversuch erteilt habe und zu den Vorstellungen bis zu 500 Besucher auf gekennzeichneten Plätzen zugelassen habe, um Erfahrungen mit kulturellen Veranstaltungen mit einer höheren Besucherzahl als den derzeit 200 zugelassenen Personen bei Kulturveranstaltungen in Innenbereichen sowie mit den hierfür erforderlichen Schutz- und Hygienemaßnahmen zu sammeln. Durch diesen Pilotversuch würden andere Veranstalter, die im Wettbewerb mit dem Freistaat Bayern stünden - so wie die Antragstellerin - ungerechtfertigt benachteiligt. Hinzu komme, dass für Veranstaltungen unter freien Himmel eine Ausnahmemöglichkeit bestehe. Im Bereich der klassischen Musik sei dies in der kommenden kalten Jahreszeit jedoch nicht mehr möglich. Vorliegend bestehe auch kein tatsächlicher Einschätzungsspielraum des Verordnungsgebers, da die Entscheidungsgrundlagen einer etwaigen Ausnahme bei Veranstaltungen unter freiem Himmel und in geschlossenen Räumen identisch seien. Ziel des Antrages sei, dass ein Veranstalter wie die Antragstellerin auch für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen Ausnahmegenehmigungsanträge bei den Kreisverwaltungsbehörden stellen dürfe. Die Antragstellerin sei in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit verletzt.
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4. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen. Es bestünden schon Zweifel an der Antragsbefugnis und dem Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, weil sie vorrangig geltend mache, Konzerte in der Vorweihnachtszeit durchführen zu wollen. Die Festlegung einer Höchstzahl von Besuchern für kulturelle Veranstaltungen verstoße nicht gegen die Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG, und auch nicht - in Anbetracht der Regelungen in anderen Bundesländern, für die Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln oder der Differenzierung zwischen kulturellen Veranstaltungen im Freien und in geschlossenen Räumen - gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Ein Anspruch auf Gleichbehandlung bestehe grundsätzlich nur gegenüber dem gleichen Rechtsträger. Aus großzügigeren Regelungen in anderen Bundesländern könne die Antragstellerin somit keinen Anspruch auf Gleichbehandlung herleiten. Die Regelungen zur Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln in Zeiten der Corona-Krise beträfen einen gänzlich anderen Lebenssachverhalt, der nicht vergleichbar sei. Gleiches gelte für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen und im Freien. Die Zulassung von bis zu 500 Besuchern bei Vorstellungen der Bayerischen Staatsoper im Nationaltheater München im September 2020 erfolge im Rahmen eines Pilotversuchs außerhalb des Anwendungsbereichs der 6. BayIfSMV. Insoweit handele es sich bei dem in seinem Rahmen gestarteten Betrieb nicht um einen Regel-, sondern um einen Sonderbetrieb unter individuell festgelegten Rahmenbedingungen. Dies werde auch anhand der konkreten Ausgestaltung des Pilotversuchs deutlich. So werde der Pilotversuch unter anderem durch das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beobachtet und begleitet. Zudem könne der Pilotversuch nach Entscheidung des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege jederzeit beendet werden. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin an einer Planung von Konzerten unter diesen Bedingungen interessiert sei. Nachdem es sich bei dem Pilotversuch um einen von der 6. BayIfSMV nicht erfassten Sonderfall handele, könne hieraus auch kein Anspruch auf Gleichbehandlung abgeleitet werden. Anhand der Ergebnisse des Pilotversuchs werde geprüft werden, ob auch für Veranstaltungen im Innenbereich eine allgemeine Ausnahmemöglichkeit in die Verordnung aufgenommen werden könne. Gleiches gelte auch für die Erweiterung des Pilotversuchs in Abstimmung mit der Landeshauptstadt München hinsichtlich der Philharmonie des Gasteigs. Bei der Beschränkung der Besucherzahlen der Kulturveranstaltungen in geschlossenen Räumen sei angesichts steigender Fallzahlen bei Infektionen mit dem Coronavirus dem Verordnungsgeber ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen. Die Maßnahme sei im Hinblick eines typisierenden und generalisierenden Vorgehens in einer pandemischen Situation auch verhältnismäßig.
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Mit Schriftsatz vom 13. September ließ die Antragstellerin noch einmal Stellung nehmen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
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Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Die Antragstellerin ist antragsbefugt (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), weil sie durch die Beschränkung der Zuschauerzahlen bei Kulturveranstaltungen in geschlossenen Räumen in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG beeinträchtigt sein könnte. Auch am Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin bestehen keine Zweifel. Zwar mag sie sich in ihrem Antrag insbesondere mit der Möglichkeit der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen für Weihnachtskonzerte auseinandergesetzt haben. Es ist jedoch offensichtlich, dass auch der gegenwärtige Betrieb der Antragstellerin durch die von ihr beanstandete Regelung beschränkt ist.
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2. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen aber nicht vor.
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a) Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffene Norm in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthält oder begründet, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.
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Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine begehrte einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag später aber Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe (vgl. BVerwG, B.v. 25.5.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12).
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b) Nach diesen Maßstäben geht der Senat im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens für den Normenkontrollantrag von offenen Erfolgsaussichten aus (aa). Aufgrund der vorzunehmenden Folgenabwägung erscheint eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht dringend geboten (bb).
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aa) Bei summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten sieht sich der Senat mit einer Vielzahl komplexer fachlicher und rechtlicher Fragen konfrontiert, die einer abschließenden Klärung in einem Eilverfahren nicht zugänglich sind. Es handelt sich bei der Corona-Pandemie um ein seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erstmalig auftretendes Ereignis, das derzeit mit bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen gehandhabt wird, die auf eine Pandemie dieser Größenordnung nicht zugeschnitten sind. Es wird deshalb in einem Hauptsacheverfahren zu klären sein, ob die aufgrund der 6. BayIfSMV getroffenen Maßnahmen letztlich mit den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts vereinbar sind, da erhebliche Grundrechtseingriffe über einen längeren Zeitraum allein aufgrund §§ 28, 32 IfSG durch die Exekutive erfolgen (vgl. hierzu schon BayVGH, B.v. 14.4.2020 - 20 NE 20.763 - juris; BayVGH, B.v. 14.4.2020 - 20 NE 20.735 - juris; vgl. auch BayVGH, B.v. 7.9.2020 - 20 NE 20.1981 - BeckRS 2020, 21962 unter Verweis auf BayVGH, B.v. 27.4.2020 - 20 NE 20.793 - juris, Leitsatz 3). Weiterhin bleibt der Klärung in einem Hauptsacheverfahren vorbehalten, ob - und wenn ja, in welchem Umfang - dem Verordnungsgeber ein Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung zusteht, in welchen Schritten und nach welchen Kriterien er die aus Gründen der Unterbrechung von Infektionsketten geschlossenen Wirtschaftsbereiche wieder öffnet und inwieweit ein solcher gegebenenfalls gerichtlich überprüfbar ist. Ungeklärt ist bislang insbesondere, ob der Begriff der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ein Ermessen des Verordnungsgebers eröffnen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 3 C 16/11 - BVerwG 142, 205), das auch andere als rein infektionsschutzrechtliche Kriterien bei der Lockerung der Maßnahmen umfasst und seine Grenze in der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen findet (vgl. Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesseuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468 S. 27 < zur Vorgängerregelung in § 34 BSeuchG >). Die vorgenannten Fragen sind für die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens streitentscheidend, weil sich bei summarischer Prüfung Anhaltspunkte für Grundrechtsverletzungen der Antragstellerin jedenfalls in ihren Rechten aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG ergeben können (BayVGH, B.v. 14.7.2020 - 20 NE 20.1572 - BeckRS 2020, 16911).
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Aus der langen Geltungsdauer der Verbote und Beschränkungen von Kulturveranstaltungen und den damit verbundenen, sich in ihrer Intensität vertiefenden Eingriffen in das Grundrecht der Berufsfreiheit könnte das Erfordernis einer weitergehenden Differenzierung erwachsen. Insoweit ist der Senat jedoch nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, welche Kriterien zu beachten sind, um ein infektiologisch unbedenklichen oder zumindest hinnehmbaren Betrieb mit einer entsprechend erhöhten Zuschauerzahl zu gewährleisten. Hierfür ist er im Rahmen seiner Kompetenz nach § 47 Abs. 6 VwGO, die lediglich die Außervollzugsetzung untergesetzlicher Normen umfasst, nicht berufen. Es liegt in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht offensichtlich auf der Hand, dass diese Voraussetzung bei einer bestimmten Besucherzahl oder für bestimmte Spielstätten generell erfüllt sind und damit die Unverhältnismäßigkeit der Zuschauerbegrenzung ohne Ausnahmemöglichkeit offenkundig wäre, welches zur Außervollzugsetzung der generellen Zuschauerbegrenzung führen würde.
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Der Umstand, dass der Antragsgegner unter eigener Verantwortung an der Bayerischen Staatsoper im Nationaltheater München und in der Philharmonie im Gasteig einen Pilotbetrieb mit bis zu 500 Zuschauern durchführt bzw. gestattet, ändert an dieser Beurteilung nichts. Zwar vermag der Senat nicht zu erkennen, dass § 21 Abs. 1 Nr. 2 6. BayIfSMV bei der Durchführung von Kulturveranstaltungen zwischen einem Regelbetrieb und einem Sonderbetrieb unterscheidet, sodass alle Kulturveranstaltungen in geschlossenen Räumen der entsprechenden Zuschauerbegrenzung unterliegen. Aus der faktischen Durchführung ohne Ausnahmegenehmigung kann die Antragstellerin jedoch keine rechtlichen Vorteile für sich herleiten.
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bb) Unter Bezugnahme auf die dargestellte Rechtsprechung ergibt eine Folgenabwägung zwischen dem betroffenen Schutzgut der freien wirtschaftlichen Betätigung aus Art. 12 Abs. 1 GG mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG insbesondere im Hinblick auf die kurze Geltungsdauer der 6. BayIfSMV bis zum 18. September 2020 (§ 24 6. BayIfSMV), dass die von der Antragstellerin dargelegten wirtschaftlichen Einbußen hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen.
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Das pandemische Geschehen dauert weiter an. Nach dem aktuellen Situationsbericht des RKI vom 13. September 2020 handelt es sich weltweit und in Deutschland weiterhin um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Die Anzahl der neu übermittelten Fälle war in Deutschland von etwa Mitte März bis Anfang Juli rückläufig, danach nahmen die Fallzahlen über einige Wochen zu und haben sich in der letzten Woche stabilisiert. Es kommt weiterhin bundesweit zu größeren und kleineren Ausbruchsgeschehen. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig. Das Robert-Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit weiterhin insgesamt als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern (https://www.rki.de/DE/Content /InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Sept_2020/2020-09-13-de.pdf? blob=publicationFile).
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In dieser Situation ergibt eine Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm - insbesondere die mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten durch eine vollständige Öffnung der Kulturveranstaltungen in geschlossenen Räumen - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs, zumal jedenfalls Kulturveranstaltungen mit begrenzter Zuschauerzahl zulässig sind.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von der Antragstellerin angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 18. September 2020 außer Kraft tritt (§ 24 6. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).